Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
abmontiert worden war. Er erkannte das Emblem auf der Motorhaube. Eine Art Dreizack. Ein echter Maserati! Auf zweihundert Meter Entfernung konnte der Beobachter durch sein Spektiv auch erkennen, dass die Frau eine einreihige Perlenkette angelegt hatte und dass der stoppelbärtige Mann, den sie gerade so vertraut begrüßte, eine modische Uhr trug. Vermutlich ein eher billiges Teil.
Der Amerikaner erkannte die Tochter des deutschen Medienmoguls erst auf den zweiten Blick. Ihre Haare waren anders als neulich im Flugzeug und auf den Farbfotos, die er in seinem Dossier gefunden hatte: lockiger und hellblonder. Aber kein Zweifel, sie war es: Irma von Mellin. Das etwas strenge, aber harmonische Gesicht, die weiche Mundpartie und die bernsteinfarbenen großen Augen hinter der randlosen Designerbrille, die sie jetzt aufgesetzt hatte – wirklich eine ansehnliche junge Frau mit langen Beinen, die sie recht freizügig in einem eleganten, kurzen Sommerkleid zur Besichtigung freigab.
Den Mann, der gerade seine Golfsachen in den Kofferraum gelegt und der das kleine Mädchen in die Luft geworfen hatte, konnte er nicht identifizieren. Dieser Typ kam in Valeries Dossier nicht vor, da war er sicher.
Das kleine, blonde Mädchen mit der großen Schleife im Haar, das ungeduldig neben den beiden stand und mit nach hinten geneigtem Kopf etwas sagte, das war zweifellos die Kleine, die heute Geburtstag hatte. Lena, die Enkeltochter des Großverlegers Malte von Mellin.
Der Beobachter betrachtete wieder die sanfte, hügelige Landschaft und das Schloss. Ein wenig im Hintergrund war auf dem Rasen ein weißes Partyzelt aufgebaut worden; Gartentische, Bänke und Stühle standen davor. Alles wurde mit Girlanden und Luftballons geschmückt. Ein buntes Häuschen wurde noch aufgebaut. Offenbar ein Kasperletheater. Die Vorbereitungen für den Kindergeburtstag waren beinahe beendet. Die Gäste sollten ja gegen 14 Uhr kommen.
Bis dahin blieb noch etwas Zeit. Er konnte sich noch ein wenig entspannen. Schon am frühen Morgen war er unterwegs gewesen.
»Fliegen Sie nach Hamburg, und fahren Sie in dieses Dorf Herrensee. Lassen Sie da keinen Stein auf dem anderen«, hatte ihm der zuständige Operationschef von Blackbird Global Security vor seiner Abreise gesagt. »Und fangen Sie genau hier an!« Dabei hatte er einen seiner manikürten Fingernägel auf eine rissige alte Karte gedrückt. Auf die Stelle, an der ein Kreuz eingetragen war. »Walnut tree« – Walnussbaum. Und »Dead Bodys?« – »Leichen?« stand am Rand. Mit Fragezeichen. Es war eine topographische Karte in großem Maßstab aus den vierziger Jahren. Sie stamme, so hatte der Einsatzleiter erklärt, zur Fall-Akte einer Ermittlungsgruppe der AirForce, die sich in der ersten Zeit nach Kriegsende um verschollene amerikanische Flugzeug-Besatzungen in Deutschland gekümmert hatte. Vermutlich aber nicht sehr gründlich. Denn damals sei man diesem Hinweis aus der deutschen Bevölkerung auf verscharrte Leichen von amerikanischen Fliegern entweder nicht nachgegangen oder man habe dort gesucht und nichts entdeckt. In der alten Akte gebe es jedenfalls keine weiteren Erklärungen dazu.
Der Walnussbaum stand ziemlich genau da, wo er auf der alten Karte eingezeichnet war: auf einem von hohen Gräsern und niedrigen Büschen bewachsenen Gelände zwischen dem Golfplatz und dem Waldrand. Gut fünfhundert Meter weit von der Kiesgrube mit dem Bomberwrack entfernt. Er hatte dort völlig ungestört graben können. Tatsächlich: In nur einem halben Meter Tiefe war er auf das gestoßen, was seine Auftraggeber dort auch vermutet hatten.
Ein erstes Knochenstück hatte er schon sichergestellt. Im Schutze der Dämmerung würde er weiterarbeiten. Er war wirklich kein gefühlsseliger Mann, aber dennoch berührte ihn die Vorstellung, was er dort noch finden würde.
Als er um die Mittagszeit auf einer kleinen Lichtung saß, etwas aß und trank, grüßten ihn einige Spaziergänger freundlich. Der Amerikaner streckte sich aus und döste vor sich hin. Er dachte an seine Zukunftspläne. Wieder einmal. Er würde noch zwei, drei solche hoch dotierten Aufträge übernehmen und dann aussteigen. Finanziell hätte er dann ausgesorgt. Ein Apartment auf Key Biscayne bei Miami Beach war schon angezahlt. Er würde sein Leben genießen. Ein für die Hochseefischerei in der Karibik geeignetes Boot kaufen und auch Golf spielen wie die Leute da unten im Tal.
Über diese Gedanken war er eingeschlafen. Fast eine Stunde lang hatte er so gelegen, wie er nach einem Blick auf seine Uhr feststellte. Eilig kehrte er zum Hochsitz zurück.
Die Party zum Geburtstag der kleinen Lena von Mellin hatte bereits begonnen. Der Amerikaner ließ den runden Ausschnitt seines Zielfernrohrs über die Geburtstagsgäste wandern. Nur wenige Männer waren an diesem ersten Arbeitstag der Woche dabei. Ein paar jüngere Väter und wenige Großväter. Sie sahen aus wie Menschen, die sich ihrer Bedeutung bewusst waren. In ihre Gesichtszüge hatte sich die Arroganz der Mächtigen eingegraben. Den Gastgeber konnte er noch nicht ausfindig machen. Aber er hatte Zeit. Er konnte auf Malte von Mellin warten.
Der Mann mit dem Zielfernrohr blickte immer wieder zu dem weißen Zelt auf dem Rasen, zu dem Kasperletheater und zu den Gästen, die es sich inzwischen auch auf Picknick-Decken bequem gemacht hatten. Dann entdeckte er ein Gruppe von Kindern, die plötzlich in seine Richtung gelaufen kam. Zehn waren es vielleicht. Ein paar Jungen und fein herausgeputzte Mädchen mit Kleidchen, Schleifchen und Schühchen. Vielleicht wollten sie Verstecken spielen. Die Mädchen hüpften fröhlich über die Wege am Waldrand. Sie kamen immer näher. Vor ihnen sprang bellend ein kleiner Hund hin und her, ein gefleckter Jack-Russel-Terrier. Der Hund apportierte unermüdlich ein Holzstöckchen, das ihm ein Mädchen immer wieder aus der Schnauze nahm und dann wieder wegwarf. Es war die kleine Blonde mit der weißen Schleife im Haar, die vorhin zwischen ihrer Mutter und dem stoppelbärtigen Mann gestanden hatte: Irma Mellins Tochter – das Enkelkind von Malte von Mellin!
Plötzlich hatte der Amerikaner eine Idee. Er nahm den Korb mit den Waldpilzen, kletterte vorsichtig die brüchige Leiter des Hochsitzes herunter und ging den Kindern und ihrem Hund entgegen.
8
Es hatte geklappt. Ich war ja an diesem Tag nicht nur zum Golfspielen nach Herrensee gekommen, sondern auch, um Irma »zufällig« treffen zu können. Nun war sie mir gleich auf dem Parkplatz buchstäblich in die Arme gelaufen. Ich erzählte ihr, dass ich vor den Bauarbeiten in meiner neuen Dachgeschosswohnung geflüchtet war und den ganzen Tag im Golfclub verbringen wollte. Eine Trainerstunde sei bereits vereinbart. »Wenn du schon hier bist, dann komm doch am Nachmittag rüber, wir feiern auf der anderen Seite des Schlosses auf der großen Wiese Lenas Geburtstag. Es werden auch viele Eltern und andere Erwachsene da sein. Auch mein Vater hat versprochen zu kommen.«
Ich sagte sofort zu. Beim Mittagessen traf ich meinen Freund Wolfram Witt. Er hatte mit dem Caddie-Master und mit einem Techniker den Einbau einer neuen Diebstahlsicherungsanlage für die große Halle in einem umgebauten ehemaligen Stallgebäude besprochen, wo einige hundert Clubmitglieder Boxen gemietet hatten, um ihre Schlägertaschen unterstellen zu können. Wir aßen zusammen zu Mittag. Und natürlich schwärmte ich Wolfram von meiner Runde vor, besonders von dem Lobwedge-Schlag über die hohe Baumgruppe am zwölften Loch. An einem der Nebentische saß Laurenz Jansen allein und blickte griesgrämig herüber. Er hatte meine Zurückweisung offenbar so persönlich genommen, wie sie gemeint war.
Nach dem Essen duschte ich und zog mich um. Helle Sommerhose und ein dunkelblaues Polohemd. Dann schlenderte ich zur Festwiese hinüber. Das Kasperletheater hatte begonnen. Die kleinen Zuschauer hockten auf niedrigen Bänken. Sie verfolgten gebannt, wie das Krokodil und der Teufel allerlei Schabernack trieben. Die Kinder riefen den Kasper um Hilfe. Lachen mischte sich mit Kreischen und Schreien.
Die Erwachsenen standen in kleinen Gruppen ein wenig abseits. Sie hatten Gläser oder Kaffeetassen in den Händen und amüsierten sich über die Freude ihrer Kinder und Enkelkinder. An einem langen Tisch wurde offenbar ernsthafter geredet. Ich erkannte Irma und ihren Vater.
Sie winkte mich heran und stellte mich vor.
»Das ist Jonas Anders, ein guter Freund. Er war früher Reporter beim Zenit.«
Immerhin: Der Herr Großverleger blickte in meine Richtung und lächelte flüchtig.
Sonst kannte ich von den erwachsenen Teilnehmern der Kindergeburtstagsgesellschaft nur den Chefarzt einer kleinen Privatklinik in der Nähe des Mellin-Verlagshauses, bei dem ich mal mit einem ausgerenkten Gelenk