Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
zu.
»Interessant«, sagte er uninteressiert.
Wir blickten alle drei über den schmalen See zum Golfplatz hinüber. Im Zwielicht der Dämmerung rollte noch ein Elektrokarren aus der Richtung des inzwischen beleuchteten Clubhauses beinahe geräuschlos über das frisch gemähte Fairway der zweiten Bahn. Eine junge Frau in heller Golfkleidung steuerte den kleinen Wagen. Ich erkannte Jessica Liedtke, die ausgesprochen hübsche Golflehrerin, bei der die männlichen Clubmitglieder gerne Trainingsstunden nahmen. Ich auch. Sie war nicht nur ansehnlich, sondern hatte wirklich Ahnung vom Golf und war eine geduldige und einfühlsame Lehrerin. Neben ihr saß ein etwas älterer Mann. Auch er kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht woher.
»Wollen die jetzt noch spielen? Die können bei diesem Licht doch kaum noch einen Ball sehen«, sagte Irma.
»Vielleicht suchen sie noch nach einem verlorenen Schläger.«
»Oder sie wollen doch noch spielen – aber kein Golf.« Irma lachte.
Als der Karren außer Sicht war, drehte sich der alte Mellin zu mir um.
»Vorhin haben Sie gesagt, ich hätte in meinem Leben Glück gehabt. – Das ist wohl so gewesen, wenn die Definition richtig ist, die ich vor kurzem gelesen habe: Danach bedeutet Glück haben: zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und eine Gelegenheit zu nutzen!«
Diese Art von Glück habe er wohl tatsächlich in seinem Leben gehabt – zumindest in seinem beruflichen Leben als Unternehmer und Verleger. Privat eher nicht, fügte er hinzu.
Malte von Mellin wandte sich an seine Tochter.
»Auf dich kommt jetzt so eine Gelegenheit zu, bei der du das Glück ergreifen kannst, Irma – früher, als wir gedacht haben.«
Es sei zwar eigentlich nicht der richtige Ort und die richtige Stimmung, um ihr das jetzt zu sagen, aber er müsse nach einer Übernachtung im Schloss morgen früh gleich nach Hamburg zurück, und wahrscheinlich würden sie sich vorher nicht mehr sehen ... Und nach einer kleinen Kunstpause sah er zu mir herüber und sprach dann, an seine Tochter gewandt, leise weiter.
»Ich möchte, dass du die Fusionsverhandlungen mit Atlantic Publishers in den USA übernimmst. Nach unserer Reise bin ich überzeugt, dass du das besser kannst als dein Bruder.« Dann sagte er noch, als habe er etwas vergessen: »Den Vorstand habe ich bereits unterrichtet. Noch streng vertraulich natürlich.«
Er stand auf und schüttelte seiner Tochter länger die Hand, als wolle er eine mündliche Vereinbarung besiegeln. In meine Richtung machte er eine vage, freundliche Geste. Dann ging der Verleger mit knirschenden Schritten über den Kiesweg zurück, so, wie er gekommen war. Offenbar hatte es ihn nicht gestört, dass ich mithören konnte.
Irma war eine Weile sprachlos.
»Mist«, sagte sie dann, »damit habe ich nicht gerechnet, jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Du wolltest den Job doch machen«, sagte ich. »Jedenfalls hatte ich bei unserem Telefongespräch neulich diesen Eindruck.«
»Ja, schon. Es ist eine Herausforderung und eine Chance. Und dass ich ehrgeizig bin, ist ja kein Geheimnis. Vor allem will ich es auch meinem Bruder zeigen, der mich immer noch so von oben herab als kleine Schwester behandelt. Aber trotzdem finde ich es schade, dass mein Vater uns ausgerechnet jetzt die Stimmung verdorben hat. Wahrscheinlich mit Absicht, wie ich ihn kenne.«
»Macht nichts«, sagte ich lahm. »Geschäft ist Geschäft.«
Wir standen auf und wollten den Spuren ihres Vaters auf dem Kiesweg folgen, als der Elektro-Golfkarren mit hoher Geschwindigkeit aus Richtung Wald zurückkam und wild schlingernd den Hügel herunterraste. Auf dem abschüssigen und welligen Teil des Fairways drohte er umzukippen. Wir erkannten Jessica Liedtke. Sie saß allein am Lenkrad. Sie hatte uns auch gesehen. Sie winkte heftig, bremste auf der anderen Seite des Sees an einem langen Holzsteg, der das Wasser überquert, und rief etwas zu uns herüber.
Irgendetwas war offenbar nicht in Ordnung. Wir liefen ihr entgegen.
»Was ist denn los, Jessica? Ist etwas passiert?«, fragte Irma.
»Wir sind überfallen worden!«
10
Die junge Golflehrerin zitterte am ganzen Körper. Sie schluchzte und putzte sich die Nase. Irma versuchte sie zu beruhigen. Schließlich erzählte Jessica Liedtke, was geschehen war: Ein Mann habe sie und ihren Partner überfallen. In der Nähe des alten Hochsitzes. Er habe wie ein Wilderer ausgesehen. Sie hätten ihn offenbar unbeabsichtigt überrascht, als er gerade seine Beute in einem großen Plastiksack wegschleppen wollte. Als ihr Begleiter den Mann verfolgte und zur Rede stellen wollte, habe der angehalten und dann sofort zugeschlagen. Ein brutaler Handkantenschlag habe ihren Begleiter am Hals getroffen. Wie tot sei er zu Boden gestürzt. Sie habe es noch zum Golfkarren geschafft und sei in panischer Angst davongerast, um Hilfe zu holen.
»Kommt, wir müssen Ansgar helfen. Vielleicht stirbt er. Oder er ist schon tot!« Sie weinte wieder.
»Wir rufen die Polizei!«, sagte Irma.
»Nein, bloß keine Polizei!«, sagte Jessica Liedtke sehr bestimmt. »Kommt jetzt. Wir müssen zu dem alten Hochsitz in der Nähe vom Walnussbaum. Da ist es passiert. Ich erklär euch alles nachher!«
Es war leichtsinnig, aber ich zwängte mich, ohne lange nachzudenken, mit den beiden Frauen in den Golfkarren und steuerte den kleinen Wagen durch die Dämmerung. Nach wenigen Minuten fanden wir im Halbdunkel den durch Bäume und Äste guten getarnten alten Hochsitz.
»Vorsicht. Bleibt zurück«, sagte ich, »vielleicht ist der Kerl noch hier.« Ich nahm ein kurzes Eisen 9 wie einen Schlagstock in die Hand und ging damit voran. Die Frauen folgten in einigem Abstand. Dann hörte ich ein Röcheln, als ob jemand erstickt.
Uns bot sich ein merkwürdiger Anblick: Vor einem der vier Standpfosten des Hochsitzes kniete ein Mann. Seine Arme waren nach hinten um den Pfosten gelegt und seine Handgelenke gefesselt. Mit Handschellen aus schmalem Plastikband, wie sie die Polizei verwendet. Der Mann hatte einen knallroten Kopf. In seinem Mund steckte ein Knebel. Ein dreckiges Tuch. Er verdrehte die Augen. Ein paar Minuten später wäre er wohl erstickt.
Als ich ihm den Knebel aus dem Mund zog, japste er wie ein Ertrinkender nach Luft. Jessica Liedtke hatte ein Schweizer Messer in ihrem Golfbag. Es war nicht einfach, damit die starke Plastikfessel durchzuschneiden, aber es gelang nach einigen Versuchen.
»Sollen wir einen Arzt rufen?«, fragte Irma.
»Nein, auf keinen Fall«, krächzte der Überfallene. Er trank in kleinen Schlucken aus der noch halbvollen Mineralwasserflasche, die in der Halterung des Golfkarrens gesteckt hatte.
»Es geht schon wieder besser. Es ist alles okay«, sagte er schließlich.
Er war ein gut aussehender Typ, das musste ihm der männliche Neid lassen. Groß, schlank, harmonisches Gesicht, dunkler Teint, braunes Haar mit grauen Schläfen.
»Ich habe Sie doch schon im Golfclub gesehen«, sagte Irma.
Mir kam er auch bekannt vor. Schließlich fiel es mir ein.
»Sind Sie nicht selber Arzt?«
»In gewissem Sinne ja«, sagte er und reckte und streckte sich. Es ging ihm offenkundig wieder ganz gut.
»Was heißt das – in gewissem Sinne?«
Jessica Liedtke brach in ein Gelächter aus, das ein wenig hysterisch klang.
»Darf ich vorstellen«, sagte sie dann, »das ist Landarzt Doktor Winterberg aus der Fernsehserie ›Landarzt Dr. Winterberg‹. Bei uns im Golfclub ist er unter seinem richtigen Namen Ansgar Eckhoff angemeldet. Er ist ein ziemlich bekannter Schauspieler.« Sie gebe diesem Herrn Eckhoff seit ein paar Wochen Trainerstunden.
Wir lachten. Wir verstünden sicher, so erklärte die Golflehrerin, dass der Zwischenfall auf keinen Fall bekannt werden sollte.
»Schaaade«, sagte Irma und dehnte