Die Magie der Schwarzweißfotografie. Torsten Andreas Hoffmann
Warum schwarzweiß fotografieren?
Auch hier haben wir es mit einem Zeitphänomen zu tun. Der weitaus größte Teil der Bilderflut findet in Farbe statt, und selbst bei Zeitschriften wie Merian oder Geo beobachte ich, dass die Regler für Kontrast und Farbsättigung meist ein wenig zu weit nach rechts geschoben werden: Die Farben wirken häufig zu grell und unnatürlich. Mancher Kollege hat dies schon optische Umweltverschmutzung genannt. Ist das ein Zeichen von Desensibilisierung? Sind die Sinne vieler Menschen heutzutage abgestumpft? Muss man deshalb immer dicker auftragen?
Eine Redakteurin sagte mir einmal, die Farbfotografie sei so geschwätzig. Nun, da ist etwas Wahres daran. Die Schwarzweißfotografie ist das Gegenteil, sie ist im positiven Sinne asketisch, sparsamer mit Sinnesreizen. Sie ist also geeignet, wieder zu sensibilisieren. Und sie ist per se schon eine Abstraktion, denn Farben werden in Tonwerte von Tiefschwarz bis Weiß übersetzt. Und diese Abstraktion macht die Schwarzweißfotografie in meinen Augen künstlerischer und damit interessanter als die Farbfotografie.
Leider hat die Schwarzweißfotografie Marktanteile verloren. Eine Geo-Redakteurin erklärte mir das damit, dass die Leser glauben, bei Schwarzweißbildern bekämen sie weniger für ihr Geld. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Bei Schwarzweißbildern bekommt man mehr für sein Geld, denn auch digital fotografierte Schwarzweißbilder müssen sorgfältig am Computer erarbeitet werden, und dafür muss der Fotograf bzw. die Fotografin mehr Zeit aufwenden als für die Erarbeitung eines Farbfotos. Wie man das am besten macht, schildere ich übrigens im letzten Teil dieses Buchs.
Schwarzweißfotografie entfaltet oft eine stärkere Magie als die Farbfotografie, besonders beim Himmel. Diese besondere Magie in Ihre Bilder zu bringen, ist die Kunst, die ich Sie lehren möchte.
Hauptsächlich möchte ich Sie mit meinen Texten und Bildern in diesem Buch anregen, Ihren eigenen Weg, Ihre eigenen Sujets und Ihre eigene Ausdrucksform zu finden, um zu entdecken, wie Sie diese Welt empfinden, und um Ihre Empfindungen in eine Bildsprache zu kleiden, die auch anderen Menschen etwas »rüberbringt«. Natürlich können Sie Ihre Bilder auch auf Facebook oder Instagram teilen, doch Ihre Motivation ist tiefer: Sie werden die Fotografie dazu nutzen, hinter die Oberfläche zu schauen – hinter Ihre eigene, hinter die Ihrer Mitmenschen und hinter die der Welt, in der Sie sich bewegen. Dabei wünsche ich Ihnen viel Freude und neue Erkenntnisse!
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SCHWARZWEISSFOTOGRAFIE ALS AUSDRUCKSMITTEL
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Befreien Sie sich von Klischeebildern und finden Sie Ihren eigenen Ausdruck
Dass die Welt von Klischeebildern überschwemmt wird, wissen wir. Es ist deshalb so, weil die meisten Menschen gar nicht über das reflektieren, was sie fotografieren. Ein Klischee ist ja schließlich eine Vorstellung von der Welt, die von anderen vorgegeben wird. Ein Klischee ist vielleicht so etwas wie eine grobe Schablone, die über die unglaublich vielfältige Wirklichkeit gelegt wird. Doch wer gibt diese Schablone eigentlich vor? Wer sagt uns, was fotografierenswert ist und was nicht? Sie sehen schon jetzt, wie wichtig es ist, sich von dem zu befreien, was andere denken und vorgeben.
Ich muss selbst auch immer wieder Klischeebilder produzieren, da ich auch für Kalender fotografiere, und auf Kalender gehören nun mal die Klischeebilder, die jeder erwartet, sonst verkaufen sie sich nicht. In der Wüste sind das vor allem Sanddünen mit Kamelen im frühen Morgenlicht – auch wenn die Sahara nur zu einem relativ geringen Prozentsatz aus Sanddünen besteht. In New York sind es die Freiheitsstatue und die Brooklyn Bridge, Orte, zu denen ich kaum noch gehe, weil sie durch das Massenverhalten, das ich in der Einleitung geschildert habe, entweiht worden sind. Wie also soll man sich von Klischees befreien? Zunächst einmal ist es wichtig, grundsätzlich zu reflektieren und in sich zu gehen. Welche Orte ziehen Sie wirklich an? Wo möchten Sie unbedingt hin? Welche Orte und Sujets üben in Ihrer Vorstellung eine wirkliche Magie aus?
Nehmen Sie sich bitte einmal richtig Zeit, entspannen Sie sich und reflektieren Sie darüber. Was taucht vor Ihrem geistigen Auge auf, was sind die Orte Ihrer Sehnsucht? Diese Orte müssen nicht, dürfen aber weit entfernt liegen.
Welche Qualität hat Ihre Sehnsucht? Was tragen diese Orte zu dem bei, das Ihnen in Ihrem Alltag womöglich fehlt?
Mich zieht es z. B. zum Entspannen an ganz andere Orte als zum Fotografieren. Zum Entspannen liebe ich das Meer. Ich sehne mich nach stillen, einsamen Stränden und harmonischen Orten mit südlichem Flair. Aber auch diese Orte müssen gar nicht sensationell sein, es kann auch ein Strand am Rhein sein, in dem man heute wieder baden kann. Für die Fotografie zieht es mich dagegen immer wieder an Orte, an denen alles so entgegengesetzt zu meinem Alltag ist wie nur denkbar. Schon als ich ganz jung war, zog es mich nach Indien. Noch heute ist Mumbai für mich die interessanteste Stadt, die ich kenne. Ich liebe Orte, an denen die Spuren der Zeit noch sichtbar sind, an denen authentisches Leben stattfindet und von denen ich überrascht werde, weil oft jede Planung durch Unvorhergesehenes durchkreuzt wird. Und ich liebe Orte, an denen ich Abgründiges finde.
Ich schaue gern in Abgründe, denn Abgründe enthüllen mir etwas Verborgenes, das unter einer Oberfläche lauert oder hinter einer Fassade zutage tritt.
In Deutschland finde ich das sehr schwierig. Alle Fassaden sind glatt und gestrichen. Wo ist die Verbindung in die Vergangenheit? Ist die Geschichte noch wirklich spürbar?
Auch hinter die Fassaden von Menschen gelangt man hierzulande schwieriger als beispielsweise in Italien oder in Indien, wo viele Menschen einem schon bei einer kurzen Begegnung das erzählen, was wirklich ihre Seele bewegt.
Denken wir über Klischees nach, sollten wir uns noch etwas anderes vergegenwärtigen. Das, was wir über die Welt in unserem Kopf tragen, unser Weltbild, ist nicht ansatzweise deckungsgleich mit der Wirklichkeit. Unser Weltbild entsteht aus erlerntem Wissen und im besseren Fall aus Erfahrungen oder aus der Summe von beidem. Auch das, was wir über einen Ort zu wissen glauben, denken wir in Begriffen, in Sprache, und dieses vermeintliche Wissen stellt sich oft einer unmittelbaren Erfahrung beim Sehen oder Fotografieren in den Weg. In dem Moment, wo wir über einen Ort schon etwas zu wissen glauben und dieses Wissen reflektieren, steigen wir mit unserem Geist aus dem unmittelbaren Betrachten aus. Der beste Weg aber, um sich von allen Klischees zu befreien, ist das unmittelbare, unvoreingenommene Betrachten der Wirklichkeit. Und genau hier bekommt die Fotografie wieder Tiefe und wird zum echten Erleben: Wenn es uns gelingt, uns zumindest für eine Weile vom begrifflichen Denken über das, was wir sehen, zu lösen und den Geist leer und unvoreingenommen werden lassen, dann sehen wir unmittelbar und geraten in eine neue Qualität des Erlebens.
Bei dieser Qualität des unmittelbaren Erlebens stört auch die Kamera nicht. Sie ist im Gegenteil geeignet, den Geist auf den gegenwärtigen Moment zu richten und somit kreativ zu sein und dabei eine hohe Erlebnisqualität zu behalten. Um sich von Klischees zu befreien, empfehle ich Ihnen also zweierlei:
– Suchen Sie Orte auf, zu denen es Sie wirklich hinzieht, die Ihre Orte sind.
Befreien Sie Ihren Geist von Klischeevorstellungen über den Ort.
– Steigen Sie aus der Begrifflichkeit aus, die mit diesem Ort verbunden ist, und tauchen Sie ohne störende Gedanken mit Ihrer Kamera in den unmittelbaren Moment ein.
Ich bin sicher, Sie werden sich selbst überraschen und Ergebnisse mit nach Hause bringen, mit denen Sie nicht gerechnet haben.
Venedig gilt als die schönste Stadt der Welt. Aber auch bei solchen Vorgaben ist es wichtig, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Ich liebe Venedig vor allem deshalb, weil die Spuren der Zeit an den meisten der wunderschönen Häuser noch abzulesen sind. Ist man in Venedig, so kann man natürlich auch einmal ein paar Klischeebilder schießen. Hier handelt es sich um den Blick auf St. Giorgio Maggiore – und dies bei Vollmond. Abends sind