Die Magie der Schwarzweißfotografie. Torsten Andreas Hoffmann

Die Magie der Schwarzweißfotografie - Torsten Andreas Hoffmann


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seinen ursprünglichen Zauber wenigstens ein Stück weit wieder zurück.

      40 mm, Blende 9, 15 Sekunden, ISO 100

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      Das kleine Bild zeigt die Skyline von New York mit der Brooklyn Bridge, so wie man sie kennt: das Klischeebild von New York. Das große Bild zeigt, dass es auch anders, und zwar deutlich besser geht: Regen ist die einzige Situation, in der die Brooklyn Bridge nicht überlaufen ist. Und wenn sich dann noch eine Szene wie diese ergibt, hat man sich von der Klischeeansicht befreit. Die Ausleuchtung ist perfekt, und so wird diese Szene – obwohl der Mann das tut, was alle tun, nämlich ein Foto mit dem Handy knipsen – zu einer ganz besonderen Szene. Hier kam ich bei der offenen Blende 4 des Canon 16–35-mm-Zoom bei einem ISO-Wert von 1600 nur auf eine Verschlusszeit von 1/13 Sekunde. Der Bildstabilisator und eine ruhige Hand haben es möglich gemacht, dass das Bild nicht verwackelt ist. Ein Stativ ist auf der Brooklyn Bridge wegen der starken Schwingungen der Brücke nicht einsetzbar.

      30 mm, Blende 4, 1/13 Sekunde, ISO 1600

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       Zurück nach Venedig: Dieses Bild vom Canal Grande entfernt sich auch schon ein wenig vom Klischee, weil es mit einem Neutraldichtefilter (siehe Seite 342) fotografiert wurde, was eine Langzeitbelichtung auch am Tag ermöglicht. Bei der Belichtungszeit von 8 Sekunden erscheint der Canal Grande fast wie eine Fläche aus Samt, und die in Unschärfe getauchten Schiffe wirken ein wenig geisterhaft. Der mit der Gelbfilterfunktion von Silver Efex herausgearbeitete Himmel (siehe Seite 42) tut ein Weiteres, um dem Foto eine geheimnisvolle Magie zu verleihen, und diese Magie ist es, die das Bild über ein Klischeefoto hinaushebt.

      16 mm, Blende 8, 8 Sekunden, ISO 100

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       Ist nicht ganz Venedig wie eine Konkubine, die zur Sinneslust verführt? Etwas entfernt vom Markusplatz gibt es noch Viertel, die ein wenig vom Massentourismus verschont sind. Hier fand ich diese Spiegelung eines Gemäldes mit den Häusern der Stadt. Mit Spiegelungen weben wir zwei Welten ineinander. Um Schärfentiefe zwischen dem nahegelegenen Bild und dem Hintergrund zu erlangen, war hier bei 35 mm Brennweite Blende 18 nötig.

      35 mm, Blende 18, 1/40 Sekunde, ISO 400

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       Eine ganz andere Möglichkeit, um den Klischeeansichten eines Ortes zu entrinnen, besteht darin, in Viertel zu gehen, die kaum bekannt sind, in denen sich aber authentisches Leben abspielt, wie z. B. im New Yorker Viertel Bushwick. Künstler wurden in New York aufgrund immer höherer Mieten zunehmend weiter an den Stadtrand gedrängt: von Greenwich Village über Soho auf die andere Seite des East Rivers nach Williamsburgh und jetzt ins noch weiter entfernte, ehemals heruntergekommene Viertel Bush-wick. Die New Yorker Hochbahn liefert einen grafisch interessanten Hintergrund.

      28 mm, Blende 7,1, 1/1000 Sekunde, ISO 800

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       Im Istanbuler Viertel Balat scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Aber oft sind gerade solche Viertel vom Abriss bedroht: Erdoğan plante, ganze Straßenzüge abreißen zu lassen und durch Neubebauung zu ersetzen. Dabei sind solche Viertel doch häufig die schönsten, in denen nicht jede Fassade aussieht, als könne man sie ablecken wie die Kruste eines Himbeereises. Versuchen auch Sie bei einer Reise in unbekannte, vom Reiseführer verschwiegene, Viertel zu gehen. Sie werden entdecken, wie viel Freude es macht, sich überraschen zu lassen, einmal nicht auf das vorbereitet zu sein, was kommt.

      16 mm, Blende 13, 1/500 Sekunde, ISO 400

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      Das Wesen der Schwarzweißfotografie ist grafisch

      Das Wesen der Schwarzweißfotografie ist grafisch. Schwarzweißfotografie ist Abstraktion und Reduktion der manchmal vor Farben schreienden Wirklichkeit. Sie ist Reduktion auf Formen und Tonwerte im Bereich eines umfangreichen Spektrums zwischen Weiß und Schwarz.

      Schwarzweißfotografie kann aber auch eine Reduktion sein, bei der Bilder nur aus Schwarz- und Weißtönen bestehen, bei denen die Tonwerte im mittleren Grauspektrum also kaum vorhanden sind. Die meisten klassischen Maler hatten auch ein grafisches Werk: Radierungen, Linolschnitte oder Holzschnitte. Denken Sie an die unglaublich ausdrucksstarken Holzschnitte von Emil Nolde. Das ist Grafik par excellence. In diesem Sinne kann auch die Schwarzweißfotografie eine besonders starke grafische Ausdruckskraft entwickeln.

      Hier geht es ganz besonders um das grafische Spiel von Licht und Schatten. Solch ein Spiel kann sowohl gegenständlichen als auch abstrakten Kompositionen zugrunde liegen. Denken Sie an die ausdrucksstarken Fotografien des großen Meisters Henri Cartier-Bresson. Viele seiner Bilder zeigen, abstrakt betrachtet, ein grafisches Spiel von Licht und Schatten, das dann zusätzlich noch inhaltliche Bedeutung bekommt, denn Cartier-Bresson ging es weniger um Abstraktion als um Fotografien mit einer starken Aussage. Aber allen gegenständlichen Fotografien liegt eine abstrakte Kompositionsstruktur zugrunde, und die muss stimmig und spannungsvoll sein, damit ein Bild kraftvoll rüberkommt. Was es genau bedeutet, ein gutes Bild zu komponieren, erfahren Sie im dritten Teil dieses Buches.

      Hier lautet der Auftrag für Sie aber erst einmal, besonders grafische Fotos zu komponieren. Wählen Sie also bitte einen Sonnentag, gehen Sie in die nächste Stadt, und gestalten Sie mit Licht und Schatten. Beobachten Sie besonders das Schattenspiel aller Gegenstände, der Architektur, aber auch der Menschen. Begeben Sie sich z. B. auf einen belebten Bürgersteig und wählen Sie Ihre Position so, dass Ihnen die Passanten entweder bei Gegenlicht entgegenkommen oder dass ihre Schatten seitlich fallen. Nun richten Sie Ihren Blick nach unten und fotografieren Sie die Schattenspiele, die die Ihnen entgegenkommenden Menschen auf den Boden werfen. Nachdem Sie hier viele Fotos geschossen haben, gehen Sie weiter bei Gegenlicht spazieren und lassen sich treiben. Achten Sie besonders darauf, wie das Gegenlicht fast alle Gegenstände verfremdet und neue grafische Welten erschafft, die Sie mit Ihrer Kamera in Schwarzweiß umdenken und gestalten können. Lernen Sie, von Anfang an in Schwarzweiß zu sehen, und lassen Sie sich nicht von den vielen Farben ablenken. Wenn Sie lernen, grafisch zu denken und zu gestalten, sind Sie dem Wesen der Schwarzweißfotografie am nächsten.

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       Dieses Bild ist Ausdruck meiner Empfehlung, bei Gegenlicht durch die Stadt zu laufen und auf die Schatten der Passanten zu achten. Hier kommt zum Schatten der Passanten noch eine interessante Struktur im Pflaster hinzu, die das Bild zu einem grafischen Ganzen macht.

      28 mm, Blende 11, 1/250 Sekunde

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       Bei diesem Bild herrscht dasselbe Lichtprinzip, aber das Sujet ist viel schwieriger, denn es handelt sich um zwei Kinder in einem kleinen Dorf in Indien, die rasend schnell ein so einfaches Spielzeug wie einen Gummireifen an mir vorbeijonglieren. Um dieses perfekt komponierte Bild zu erhalten, bedurfte es mehrerer Versuche. Die Kinder hatten so viel Freude, dass sie bereit waren, mehrfach mit ihren Gummireifen an mir vorüberzuziehen. Auch mir hat diese Situation in einem kleinen Dorf, in das sich wohl nie ein Tourist verirrte, viel Freude bereitet.

      20 mm (30 mm im Vollformat), Blende 6,3, 1/1250 Sekunde, ISO 400

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       Dieses Bild, das eine Straßenszene im indischen Jodhpur zeigt, veranschaulicht noch einmal, was ich meine: eine ganz banale Licht- und Schattensituation zu entdecken und


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