Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull

Der fünfte Schatten - Jürgen Petschull


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Grüße ausrichten sollen. Und dass Opa weiß, wo noch viel mehr solcher Stöckchen liegen.«

      Wir hatten uns zu Lena heruntergebeugt. Jetzt hörten wir hinter uns Schritte.

      »Das ist aber eine lustige Geschichte, die du dir da ausgedacht hast, Lena«, sagte Malte von Mellin und machte gar kein lustiges Gesicht, als er in die Knie ging, seine Enkeltochter zu sich heranzog und ihr über das blonde Haar strich.

      »Neeeeiiin! Das hab ich mir nicht ausgedacht! Das hat der Mann im Wald wirklich gesagt, Opa!«

      Die Kleine stampfte wütend mit dem Fuß auf. Die anderen Kinder bestätigten Lenas Geschichte.

      »Merkwürdige Sache«, sagte Malte von Mellin leise.

      Offenbar beschäftigte ihn der Vorfall sehr.

      Ich verabschiedete mich, ich müsse zu meiner Trainerstunde. Ich sei auf der Driving Range mit Golflehrerin Jessica Liedtke verabredet.

      Irma sagte, sie würde noch bis morgen in Herrensee bleiben.

      »Ich werde im Ponyhof übernachten. Wie früher. Erinnerst du dich?«

      Was für eine Frage! Der Ponyhof – daran hatte ich unvergessliche Erinnerungen. Ein idyllisches Häuschen, etwas abseits zwischen Schlossgebäude, Wald und Golfplatz gelegen. Früher wurden dort tatsächlich Ponys gehalten. Irmas Mutter, Malte von Mellins zweite Frau Renate, hatte das kleine Stallgebäude zum einundzwanzigsten Geburtstag ihrer Tochter zu einem geschmackvollen Landhäuschen umbauen lassen. Mit weiß verputztem Mauerwerk, Sprossenfenstern, Klappläden und strohgedecktem Dach. Innen gab es nur einen einzigen großen Raum, eine große Sitzecke mit Kamin, eine offene Pantryküche, alte Steinfliesen und Fußbodenheizung. Nur das Bad mit einer kleinen Sauna war abgetrennt. Eine Treppe aus altem Holz führte nach oben in das halboffene Dachgeschoss. Unter der Dachschräge waren Schränke und ein breites Bett eingebaut. Irma benutzte das Ponyhaus als Wochenend- und Ferienhaus. Und als Liebesnest. Wir hatten dort wunderbare Stunden, Tage und Nächte verbracht. Den rauchigen Geruch des knackenden Buchenholzfeuers im Kamin hatte ich noch immer in der Nase.

      Ich werde im Ponyhaus übernachten! Was wollte sie mir damit sagen? War das eine diskrete Einladung? Oder bildete ich mir das nur ein?

      Meine Hoffnung auf eine gemeinsame Nacht verstärkte sich Stunden später, als Irma gegen Abend scheinbar beiläufig bei einem Drink auf der Clubterrasse erwähnte, ihr Töchterchen werde übrigens mit dem tschechischen Kindermädchen nach Hamburg zurückfahren. Denn Lena müsse morgen wieder in den Kindergarten. Später brachte sie die beiden tatsächlich zum Parkplatz.

      Als wir alleine waren, hakte Irma sich – außer Sichtweite der übrigen Clubmitglieder und Gäste – bei mir ein und zog mich auf den von Rosenbüschen gesäumten Weg, der sich in sanften Schwüngen vom Schloss zum Herrensee hinunterwindet. Die vertraute Geste, ihr Parfüm, das nach Vanille duftete, die weiche Stimme, mit der sie sagte: »Ich freue mich, dass du da bist«, und die kleinen Blitze, die dabei in ihren Bernsteinaugen aufleuchteten – all das erinnerte mich an unser erstes Kennenlernen. Die erloschene Intimität zwischen uns flackerte plötzlich wieder auf. Gleichzeitig beobachtete ich uns aus sicherem Abstand, so, als würden wir in einer Filmszene mitwirken. »Action ...!«, hatte jemand gerufen, und nun liefen wir wie vor einer fahrbaren Kamera her auf den Abendhimmel zu. Im Bildhintergrund, auf der gegenüberliegenden Seite des an dieser Stelle schmalen Sees, zogen ein paar späte Golfspieler ihre Trolleys und Bags im letzten Büchsenlicht über die Fairways in Richtung Clubhaus.

      Unter unseren Sohlen knirschte hellgrauer Kies. Wir setzten uns auf eine Bank am Schilfufer des Sees. Wie früher. Und wie damals schwiegen wir und blickten in den Himmel, dessen Farben sich immer dramatischer zu einem blutigen Rot mischten.

      »Früher hättest du mich geküsst und dir dann eine Zigarette angesteckt. Rauchst du nicht mehr?«, sagte Irma nach einer Weile.

      »Nein. Vor zwei Jahren habe ich aufgehört«, sagte ich und umfasste ihre Schulter. »Und ich habe auch schon länger nicht mehr geküsst. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.« Irma drehte ihren Kopf lachend zur Seite, als ich einen unbeholfenen Annäherungsversuch machte.

      »Und was hat sich sonst noch bei dir geändert? Du hast neulich am Telefon versprochen, mir von dir zu erzählen.«

      »Eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich habe meinen Job beim Magazin Zenit verloren und meine Scheidung zieht sich schon fast ein Jahr lang hin.«

      Auch als sie nachfragte, machte ich zu diesen Themen nur ein paar Andeutungen und erzählte lieber von meiner überraschenden Immobilien-Erbschaft.

      »Dann hast du ja keine finanziellen Sorgen, dann kannst du endlich deinen großen Roman schreiben, auf den die Welt schon seit Jahren wartet.«

      »Mir fehlt ein Thema, das mich wirklich bewegt und umtreibt. Und wahrscheinlich auch das Durchhaltevermögen zum Schreiben eines Buches.«

      »Versuch’s doch erst mal mit einem kleinen Krimi, das liegt dir vielleicht mehr. Falls du einen Anfang suchst, wie wäre es denn damit: Ein paar Kinder und ein Hund finden im Wald einen Menschenknochen ...«

      »Falsch«, sagte ich. »Ein Unbekannter gibt ein paar Kindern und ihrem Hund einen Menschenknochen und sagt, sie sollen dieses makabere Teil bei einem bekannten Konzernchef und Großverleger abliefern ...«

      »Ziemlich gruselig, nicht wahr?«, sagte Irma.

      Wir hörten Schritte. Auf dem Kiesweg kam der Schattenriss eines Mannes auf uns zu. Irma nahm meine Hand. Es war ihr Vater.

      »Man hat mir gesagt, dass ihr hier unten seid«, sagte Malte von Mellin. »Habt ihr noch einen Platz frei?«

      Wir mussten auf der Holzbank enger zusammenrücken. Er setzte sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit neben uns.

      »Schön hier«, sagte er. »Das ist im Sommer einer meiner Lieblingsplätze.«

      Ich konnte die beiden von der Seite betrachten. Die hohe Stirn, die schwungvollen Augenbrauen, die schmale Nase, das ausgeprägte Kinn – die Profile von Vater und Tochter waren beinahe deckungsgleich. Sein Mund war schmaler und härter als der seiner Tochter.

      »Das Schloss da oben, der kleine See vor uns, der Golfplatz am anderen Ufer – so hatte ich das schon vor Augen, bevor ich damals den Kaufvertrag für das völlig heruntergekommene Anwesen unterschrieben habe«, sagte er und verfiel dann in längeres Schweigen.

      »Sie haben wirklich Glück gehabt im Leben«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen, und fand die Bemerkung gleich ziemlich unpassend.

      »Wissen Sie, Herr ...«

      »Anders«, sagte seine Tochter. »Neulich, als wir die Gästeliste für das Geburtstags- und Golfwochenende gemacht haben, hast du noch gesagt, dass du dich noch an Jonas Anders erinnern kannst. Du wirst doch vergesslich, Papa!«

      »Mit meinem Namensgedächtnis hapert es allerdings schon immer.« Er holte ein Zigarillo aus einem Etui, zündete es sorgfältig an und blies die ersten Qualmwolken genüsslich in die Abendluft. Es roch gut und teuer.

      »Übrigens habe ich lange nicht mehr einen Ihrer geschätzten Beiträge im Zenit gelesen, Herr Anders«, sagte er dann und fügte süffisant hinzu: »Ich habe schon richtige Entzugserscheinungen. Arbeiten Sie an einer großen Serie? Oder waren Sie wieder mal auf einer kostspieligen Recherchereise irgendwo in der Welt unterwegs? Oder leiden Sie gerade an einer Schreibblockade, wie so manche der hochbezahlten Edelfedern in unserem Verlag?«

      »Papa ...!«, sagte Irma.

      »Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich schon seit einigen Jahren nicht mehr Mitarbeiter Ihres Hauses bin«, sagte ich, »aber Sie haben natürlich Wichtigeres, um das Sie sich kümmern müssen.«

      »Jonas ...!«

      »Jetzt, wo Sie es sagen ... Ich habe doch davon gehört. Sie hatten wohl Ärger mit Ihrem Chefredakteur. Mussten wir Ihnen eigentlich eine Abfindung zahlen?«

      Ich wollte eine bissige Antwort geben, schwieg dann aber doch lieber.

      »Was


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