Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull

Der fünfte Schatten - Jürgen Petschull


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Aber in letzter Zeit war es stiller geworden auf Herrensee.

      Bester Laune fuhr ich auf den Parkplatz des Golfclubs. Und der Tag versprach auch weiterhin gut zu werden, denn an der Rezeption traf ich Wolfram Witt.

      »Als hätte ich geahnt, dass du heute mal wieder rauskommen würdest, Bogey!«, sagte er, als wir uns nach Männerart flüchtig umarmten. »Wollen wir zusammen eine Runde spielen?«

      Ich war sofort einverstanden und freute mich wirklich, ihn nach längerer Zeit wiederzusehen. Er war beinahe drei Monate lang »verreist« gewesen, wie es hieß. Wir wollten beide noch trainieren, meldeten aber sicherheitshalber schon eine Abschlagzeit an, für 14:30 Uhr. Bei dem wunderbaren Golfwetter würde es heute einigen Andrang auf dem Platz geben.

      Wolfram Witt war mehr als ein guter Bekannter. Ein Golffreund, fast schon ein richtiger Freund. Wolfram hatte mich als Erster »Bogey« genannt.

      Unter der alteingesessenen Elite und den neureichen Mitgliedern des Clubs bildeten er und ich gemeinsam mit einigen anderen Normalverdienern eine mittelständische Gruppe, die mehr Wert auf Golfsport als auf Gesellschaftsspiele legte. Wir kauften keine Designerkleidung und schoben unsere Schläger-Bags nicht in zweitausend Mark teuren Titan-Trolleys über die Fairways.

      Als wir nebeneinander vor den Abschlaghütten standen und einen Ball nach dem anderen mit wechselnden Schlägern von den Tees den flachen Abhang hinunterprügelten, beobachtete ich Wolf aus den Augenwinkeln. Seine Schwungtechnik war nichts für Golfästheten. Er holte Energie und Spannung nicht aus dem ganzen Körper, sondern nur aus seinen muskulösen Schultern. Aber seine Bälle flogen weit und gerade. Einer nach dem anderen.

      Wolfram sah gut aus, viel besser als bei unserem letzten Treffen. Er hatte ein paar Kilo zugenommen. Seine Wangen erschienen nicht mehr so eingefallen. Die scharfen Falten zwischen Nase und Mundwinkeln waren wie wegretuschiert. Seine früher graue und schlaffe Gesichtshaut war frisch und rosigbraun. Und der kürzere Haarschnitt machte ihn jünger. Ganz offensichtlich hatte ihm die Entziehungskur am Bodensee gut getan. Ich war wohl einer der wenigen, denen er davon berichtet hatte. Bei dieser Gelegenheit, so erzählte er mir stolz, habe er nach vierzig Jahren auch gleich das Rauchen aufgegeben.

      »Ich bin stolz auf dich«, sagte ich.

      Er grinste ein wenig verlegen.

      »Wir haben ja länger nicht zusammen gespielt. Wie ist dein aktuelles Handicap?«

      »Fünfzehn Komma acht«, sagte ich.

      »Nicht schlecht«, sagte er, »aber dann habe ich die Ehre.« Er habe sich bei Turnieren am Bodensee auf Vierzehn Komma drei verbessert.

      Wolfram schlug also am Tee 1 zuerst ab. Und wie! Nach mehr als zweihundert Metern landete sein Ball mitten auf dem Fairway, ein paar Meter vor einem Graben, genau an der Stelle, an der die Bahn einen leichten Rechtsknick macht. Eine ideale Position. Von da aus konnte man die Fahne des Par 4 sehen. Sein zweiter Schlag mit einem Holz 5 rollte nach hundertsechzig Metern an zwei Sandbunkern vorbei bis kurz vor das Grün. Ein guter Chip und ein Zwei-Meter-Putt. Er reckte vor Freude die Faust in den Himmel. Mit vier Schlägen hatte er ein Par gespielt. Ich schaffte mit sechs Schlägen nur ein Doppelbogey.

      Er war also tatsächlich in Form. Das freute mich für meinen alten Kumpel.

      Wolfram Witt war früher einer meiner Informanten bei der Kripo gewesen. Und als Reporter hatte ich ihm gelegentlich auch mit ein paar Hinweisen bei Ermittlungen helfen können. Zum Beispiel als ich von einem FBI-Kontaktmann in New York erfuhr, dass eine Mafiafamilie aus Queens versucht hatte, Spielcasinos in der europäischen Provinz zu übernehmen. Die Landespolizei bildete eine Sonderkommission. Wolfram Witt übernahm die Leitung. Der kriminelle Coup konnte verhindert werden.

      So etwas verbindet. Wir waren verschwiegen und konnten einander vertrauen. Und später haben wir etwa zur gleichen Zeit mit dem Golfspielen angefangen. Und wir haben uns gegenseitig unsere Geschichten erzählt. Es stellte sich heraus, dass wir Leidensgenossen waren: Auch seine Ehe war in die Brüche gegangen.

      Wolfram war zuletzt Chef der Abteilung »Gewaltdelikte und Brandstiftung« der Kreispolizeiinspektion, die auch für das Gebiet Herrensee zuständig ist. Meist leitete er selber die von Fall zu Fall gebildeten Mordkommissionen. Vor gut einem Jahr wurde er überraschend früh pensioniert. Mit 54. Offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Und das war wohl auch so, denn Alkoholabhängigkeit ist eine üble Krankheit. Jedenfalls war Hauptkommissar Wolfram Witt vor einem Jahr in den »wohlverdienten Ruhestand« verabschiedet worden. Im »gegenseitigen Einvernehmen«, wie es hieß. Und mit einer schönen Feier im Kreise der lieben Kollegen. Die hatte er noch aufrecht durchgestanden. Aber dann hat er sich zu Hause noch weiter betrunken. Bis zum Erbrechen.

      Die knallharte Entziehungskur hat ihn gerettet.

      Inzwischen war der frühpensionierte Ex-Ermittler nebenbei eine Art Sicherheitsberater für das Schlosshotel Herrensee und den Golfclub geworden. Der Clubmanager hatte ihn zu Sonderkonditionen engagiert. Wolfram bekam kein Geld – schon, damit seine Geschiedene nicht gleich wieder die Hälfte abkassierte. Stattdessen wurde ihm der vierstellige Jahresbeitrag für den Golfclub erlassen und auch die fünfstellige »Spende«, die von neuen Mitgliedern erwartet wurde. Und: Er bekam in den beiden erstklassigen Club- oder Schlossrestaurants ein paar Mal in der Woche eine warme Mahlzeit in Form eines mehrgängigen Menüs auf Kosten des Hauses. Dazu trank er nur Säfte oder Mineralwasser.

      Als Gegenleistung arbeitete er Konzepte für die Sicherheit im Schlosshotel und in der Clubanlage aus. Und er hat die Einbrecher geschnappt, die im Laufe eines Jahres dreimal in den gut verschlossenen Caddieraum eingebrochen waren und dort eingelagerte Golfaufrüstungen gestohlen hatten. Und einem halben Dutzend Clubmitgliedern hatte er ihre vom Parkplatz verschwundenen Sport- und Geländewagen zurückgeholt – aus einer Diebes-Werkstatt in Krakau. Seither war der gestrauchelte Kriminal-Hauptkommissar Wolfram Witt wieder ein geachteter Mann im Club.

      Auf unserer Runde lief es an diesem Tag für mich nicht so gut. Ich verzog die meisten Abschläge, und viele Putts liefen ein paar Zentimeter am Loch vorbei statt hinein. Wolfram spielte sicherer. Aber auch er hatte eine Schwächephase. Auf der 13. Bahn landete sein Ball vom Abschlag rechts neben dem gemähten Fairway, traf offenbar einen Stein und sprang und hoppelte in einem Naturbunker herum, wie die Golfer sagen – in einem naturbelassenen, sandigen und steinigen Gelände. Als wir den Ball suchten, konnten wir die alte Kiesgrube sehen, die noch aus der Zeit vor dem Weltkrieg stammte. Seither hatte sich dort ein ansehnliches Biotop entwickelt.

      Wir gingen bis an die Abbruchkante. Das Bomberwrack war mit einer grünen, tennisplatzgroßen Plane abgedeckt worden. Rings um die kleine Tiefebene herum war ein rotweißes Absperrband gespannt, und alle paar Meter stand auf Schildern »Betreten verboten!«.

      »Nach der Runde würde ich mir das ganz gerne mal aus der Nähe ansehen. Kommst du mit?«, fragte ich.

      »Ja, klar. Ohne mich darfst du da sowieso nicht runter. In meiner neuen Eigenschaft als Sicherheitsbeauftragter des Clubs habe ich die Kiesgrube erst einmal auf unbestimmte Zeit sperren lassen.«

      Wolfram gewann unser kleines Wettspiel. Nachher saßen wir im Schatten des Schlosses auf der Terrasse. Aus Solidarität mit meinem abstinenten Freund trank ich auch etwas Alkoholfreies: Jota, ein beliebtes Golfergetränk, halb Johannisbeersaft, halb Tonic.

      Am Nebentisch floss schon Champagner. Natürlich. Denn das große Wort führte Laurenz Jansen junior, der Anlageberater mit der Steuerflucht-Adresse auf den Cayman Islands. Der protzte im Kreis seiner neureichen Klientel lauthals mit seiner neuen »Lange & Söhne«-Uhr.

      Jansens Gerede wurde abrupt vom Lärm eines Hubschraubers übertönt, der über dem Schloss auftauchte. Es schien beinahe so, als wollte der Pilot mitten auf der Terrasse landen. Jedenfalls drohten die Sonnenschirme schon im Windwirbel der Rotoren umzukippen.

      »Das ist ein Bell-Helikopter«, sagte Wolfram Witt. Er lief zu seinem Golfbag, holte einen kleinen Feldstecher und stellte die Schärfe ein.

      »Ich glaube, es sind fünf oder sechs Leute an Bord. Wahrscheinlich die Experten, die das Bomberwrack untersuchen und nach Spuren der Besatzung suchen wollen.«

      Tatsächlich


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