Die Magie der Schwarzweißfotografie. Torsten Andreas Hoffmann

Die Magie der Schwarzweißfotografie - Torsten Andreas Hoffmann


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wir mit unseren Sinnesorganen nur einen ganz geringen Ausschnitt davon wahrnehmen – nämlich mit unseren Augen eine Wellenlänge von ca. 400 bis 800 Nanometern (zwischen Infrarot und Ultraviolett) und mit unseren Ohren Frequenzen von ca. 20 bis 20.000 Hertz (tiefe Bässe und hohe Töne) –, so leuchtet gewiss ein, dass unsere Sinne uns nur einen sehr eingeschränkten Bereich der Wirklichkeit vermitteln. Denn sämtliche Schwingungen zwischen diesen beiden für die Sinne empfänglichen Bereiche bleiben unserer Wahrnehmung verschlossen.

      Assoziation Jenseits

      Dieses wie auch immer geartete Dasein hinter dem »Schleier« der physischen Welt kann man auch als die »metaphysische Welt« bezeichnen. Vielleicht ist auch mit dem Begriff »Jenseits« diese Dimension des nicht mehr Sichtbaren und nicht mehr Hörbaren gemeint. Schon Aristoteles, aber auch viele andere Philosophen, wie Karl Jaspers, haben sich mit dem Begriff »Metaphysik« beschäftigt.

      Kann die Fotografie auch in »jenseitige Sphären« verweisen? Gerade die Darstellung besonders ergreifender Himmelsszenen ist dazu geeignet, denn der Himmel verweist in die Unendlichkeit des Kosmos – auch eine Dimension, die mit unserem Verstand nicht mehr vorstellbar ist und somit »jenseits« dessen liegt, was wir erfahren und denken können.

      Gerade der Himmel wird fast in allen Religionen und auch Mythologien als der Sitz Gottes, der Götter oder anderer himmlischer Wesen wie Engel oder Erzengel betrachtet. In jedem Fall ist der Himmel meist positiv besetzt, wie z. B. das Wort »himmlisch« zeigt.

      Die Verbindung von Fotografie und Mystik bzw. Metaphysik ist nun keinesfalls Spinnerei, sondern hat in der Fotogeschichte sogar ihre eigene Prägung erhalten. Herbert List ist in dieser Hinsicht wohl am weitesten vorangeschritten. Seine Arbeit wurde unter dem Begriff »fotografia metaphysica« bekannt. Er versuchte, mithilfe der Fotografie andere Daseinsdimensionen anzudeuten und den Gegenständen auf ihren tiefsten Grund zu gehen.

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       Noch aus analogen Zeiten stammt dieses Foto einer kleinen Kapelle zwischen Braunschweig und Hannover. Es ist aus dem fahrenden Zug heraus fotografiert und mit 1/30 Sekunde belichtet, sodass das Feld im Vordergrund schon in Bewegungsunschärfe getaucht wird, während die kleine Kapelle gestochen scharf ist.

       Mit einem hellen Himmel hätte dieses Bild allerdings keine Atmosphäre. Daher war es wichtig, den Himmel in der analogen Dunkelkammer nach oben hin um ein Vielfaches nachzubelichten – so lange, bis der obere Rand richtig schwarz geworden ist. Nun hat das Bild die richtige Tiefe und erweckt den mystischen Eindruck, den es vermitteln soll. Digital hätte man solch einen hellen Himmel selbstverständlich auch so nachbearbeiten können, dass er bis zu Schwarz hin verläuft.

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       Wie ein Finger mit Fingernagel liegt das rechte Wolkenband über einem Vulkan der Kanareninsel Lanzarote. Die geheimnisvolle, fremde Stimmung erfährt hier sogar noch eine gegenständliche Assoziationsmöglichkeit. Natürlich ist der Gedanke an den »Fingerzeig Gottes« nur ein Spiel, denn die meisten von Ihnen haben gewiss ähnlich wie ich ein etwas differenzierteres Gottesbild oder sind Atheisten. Aber mit der Fotografie lässt sich eben bildhaft und spielerisch und manchmal auch ironisch gestalten. Und natürlich ist dieser »Fingerzeig« ein Verweis ins Mystische, in jenseitige Sphären.

      25 mm, Blende 11, 1/100 Sekunde, ISO 200

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       Ebenfalls in jenseitige Sphären verweist dieser Friedhof mit seinen noch leeren Fächern auf Lanzarote. Die magischen Cirruswolken verstärken die geheimnisvolle Stimmung. Mit der Gelbfilterfunktion von Silver Efex wurde der Himmel noch abgedunkelt, sodass die Cirruswolken umso heller und magischer leuchten. Wie das funktioniert, erkläre ich am Schluss des Buchs im Kapitel über Filter. Die Aufnahme habe ich mit einer Brennweite von 32 mm und Blende 10 fotografiert, damit genügend Schärfentiefe vorhanden ist.

      32 mm, Blende 10, 1/40 Sekunde, ISO 200

      Wann ist ein neutraler Himmel sinnvoll?

      Haben wir uns bisher mit dem Himmel als Ausdrucksträger für Stimmungen aller möglichen Couleur beschäftigt, so soll natürlich auch auf die Möglichkeit eines nüchternen, neutralen Himmels eingegangen werden. Dieser neutrale Himmel spielt besonders für die Dokumentarfotografie eine wichtige Rolle. Die Dokumentarfotografie wurde vor allem durch das schon erwähnte Fotografenehepaar Bernd und Hilla Becher in den Tempel der Fotokunst emporgehoben. Mit ihren Industrieruinen legten sie ein einzigartiges fotografisches Zeugnis ab. Sie propagierten die Einstellung, dass der Fotograf mit seinen Gefühlen sich weitgehend zugunsten neutraler Objektivität zurücknehmen solle. Daher verwendeten die Bechers immer nur neutrale Himmel ohne Wolken auf ihren Bildern, da sie wussten, wie sehr der Himmel in der Schwarzweißfotografie in der Lage ist, Stimmungen zu erzeugen. Diese Position ist heute noch gültig und war ein Gegenpol zu der subjektiven Fotografie, die Otto Steinert in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts propagierte.

      Ich halte beide Positionen für richtig und relevant, je nachdem, was man ausdrücken möchte. Auf diesem Bild geht es darum, zu zeigen, wie schnell in Asien sich ganze Metropolen in einem rasanten Umbruch befinden. Nicht nur in China, auch in der indischen Finanzmetropole Mumbai mit ihren 22 Millionen Einwohnern ist dies zu spüren. Während es eine objektive Darstellung in der Fotografie meines Erachtens nicht gibt, erzeugt eine nüchterne Darstellung wie hier keine so starke Wertung, als wenn hier noch ein dramatischer Himmel über der Metropole gelegen hätte.

      Bertold Brecht vertrat allerdings vor ca. 100 Jahren die Idee, dass der Fotograf bewusst eine subjektive Position einnehmen sollte, da man der Fotografie so leicht Objektivität unterstellt, sie diese aber nicht einlösen kann.

      Dennoch, üben auch Sie sich einmal in der Einstellung, ganz nüchtern zu fotografieren. Nehmen Sie dazu am besten einen Tag, an dem der Himmel milchig ist und relativ wenig Licht und Schatten auf die Gegenstände wirft, oder wählen Sie einen hellgrauen Tag, an dem möglichst wenige Wolken im Himmel zu finden sind.

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       Ein neutraler Himmel erweckt am ehesten den Anschein von Objektivität, die es aber in Wirklichkeit in der Fotografie nicht gibt. In Mumbai werden Hochhäuser so schnell aus dem Boden gestampft wie in vielen anderen asiatischen Metropolen. Während die Fertigstellung des Berliner Flughafens jahrelang, ja fast ein Jahrzehnt auf sich warten ließ, wurden in China sage und schreibe 40 Flughäfen gebaut. Sand, den man unbedingt für den begehrten Beton benötigt, ist Mangelware geworden. Weltweit werden ganze Strände heimlich oder offiziell abgetragen, um den Sand- und damit den Betonhunger zu befriedigen.

      55 mm, Blende 8, 1/60 Sekunde, ISO 250

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      Lernen Sie, surreale Szenen zu erzeugen

      »Das Unbewusste ist die Quelle aller Kreativität«, so hat es der berühmte Surrealist André Breton einmal formuliert. Das Unbewusste ist wohl das größte Geheimnis, das jeder Mensch in sich trägt. Es formt uns in 80 % unserer Handlungen, es ist der Regisseur unserer Träume, es ist dieser umwerfend große Teil in uns selbst, den wir nicht oder nur ungenügend kennen.

      Gewiss sind Ihnen die Maler Salvatore Dali, René Magritte und vielleicht auch noch Paul Delvaux und Max Ernst ein Begriff. Sie sind die vier berühmtesten surrealistischen Maler. Sie verknüpfen auf der Leinwand Dinge, die in der Wirklichkeit nicht miteinander in Berührung kommen, wie z. B. Tag und Nacht in einem Bild oder Schuhe, die direkt in Füße übergehen, ein Pferd, das auf dem Dach eines Autos galoppiert, oder Wolken, die am Boden liegen. Dalis zerfließende Uhren hat gewiss jeder von Ihnen schon einmal gesehen. Ist es


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