Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Kevin McGovern.« Dabei deutete er eine Verbeugung an.
»Schöne Namen haben sie sich in der Zentrale mal wieder für uns einfallen lassen«, sagte sie. »Bei jedem Auftrag neue Namen, neue Papiere, neue Lebensgeschichten. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin.«
»Geht mir nicht anders«, sagte er.
»McGovern, das passt nicht zu dir, finde ich. Du siehst nicht irisch aus, eher ein bisschen spanisch oder mexikanisch.«
»Meine Großmutter war eine Hopi-Indianerin aus der Gegend am Grand Canyon, aber mein Urgroßvater ist tatsächlich aus Irland in die Staaten eingewandert. Er war bei den legendären Arizona Rangers. Später hat er auf eigene Rechnung als Kopfgeldjäger gearbeitet.«
Er wechselte das Thema.
»Wo liegt eigentlich dieser Golfplatz und das Schloss Herrensee, wie weit ist das von Hamburg?«
»Eine knappe Stunde mit dem Auto. Sollen wir gleich reden und arbeiten? Oder bist du zu müde vom Flug?«
Im Gegenteil. Er habe im Flugzeug geschlafen und sei hellwach.
»Gut, dann zeige ich dir jetzt das Material. Ich habe ein Dossier für dich zusammengestellt. Darin findest du alles, was ich und meine Informanten in Deutschland und in Washington über unseren Fall herausbekommen haben.«
Sie ging zum Kühlschrank hinter dem Tresen der Pantryküche und räumte das Tiefkühlfach leer. Dann zog sie einen doppelten Boden weg und holte eine große, flache Metallkassette mit einem Zahlenschloss hervor. Die Kassette stellte sie auf den schwarzen Granittisch im Wohnraum. Sie setzten sich schräg gegenüber auf die Lederpolster einer unbequemen Sitzecke.
»Merk dir diese sechsstellige Nummer.«
Vor seinen Augen tippte sie langsam eine Zahlenkombination ein. Der Deckel sprang auf.
»Bedien dich!«
Er breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Klarsichthüllen mit Nummern und Aufschriften. Neue und alte Karten. Eine zerknitterte und wieder geglättete Skizze mit der Jahreszahl 1945. Aktuelle Farbfotos und historische Bilder, Ansichten von B-17-Bombern, deutschen Gebäuden mit Nazibeflaggung davor, auch Luftaufnahmen mit eingezeichneten Kreuzen und Linien. Er fand Ermittlungsberichte mit kurzen Zusammenfassungen und ausführlicheren Erläuterungen, Dokumente aus deutschen und amerikanischen Quellen.
Der Mann, dessen Papiere auf den Namen Kevin McGovern lauteten, stieß einen missglückten Pfiff aus.
»Und das hast du alles in so kurzen Zeit zusammengetragen?«
»Na ja, es war nicht so schwer – wenn man Leute kennt, die Leute kennen, die auf den richtigen Stühlen in den Behörden und Archiven sitzen, vor allem bei den Diensten in Deutschland und in den Staaten. Das Wrack des Bombers ist ja schon am siebten Juli gefunden worden. Ich hatte immerhin zwei Wochen Zeit.«
»Und meine Arbeitsausrüstung?«
»Die ist von einem Technikexperten nach deinen Wünschen zusammengestellt worden. Sicher untergebracht. Jederzeit verfügbar! Ein Geländewagen steht vollgetankt unten in der Tiefgarage. Hier sind alle Schlüssel.«
»Ehrlich gesagt: So gut scheint noch keiner meiner Einsätze vorbereitet worden zu sein.«
»Wir sind eben Profis.«
»Gibt es in dem Kühlschrank auch was zu trinken?«, fragte er.
»Du trinkst Whiskey, habe ich gehört. Nicht sehr originell.« Sie stand auf und holte eine Flasche.
Er schenkte ein. Pur für sich selber. Mit Wasser für sie.
Sie erzählte ihm von ihren Recherchen. Er hörte aufmerksam zu.
»Was wissen wir eigentlich über unseren Auftraggeber?«, fragte er schließlich.
»Wie immer nur das Nötigste. Ich glaube, es ist ein einflussreicher Mann, vermutlich älter, mit besten Kontakten zur CIA und zum Pentagon. Einer, der seinen Seelenfrieden wiederfinden will, wenn ich das richtig verstanden habe. Jedenfalls will er Vergeltung für eine lange zurückliegende, offenbar furchtbare Geschichte, die mit dem Absturz des B-17-Bombers am Golfplatz zu tun haben muss ... Wie heißt es im Alten Testament: Auge um Auge, Zahn um Zahn ... – Deshalb hat er Blackbird Global Security um Hilfe gebeten. Er scheint übrigens mit Erik Vandenberg befreundet zu sein. Unser Boss hat mich höchstpersönlich angerufen. Und dich hat er wohl auch selber für diesen Job ausgesucht. Sie haben dich als eine Art Racheengel nach Deutschland geschickt ...«
Er lächelte wortlos.
»Darf ich dich etwas Persönliches fragen?«
Er antwortete nicht.
»Du wirkst auf mich nicht wie ein, wie ein ...« Sie zögerte.
»Wie ein was?«
»Wie ein Profikiller.«
Über den Rand seines Glases hinweg sah er sie ausdruckslos an.
»Dich hält man auch nicht für eine CIA-Agentin, die in die Privatwirtschaft gewechselt ist.«
»Was ich schon immer mal wissen wollte: Warum macht ein Mann wie du so einen Job? Ich habe gehört, du warst auf einem guten College?«
»Weil ich es gelernt habe. Erst bei einer Spezialeinheit der Army, später bei den Navy Seals, und danach im Dienst gewisser Regierungsorganisationen. Klingt vielleicht komisch, aber dazu gehörte auch ein gewisser Patriotismus.«
Sie hielt seinem Blick stand.
»Und heute? Bei Blackbird Global Security geht es dir nur noch um das Geld?«
»Eine halbe Million Dollar für diesen Auftrag – das ist mehr als ›nur Geld‹.«
Und er fuhr fort: »Mein Großvater hat sich freiwillig als Henker gemeldet. Das ist in Arizona ein Ehrenamt. Und mein Vater hat im Staatsgefängnis von Arizona gearbeitet. Er war für die Death Row zuständig, für die Abteilung mit den Todeskandidaten.«
»Töten ist also eure Familientradition?«
»Könnte man so sagen.«
Er stand abrupt auf.
»Es reicht. Ich rede zu viel!«
McGovern ging auf den Balkon hinaus. Wie ein Scherenschnitt hob sich seine Silhouette scharf gegen den helleren Hintergrund ab.
Bevor sie sich an diesem Abend verabschiedete, gab sie ihm eine Telefonnummer.
Geschäftsmäßig sagte er, er werde das Dossier bis zu ihrem nächsten Treffen morgen Mittag durchsehen und durchlesen.
Kaum hatte sie die Tür der konspirativen Wohnung hinter sich ins Schloss gezogen, ärgerte er sich über sich selber. Er hätte nicht so viel erzählen sollen. Whiskey und Frauen machten ihn redselig. Ein alter Fehler in seinem Gewerbe.
Nachdem er geduscht hatte, fühlte er sich besser. Er zog den bereitliegenden Bademantel an, nahm ein Sandwich aus dem Kühlschrank und öffnete eine Flasche Wasser. Dann machte er es sich auf dem Ledersofa bequem und begann zu arbeiten.
Ein beeindruckendes Dossier hatte seine neue Partnerin da zusammengestellt. Mit Beschreibungen und Gewohnheiten der Zielpersonen. Lebensläufe, Berufe, Geschäfte, Familien, private Vorlieben – sie hatte an alles gedacht. Sogar an ein Orts- und Namensregister.
Er machte sich Notizen, skizzierte Ideen und verwarf sie wieder. Ein Blatt legte er zur Seite. Und bevor er das Dossier mit der Kassette in das tiefgekühlte Geheimfach zurücklegte, notierte er sich alle fünf Namen. Den wichtigsten markierte er mit einem Ausrufezeichen: Malte von Mellin!
Nach einigem Suchen fand er auch die Notiz wieder, die er sich noch im Flugzeug vor der Landung in Hamburg gemacht hatte: Monday, 26th, 2 p.m. – Little Girl’s Birthday Party, Herrensee Castle.
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Herrensee, Montag,