Petrus Canisius. Mathias Moosbrugger
Canisius mit seiner tiefreligiösen, geradezu mystischen Innerlichkeit angesichts seiner Hyperaktivität als Organisator in Ordensangelegenheiten und als religiöser und religionspolitischer Berater von Kaisern, Päpsten und Bischöfen nicht aus den Augen zu verlieren.
Glücklicherweise kann man sich bei der Suche nach dem Menschen Petrus Canisius auf eine kleine, aber sehr feine historische Canisius-Forschung stützen, die quasi unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung seit vielen Jahren konsequent gearbeitet hat. Wobei klein gerade für die Anfangsphase nicht wirklich zutrifft: Tatsächlich sind im ausgehenden 19. und bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus im Gefolge seiner Selig- und Heiligsprechung die relevanten Quellen, nicht zuletzt seine umfangreiche Korrespondenz, zu einem großen Teil in einem geschichtswissenschaftlichen Kraftakt, der seinesgleichen sucht, in vorbildlichen kritischen Editionen erfasst und zum Teil auch bereits in gewichtigen Studien verarbeitet worden.17 Einige dieser Studien sind bis heute unübertroffen geblieben.18 Diese altehrwürdige, nicht selten allerdings etwas hagiographisch angehauchte frühe Forschungstradition, die im Umfeld der Gesellschaft Jesu von einigen wichtigen Forschern äußerst verdienstvoll weiterentwickelt worden ist,19 hat in jüngster Zeit sehr davon profitiert, dass die frühe Geschichte des 1540 gegründeten Jesuitenordens in ganz neuer Intensität das Interesse der Frühneuzeithistoriker auf sich gezogen hat. Das hat zu höchst innovativen kleineren und größeren Untersuchungen geführt, die zwar das spirituelle Selbstverständnis der Gesellschaft Jesu mehr denn je als tieferen Grund ihrer massiven historischen Bedeutung betonen, dabei aber bewusst auf jede fromme Übermalung verzichten.20 Petrus Canisius, der im 16. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum geradezu als Verkörperung des jungen Jesuitenordens galt, kann auf dem Hintergrund dieser Neujustierung der frühneuzeitlichen Jesuitenforschung in ein ganz neues Licht gerückt und als historische Figur spannender und facettenreicher gezeichnet werden denn je.21
Auf den eindrucksvollen Leistungen aus der Frühzeit der kritischen Canisius-Forschung, aber nicht zuletzt auch auf dem neuen historischen Blick auf die ersten Jesuiten baut dieses Buch auf. Sein zentrales Ergebnis kann gleich am Beginn vorweggenommen werden: Petrus Canisius war in seinem ganzen Leben ein Wanderer zwischen den Welten. Das ist zuerst einmal wortwörtlich gemeint: Er hat Europa von Sizilien bis Osnabrück und vom schweizerischen Freiburg bis Warschau durchwandert und dabei im Auftrag von Päpsten, Fürsten und Ordensoberen zigtausende Kilometer zurückgelegt. Es ist berechnet worden, dass er während seines geschäftigsten Lebensabschnitts von etwa 1550 bis etwa 1570 im Durchschnitt etwa 2000 Kilometer pro Jahr zurückgelegt hat. Als Gesamtbilanz seiner Wanderungen stehen nach vorsichtigen Schätzungen an die 100.000 Kilometer zu Buche. Kein Wunder, dass in seiner niederländischen Heimatstadt Nimwegen als Erinnerung an ihn bis heute ein vom vielen Wandern zerschlissenes Paar Schuhe aufbewahrt worden ist. – Er ist aber auch im übertragenen Sinne ständig zwischen verschiedenen Welten hin- und hergewandert: Zwischen der Welt der hohen Politik und der Welt der kleinen Leute; zwischen der Welt der Päpste und der Welt der Landpfarrer; zwischen der Welt der Universitäten und der Welt der unbedeutenden Dorfschulen; zwischen der Welt der mystisch-innerlichen Frömmigkeit und der Welt der knallharten Religionspolitik; vor allem aber zwischen der Welt der althergebrachten kirchlichen Traditionen, die für ihn so wertvoll waren, und der Welt der religiösen Aufbrüche im Reformationsjahrhundert, die ihn so massiv herausforderten.
Die Wiederbelebung der darniederliegenden katholischen Kirche war nach seiner Überzeugung der einzige Weg, auf dem das Auseinanderfallen dieser sich im 16. Jahrhundert zusehends voneinander entfremdenden Welten verhindert werden konnte: Nur die katholische Kirche konnte die alte kirchliche Tradition mit den weißglühenden religiösen Bedürfnissen der Gegenwart verbinden; zu diesem Zweck hat Petrus Canisius wichtige Texte der antiken Kirchenväter als religiöse Mahnschriften für seine Zeitgenossen neu herausgebracht. Nur die katholische Kirche konnte die immer stärker auseinanderfallenden kulturellen Räume des italienischen Südens und des deutschen Nordens zusammenhalten;22 zu diesem Zweck hat sich Petrus Canisius in Deutschland unablässig für Rom und in Rom unablässig für Deutschland eingesetzt. Und nur die katholische Kirche konnte zwischen dem in der Entdeckungszeit wachsenden globalen Anspruch des Christentums und den religiösen Bedürfnissen vor Ort bei den einzelnen Gläubigen vermitteln; zu diesem Zweck hat er sich auf dem ökumenischen Konzil von Trient genauso engagiert wie als Prediger auf der Domkanzel in Augsburg oder als Exerzitienmeister und spiritueller Ratgeber an praktisch allen Orten, an denen er je gewirkt hat.
Aufgrund dieser tiefen Überzeugung von der einzigartigen Bedeutung der katholischen Kirche ist er im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ohne Pause als Botschafter der Erneuerung dieser Kirche unterwegs gewesen. Er hat so versucht, quasi als Verkörperung der kirchlichen Berufung zum Brückenbauen zwischen den immer stärker auseinanderdriftenden geistigen, kulturellen und religiösen Welten, tragfähige Verbindungen herzustellen. Er hat dabei Bemerkenswertes geleistet. Man muss aber auch ganz unumwunden feststellen: Oft genug ist er damit gescheitert. Gerade in den religiös aufgeladenen Konflikten in Deutschland hat er selbst fatalerweise bei etlichen Gelegenheiten nicht unerheblich dazu beigetragen, dass es zwischen der protestantischen und der katholischen Welt über Jahrhunderte hinweg zu einer nachhaltigen Entfremdung gekommen ist. Er war bei aller geographischen und geistigen Beweglichkeit immer auch ein Kind einer in Religionsdingen zum Teil geradezu hysterischen Welt. Seinen unrühmlichsten Ausdruck hat diese religiöse Hysterie bei ihm in seiner berühmt-berüchtigten Verteidigung der im 16. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum immer massiveren Hexenverfolgung gefunden. Er hat mit seinen Wortmeldungen und seinem Hang zum Dämonenglauben zur Verschärfung einer ohnehin bereits äußerst verschärften Situation beigetragen. – Dennoch: Man versteht ihn am besten nicht von diesen bedauerlichen Extremen her, sondern von der grundlegenden Dynamik, von der sein Leben geprägt war: Vom unablässigen Wandern zwischen den politischen, kulturellen und geistigen Welten seiner Zeit, die sich fatalerweise immer mehr voneinander entfremdeten und dabei Verwerfungslinien aufrissen und an denen Europa – und die Welt – über Jahrhunderte hinweg gelitten hat und teilweise bis heute leidet. Petrus Canisius erfüllte so mit seiner ganzen Existenz das spirituelle Idealbild eines Jesuiten, der sich nach einer berühmten Kurzformel seines Zeitgenossen und Mitbruders Jerónimo Nadal erst dann so richtig zuhause fühlt, wenn er unterwegs ist.23
Und wer weiß: Vielleicht kann gerade ein Blick in das bewegte Leben von Petrus Canisius dabei helfen, uns am Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends die höchst faszinierende, aber oft nur schwer zugängliche Welt der frühen Neuzeit mit ihrem kaum zu bändigenden religiösen Eifer etwas näherzubringen. Vielleicht ist er auch ein Wanderer zwischen der Welt von damals und der Welt von heute.
Nimwegen: Der junge Peter Kanis und sein Blick in die Zukunft
Der Bub, der auf dem linken Flügel des Nimwegener Renaissance-Flügelaltars vom Ende der 1520er Jahre hinter seinem Vater kniet und betet, blickt unter seinem Pagenschnitt etwas versonnen in die Welt hinein. Als Betrachter fragt man sich unwillkürlich, woran er wohl denkt. Nachzudenken gäbe es für ihn genug: Der 1521 geborene Peter Kanis ist noch keine zehn Jahre alt, aber er hat in seiner überschaubaren Vergangenheit schon einiges erlebt, das einen ins Grübeln bringen könnte.24 Vor allem: Seine Mutter Jelis van Houweningen ist erst vor Kurzem gestorben und hat ihn und seine jüngeren Schwestern Wendelina und Philippa als Halbwaisen zurückgelassen. Sie ist auf dem gegenüberliegenden rechten Flügel des Altars mit ihren insgesamt sechs Töchtern abgebildet, von denen fünf – inklusive Philippa – früh gestorben sind. Dass ihr einziger Sohn später zu einem besonders eifrigen Marienverehrer geworden ist, der sich am Ende eines dicken Buches über Maria direkt an die Gottesmutter wendet und darum bittet, „dass mein Name nicht etwa in die Liste deiner Freunde oder Söhne, aber doch wenigstens deiner kleinen Schützlinge und Diener hineingeschrieben werde“25, ist von einer intimen Kennerin seines Lebens psychologisch mit diesem frühen Verlust der leiblichen Mutter erklärt worden.26
Aber nicht nur Peter, auch sein Vater Jacob Kanis musste mit diesem harten Verlust umgehen. Er tat es so, wie man es sich damals von einem gutsituierten Bürger erwartete: Zuerst gab er den Flügelaltar mit den Abbildungen seiner Familie auf dem linken und rechten Flügel und