Deutschland und die Migration. Maria Alexopoulou

Deutschland und die Migration - Maria Alexopoulou


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nur mindere Arbeit verrichten sollten. Denn sie hätten sich etwa bei den Getreidearbeiten nicht bewährt, zumal »der Getreideanbau die kulturell höchststehende Kategorie von Arbeitern verlangt«.11

      Doch auch die Italiener, die den Polen als überlegen galten, wurden als »wilde Barbaren« angesehen, die »unversehens mit dem Messer zustechen« – zumindest soll so die Ulmer Bevölkerung im Jahre 1910 die italienischen Wanderarbeiter in ihrer Stadt wahrgenommen haben.12 Letztlich wurden also beide Gruppen, genau wie Tschechen und Kroaten, die auch als Arbeitsmigrant*innen präsent waren, als »minderwertige Ausländer« betrachtet. Österreicher, Niederländer oder Franzosen hatten ein besseres Ansehen, was sich auch in ihrem rechtlichen Status und letztlich in ihren höheren Einbürgerungsquoten widerspiegelte.

      Den meisten Restriktionen unterlagen jedoch die polnischen Arbeiter*innen, die kaum räumliche Freizügigkeit genossen und ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen, wechseln oder ohne Zustimmung des Arbeitgebers verlassen durften. Zudem mussten sie die Karenzzeit in den Wintermonaten einhalten, also Deutschland jedes Jahr vom 20. Dezember bis 1. Februar verlassen. Da sie auf den guten Willen ihres Arbeitgebers, der sie jederzeit entlassen konnte, angewiesen waren, konnten sie auch viel leichter ausgebeutet werden als mobile Arbeiter*innen, die bei schlechten Bedingungen einfach den Arbeitsplatz wechseln konnten.

      Kontrolliert wurden diese Maßnahmen durch die örtliche Polizei und weitere Behörden, denen alle ausländischen Arbeitnehmer*innen auf Verlangen ihre Arbeiterlegitimationskarte vorzeigen mussten, zumal sie seit 1909 dem Legitimationszwang unterlagen: Traf man sie ohne die notwendige Legitimationskarte an, wurden sie abgeschoben. Da sie diese Legitimationskarte brauchten, mussten sie bei den Grenzstationen der Deutschen Arbeitszentrale einreisen. Die Grenzstationen stellten die Karten aus und regulierten, welche Gruppen überhaupt zugelassen wurden. So wurden Jüdinnen und Juden aus dem Osten zeitweilig keine Legitimationskarten ausgehändigt. Dennoch arbeiteten 1914 auch rund 50 000 osteuropäische Jüdinnen und Juden im Kaiserreich, wobei es in manchen Regionen, etwa in Preußen, Bayern und Bremen, vor allem bei dieser Migrant*innengruppe immer wieder zu größeren Ausweisungsaktionen kam. Gehen mussten die Jüdinnen und Juden allein aufgrund ihrer Herkunft, nicht aufgrund von individuellem Fehlverhalten.

      In den Akten hat die Historikerin Christiane Reinecke allerdings auch immer wieder Protestbriefe von Betroffenen gegen diese Praktiken gefunden. Zudem scheinen viele sich den lokalen Behörden entzogen zu haben.13 Darüber hinaus gab es ohnehin Möglichkeiten, die staatlichen Kontrollen insgesamt zu umgehen oder Legitimationskarten zu fälschen. Dennoch hatte das Deutsche Kaiserreich bereits vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges eines der weltweit effizientesten Migrationskontrollsysteme aufgebaut. Dass dieses System die ausländischen Arbeitnehmer*innen je nach Herkunft unterschiedlich behandelte, ging für die Gruppen und letztlich die einzelnen Individuen in der Regel mit schlechteren Lebenschancen einher. Und auch ihre gesellschaftliche Wahrnehmung entsprach den Hierarchien. Wie das die Betroffenen auf den unteren Hierarchiestufen selbst empfunden haben mögen, fasste eine zeitgenössische Erzählung in diesen Worten zusammen:

      Alljährlich sieht man dich kommen zur Zeit der Schneeschmelze, zu Zehntausenden, Hunderttausenden. Bescheiden und etwas ängstlich.

      […]

      Recht- und schutzlos bist du hier, von niemand gern gesehen, als notwendiges Übel betrachtet. Einem Paria gleich. Höhnisch ruft dir der Gassenbube nach ›Polak‹, und selbst der Bettelmann rümpft die Nase.14

      Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913

      Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das bis 1999 gültig blieb, bedeutete nicht nur die Nationalisierung und damit die Vereinheitlichung des Staatsangehörigkeitsrechts in den deutschen Bundesstaaten, sondern es war auch ein Sieg für den Alldeutschen Verband und die völkische Bewegung. Denn das neue Gesetz »verwirklichte das Ius-sanguinis-Prinzip in Reinform«. Mit ihm wurde die Abstammung zum Regelfall für die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit – das ius soli, das die Staatsangehörigkeit im Fall der Geburt auf dem Staatsterritorium gewährt und das es als Rechtselement in einzelnen Bundesstaaten noch gegeben hatte, wurde dadurch ausgelöscht.1

      Das Ziel, das die immer stärker werdende völkische Bewegung seit Jahrzehnten auch gegen den anfänglichen Widerspruch vieler Fachjuristen und der liberalen Presse verfolgt hatte, war erreicht. Nun lag ein Gesetz vor, das ihren Vorstellungen von der Überlappung deutscher Staatsangehörigkeit mit ›deutschem Blut‹, ›Deutschstämmigkeit‹ und ›deutschem Volkstum‹ entsprach und mit dessen Hilfe ›Volksfremde‹ künftig leichter ausgeschlossen werden konnten. Die völkisch-rassische Ausrichtung war zwar nicht explizit ins neue Staatsangehörigkeitsrecht eingeschrieben worden, sprach aber aus den Reichstagsdebatten, die dazu geführt hatten, sowie aus dem Wortlaut der geheimen Verordnungen, die zu seiner konkreten Anwendung erlassen wurden.

      Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Fragen der individuellen wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung in die Gemeinde noch die wichtigere Rolle bei der Entscheidung der lokalen Behörde gespielt, eine Einbürgerung einzuleiten, doch seitdem waren vermeintliche Gruppenmerkmale immer bedeutsamer geworden. Das neue Gesetz sanktionierte diesen Trend, und die Einbürgerungspraxis, die seither verfolgt wurde, bekräftigte ihn noch: Die Abstammung wurde zum entscheidenden Kriterium. Das hatte zur Folge, dass die Einbürgerung für osteuropäische und jüdische Antragsteller*innen immer schwieriger wurde, bis Letztere ab 1933 bzw. 1935 gar nicht mehr ein-, sondern ausgebürgert wurden.

      Das neue Gesetz betraf auch die Bevölkerung der deutschen Kolonien. »Mischehen« waren im »Schutzgebiet« ohnehin nicht gern gesehen und nur halblegal. Im Reich selbst, wo sie sehr selten vorkamen, galten sie vor allem, wenn eine weiße Frau einen Schwarzen heiratete oder heiraten wollte, als »Rassenschmach«. Welche Staatsangehörigkeit der nichtdeutsche Ehepartner oder die Ehepartnerin eigentlich hatte, war allerdings lange nicht klar geregelt, ebenso wenig wie jene ihrer Kinder, der sogenannten »Mulatten«. Eine Verordnung von 1913 schrieb fest, dass das neue Staats- und Reichsangehörigkeitsrecht auf »Mischehen und Mischlinge« keine Anwendung finde. Das bedeutete, dass in diesem Fall trotz der Patrilinearität, die im Gesetz festgeschrieben war, der ›deutschstämmige‹ Vater die deutsche Staatsangehörigkeit nicht an sein Kind vererbte. Parallel dazu wurden im Reichskolonialamt weitere Verordnungen erarbeitet, die einen regelrechten »Rassestaat« in den »Schutzgebieten« etabliert hätten. Diese Planungen vereitelte jedoch der Erste Weltkrieg, der den Verlust des Kolonialreichs nach sich zog.2

      Trotz allem waren in Deutschland angesichts des regen Migrationsgeschehens vor dem Ersten Weltkrieg und dann noch in der Weimarer Republik Ermessenseinbürgerungen recht häufig. Die Einbürgerungsquote lag mit etwa zwei Prozent – das bedeutet, dass in diesem Jahr zwei Prozent aller Ausländer naturalisiert wurden – jedenfalls höher als in der späteren Bundesrepublik. Gleichzeitig aber überformte das grassierende rassistische Wissen den gesamten Einbürgerungskomplex insofern, als dass die Herkunft und deren vermeintlicher Wert zunehmend zum entscheidenden Kriterium dafür wurden, ob jemand als Deutscher anerkannt wurde. ›Deutschstämmigkeit‹, später ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ und die völkisch-kulturell-biologische Nähe zum ›Deutschtum‹ entwickelten sich zur Norm, die für Einbürgerungen angelegt wurde – und das galt in graduellen Abstufungen noch bis 1999.

      Das Gesetz von 1913 gab zwar nicht direkt den Weg zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 vor; doch es war das rechtliche Pendant zum Konzept der deutschen »Volksgemeinschaft«, das schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges erstmals Konjunktur hatte. In der Weimarer Republik wurde das Konzept der »Volksgemeinschaft« weiter konkretisiert, im »Dritten Reich« erlebte es seine Hochzeit, und auch nach 1945 sollte es nicht völlig verschwinden.

      Die erste Zwangsarbeit

      Ohne den Einsatz der etwa drei Millionen ausländischen Arbeitskräfte wäre die deutsche »Heimatfront« während des Ersten Weltkrieges viel schneller zusammengebrochen, so der Migrationsforscher Klaus J. Bade.1 Sie alle leisteten zumindest zum Ende des Krieges hin Zwangsarbeit unter immer schwieriger werdenden Bedingungen: die Kriegsgefangenen, die aus Belgien und Russisch-Polen zur Zwangsarbeit Deportierten sowie die belgischen und russisch-polnischen


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