Die Magie der Schwarzweißfotografie. Torsten Andreas Hoffmann

Die Magie der Schwarzweißfotografie - Torsten Andreas Hoffmann


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Stimmungen wirken unwirklich, so als wären sie geträumt. Doch wie bekommen wir als Fotografen surreale Szenen auf den Sensor? Auch in der Wirklichkeit gibt es Szenen, die surreal wirken, so als käme ein Hauch von ihnen aus einer anderen Welt. Solche Szenen gilt es zu finden.

      Haben Sie schon einmal versucht, Ihr Unbewusstes ans Tageslicht zu heben und sprechen zu lassen? Gewiss kommen Ihnen da erst einmal vage Bilder. Aber dazu hat René Magritte sehr schön gesagt: »Die vagen Figuren haben eine ebenso notwendige und vollkommene Bedeutung wie die präzisen.«

      Nehmen Sie sich einmal Zeit, und versuchen Sie, sich an Ihre Träume zu erinnern. Welche Bilder steigen in Ihnen hoch? Wenn Sie Ihrem Unbewussten nahekommen möchten, welche Art von vagen Bildern liegen darin verborgen? An welchen Orten könnten Sie diese Bilder fotografisch ausdrücken? Kommen Ihnen Ideen, Impulse? Nehmen Sie sich Zeit – welche unwirklichen, surrealen Bilder könnten die Ihren sein? Wo müssten Sie hinfahren? Haben Sie womöglich schon Bilder aufgenommen, die einen surrealen Charakter haben? Versuchen Sie, da anzuknüpfen. Auch Ihr Unbewusstes ist die Quelle Ihrer Kreativität – das Rätsel oder die Summe von Rätseln, die Sie auf den Sensor bannen können.

      Natürlich müssen wir Fotografen die Pendants zu unserem Unbewussten in der Außenwelt finden. Wir müssen also immer wieder dorthin aufbrechen, wo es uns hinzieht.

      Wenn Sie etwas in sich gegangen sind, machen Sie es ähnlich wie der bekannte Schwarzweißfotograf Robert Häusser. Er wohnte in der Nähe von Mannheim und fuhr manchmal einfach los, drauflos. Sein Inneres sei wie eine Wünschelrute, sagte er öfter, und irgendwann, wenn er durch die Landschaft fuhr, schlug sie plötzlich aus. »Da ist was«, hat er mit einfachen Worten gesagt, wenn er spürte, dass er sich mit seiner inneren Wünschelrute einem Fotomotiv näherte. Seine Schwarzweißbilder sind oft grandios einfach und klar, aber auch surreal, am Rande der Wirklichkeit.

      Mir geht es ähnlich. Ich begebe mich meist an jedem Ort weit weg von den Touristen-Hotspots oder den gepflegten, bürgerlichen Vierteln, in denen alles so lieblich perfekt ist. Rasen und Hecken scheinen dort mit der Nagelschere geschnitten zu sein, aber der Gesamteindruck erscheint mir oft leblos und langweilig, zumindest für die Fotografie.

      Nicht umsonst zieht es mich immer wieder nach Indien, wo unsere deutsche bürgerliche Welt komplett auf den Kopf gestellt zu sein scheint. Hier finde ich Motive, die so absurd und surreal sind, dass sie geträumt sein könnten, manchmal auch Teile eines Albtraums. Oder nach Lanzarote, auf die schwarze Vulkaninsel, bei der ich immer wieder das Gefühl bekomme, der Wirklichkeit ein Stück weit entronnen zu sein, wenn ich über diese unwirtliche Landschaft wandere. Aber auch in Deutschland sind es die unbürgerlichen Viertel, die mich zum Fotografieren animieren, z. B. Berlin Friedrichshain oder Kreuzberg, wo die viele Fantasie, die dort an Berliner Hauswände gebannt ist, leider immer öfter Opfer der Abrissbirne oder des einfältigen bürgerlichen Anstrichs wird. Betrachten Sie diese Zeilen aber bitte nicht als Abrechnung mit der Bürgerlichkeit, sondern als Aufforderung, beim Fotografieren einmal aus der bürgerlichen Welt und – wenn Sie noch mehr Mut haben – auch einmal aus der bürgerlichen Komfortzone auszubrechen, etwas vollkommen anderes zu entdecken und mit Ihrer Kamera zu gestalten. Suchen Sie Orte, die surreal wirken, Orte, die Ausdruck Ihres Unterbewusstseins sind, Orte, die jenseits der geordneten Einfalt von einer anderen Welt oder von einer anderen Sphäre oder von einer anderen Zeit erzählen, Orte, die am Rande der Wirklichkeit ein Eigenleben entwickelt haben und surreal sind. Wenn Sie Meister mit Photoshop sind, dürfen Sie surreale Orte auch zusammenbauen. Auch dafür zeige ich Ihnen ein paar Beispiele.

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       Lanzarote ist eine durchweg surreale Welt. Auch der Weinanbau hinterlässt unwirklich scheinende Spuren, denn die halbbogenförmigen Mäuerchen sind dazu da, dass sich auf ihnen morgens der Tau sammelt, damit der Boden für die Weinreben bewässert wird. Eine einfache, geniale Idee, um eine Insel mit Lavagestein fruchtbar zu machen, auf der es kaum regnet. Die Sonne beleuchtet den vorderen Teil des Bildes wie eine Bühne, deren Hintergrund die Vulkanberge sind.

      50 mm, Blende 9, 1/125 Sekunde, ISO 400

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       Was ist hier passiert? Eine Schiene führt auf ein riesiges Betonfeld in der Landschaft hin, das vielmals durchschnitten zu sein scheint. Des Rätsels Lösung beginnt bei einem Vulkanausbruch, der 1968 die sizilianische Ortschaft Gibellina heimsuchte und komplett zerstörte. Ein Künstler kam auf die Idee, die Ortschaft auf diese Weise wiederaufzubauen: Der ganze Ort wurde in Beton gegossen und sämtliche Straßen und Wege wurden wiederhergestellt. Dieses unheimliche surreale Mahnmal erinnert an das dramatische Erdbeben.

      32 mm, Blende 13, 1/80 Sekunde, ISO 200

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       Kleingartenidylle in Karlsruhe. Das scheinbar Unmögliche ist hier möglich: Entspannung vor der Hochspannung, eigentlich eine surreale Groteske, aber in Deutschland möglich. Und es leben sogar sehr nette Leute in dieser Kleingartensiedlung. Als ich dort fotografierte, wurde ich einfach spontan zu Kaffee und Kuchen eingeladen, meine Gastgeber wollten sich aber nicht fotografieren lassen.

      24 mm, Blende 13, 1/100 Sekunde, ISO 200

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       Noch absurder und damit surrealer ist dieses Bild aus Mumbai. Wie schon erwähnt, ist in Indien die gutbürgerliche deutsche Welt auf den Kopf gestellt, und so scheuen sich indische Behörden nicht, Hochspannungsmasten mitten durch ein Slumgebiet zu bauen – ohne Rücksicht auf die Menschen, die dort leben. »No problem, Sir«, höre ich den Verantwortlichen in Gedanken zu mir sagen. Für diese Aufnahme habe ich auf Blende 18 abgeblendet, denn bei einer Brennweite von 246 mm ist die Schärfentiefe sehr gering, wenn ich nicht stark abblende. Das Foto habe ich noch mit dem 21-Megapixel-Sensor der Canon EOS 5 D Mark II aufgenommen; beim 50-Megapixel-Sensor hätte sich die Beugungsunschärfe, die durch die starke Abblendung entsteht, deutlicher bemerkbar gemacht, allerdings nur bei einer Großvergrößerung.

      246 mm, Blende 18, 1/200 Sekunde, ISO 250

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       Dieses vollkommen surreale Gebäude fand ich in Rijeka: eine Art Datscha oben auf einem alten Industriebau mit einer Treppe, die ins Nirgendwo führt. Das Bild gibt ein Rätsel auf, das nicht lösbar scheint, ähnlich einem buddhistischen Koan. Aber gerade das macht das Bild ja so interessant. Bilder, die Fragezeichen hinterlassen, sind grundsätzlich spannender als Bilder, die ausbuchstabieren. Um die Magie zu steigern, habe ich mit Silver Efex eine leichte Vignette in das Bild gelegt.

      168 mm, Blende 8, 1/400 Sekunde, ISO 200

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       Mutet dieses Gebäude nicht gespenstisch an? Könnte es nicht eine Szenerie aus einem Kafka-Roman sein? Auch hier scheint die Grenze des Unwirklichen, ja fast schon Albtraumhaften erreicht. Hinzu kommt noch die wie Ironie wirkende Aufschrift »UltraTech«. Auch solch eine Szene ist typisch für die indische Finanzmetropole Mumbai. Was man nicht sieht: Hinter den gespenstisch wirkenden Gemäuern findet höchstwahrscheinlich ganz normales und lebendiges Familienleben statt. Die Aufnahme habe ich 20 Sekunden lang belichtet, denn das Canon L 70–200-mm-Zoomobjektiv hat bei der Canon EOS 5DS R bei Blende 8 seinen besten Schärfewert, und auf Detailschärfe kam es bei diesem Foto wirklich an.

      121 mm, Blende 8, 20 Sekunden, ISO 100

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       Man kann auch als Fotograf zum Maler werden und Wirklichkeiten erfinden, so wie es der Maler auf seiner Leinwand tut. In meiner neuesten Serie »Ver-rückte Welten« erschaffe ich mit Photoshop surreale Welten, die aber durchaus einen kritischen Zeitbezug haben und zum Nachdenken anregen. Die Arbeit mit Photoshop ist


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