Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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sich der Atem zu Wolken. Er sah sie direkt an und watete durch das Schneemeer auf Hannah zu. Diese ließ die Schlittschuhe von den Schultern rutschen. Lange waren sie jetzt schon draußen in der Kälte gewesen. Zu lange. Den gesamten Nachmittag hatten sie beim Eislaufen am See verbracht.

      »Was ist los? Warum bleibst du stehen?«

      »Ich kann nicht mehr. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter.« In ihren Augen blitzte und trotzte es, und Hannah vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen. »Ich kann meine Fingerspitzen nicht mal mehr fühlen. Wir hätten schon viel eher umkehren müssen.« Vorwurfsvoll schob sie die Unterlippe nach vorne und blickte Jacob direkt in die Augen. Schuldgefühle schimmerten darin.

      »Wir hatten doch so viel Spaß«, begann er, um sich zu rechtfertigen, doch sie unterbrach ihn mit lautem Zähneklappern.

      »Ich will nach Hause. Sofort.« Hannahs Blick senkte sich auf ihre Schuhe. Das Mädchen bewegte die Fußspitzen auf und ab. Alles taub.

      »Wir haben es gleich geschafft.« Jacobs Stimme war plötzlich nah an ihrem Ohr. Samtweich wie der Flaum eines Kükens. Tatsächlich. In nicht allzuweiter Ferne war der Weidezaun auszumachen. Die Pfosten sahen aus, als hätten sie weiße Hauben auf.

      »Jetzt komm schon, Hannah. Es ist nur noch ein kleines Stück.« Seine Hand ruhte auf ihrem Rücken. Die beiden waren beinahe gleich groß, doch Jacobs lange Beine deuteten darauf hin, dass er noch ein gutes Stück wachsen würde. »Hier nimm.« Jacob hielt ihr seine Handschuhe dicht vors Gesicht, sodass ihr der Geruch von Leder in die Nase stieg. Er bückte sich, hob ihre Schlittschuhe auf und hängte sie sich zu seinem eigenen Paar über die Schulter. Dabei fiel ihr auf, dass auch seine Hände zitterten.

      »Weiter jetzt. Sonst frieren wir hier noch fest. Ich meine es wirklich ernst.«

      Jacob war ihr bester Freund seit Kindertagen. Sie hatten zusammen laufen gelernt, Sandburgen gebaut, waren um die Wette gerannt. Er hatte ihr beigebracht, wie man Kirschkerne spuckte, später wie man auf die höchsten Bäume kletterte und im Wald Fährten las. Sie hatten zusammen Streiche ausgeheckt, und Jacob hatte dabei die Schuld stets auf sich genommen, damit sie ohne Ärger davonkam. Es war für die Erwachsenen ohnehin immer schwer zu glauben, dass hinter Hannahs lieblichem Puppengesicht mit den blauen Augen und den blonden Haaren der Schalk schlummerte. Seit zwölf Jahren waren sie unzertrennlich.

      Endlich löste sich Hannah aus ihrer Starre. Schritt für Schritt. Immer weitergehen. In der Ferne erkannte man die Umrisse der Häuser. Aus den Fenstern dämmerte Licht. Von hier waren sie winzig wie Stecknadelköpfe. Hannah entfuhr ein erleichterter Seufzer, als sie endlich die Allee der Obstbäume erreichten, die die Zufahrt zu ihrem Haus säumten.

      Das große Gutshaus war seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Rechts und links vom Eingangstor thronten steinerne Löwen. Dichter Efeu kletterte an den Hausmauern empor und klammerte sich ganz oben an die Dachbalken. Mit einem Quietschen schwang das Eisentor auf. Unter dem Schnee knirschte der Kies, als Hannah und Jacob über die Einfahrt liefen. Wahrscheinlich hatte sich ihr Vater schon Sorgen gemacht, wo sie so lange blieb. Sie hasste es, ihn in Unruhe zu versetzen.

      Am Fenster ein Schatten, wahrscheinlich Sofia. Als junge Frau war sie aus Russland gekommen, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Sofia sorgte dafür, dass die Böden glänzten, die Federbetten nach Frühling dufteten, dass am Sonntag ein Kuchen auf dem Tisch stand. Sofia erledigte die Einkäufe, kümmerte sich um den Kräutergarten und die Rosenbüsche ihrer Mutter. Trotz der täglichen Anforderungen, die der Haushalt bereithielt, wirkte sie nie angestrengt oder überlastet. Stets fand sie freundliche Worte. Für Hannah war sie alterslos. Obwohl ihre Haut an die Rinde des Kastanienbaumes im Garten erinnerte, waren ihre Stimme und ihr Lachen mädchenhaft jung, genau wie ihre Gestalt. Wenn Sofia saß, dann aufrecht, mit geradem Rücken.

      Als Hannahs Fuß die erste Treppenstufe erreicht hatte, riss Sofia die Haustür auf.

      »Schnell. Schnell. Reinkommen. Ist zu kalt. Mussen frieren.« Besorgt strich sie Hannah über die Wangen. »Mussen leise sein. Familie hören Radio«, flüsterte sie und hielt den Zeigefinger an die Lippen. Sie nahm Hannah und Jacob die Mäntel ab. Die beiden warfen sich einen verwunderten Blick zu. Hannah hatte sich so sehr aufs Heimkommen gefreut, wollte von ihrem Tag erzählen, doch keiner schien auch nur bemerkt zu haben, dass sie erst in der Dämmerung nach Hause gekommen war.

      »Ist Hitler«, raunte ihnen Sofia zu, als sie den Flur entlanggingen.

      Als sie das Wohnzimmer betrat, fiel Hannahs Blick zuerst auf ihren ältesten Bruder Hermann, der angestrengt lauschend am Kamin lehnte. Eines seiner Bücher lag noch geöffnet auf seinem Schoß. Vergessen. Er nahm sie nicht einmal wahr, als sie an ihm vorbeilief.

      Dr. Georg Sedlmayr, Hannahs Vater, polterte im Wohnzimmer auf und ab. Im Mundwinkel hing seine Pfeife. Das linke Bein zog er dabei etwas nach. Eine schwere Verletzung aus dem Krieg. Oft schmerzte ihn das Bein so sehr, dass er sich in unbeobachteten Momenten setzen musste, doch er beklagte sich nie. Seit vielen Jahren führte er in der Innenstadt eine eigene Arztpraxis. Urlaub war für ihn ein Unwort. Seine Pflicht war es, den Leuten zu helfen. Georg Sedlmayr war kein großer Mann. Er maß keine einsachtzig, doch die Art, wie er ging und beim Reden mit den Händen sprach, ließ ihn viel größer erscheinen. Auf seiner Stirn bemerkte Hannah eine tiefe Zornesfalte. Sofort ging ihr Atem unwillkürlich schneller. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Aufgebracht. Wütend.

      »Hindenburg hat Hitler zum Reichskanzler ernannt«, sagte Hannahs Mutter, um die Frage zu klären, die ihr auf der Zunge brannte. »Was bedeutet das? Reichskanzler?«

      Aus dem Radio brach eine tobende Stimme hervor: »Unendlich ist die Kolonne der heranrückenden Freiheitskämpfer, auf deren braunen Hemden der Fackelschein gespenstisch hin und her huscht«, tönte der Sprecher.

      Braune Hemden? Freiheitskämpfer? Hannah hatte davon schon gehört, genauso wie der Name »Hitler« in aller Munde war. Sein Gesicht zierte sämtliche Zeitungen: Braune Haare. Stechend blaue Augen. Der charakteristische Oberlippenbart. Von Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihren zwei Brüdern wusste sie, dass er der NSDAP angehörte. In der Schule, auf den Straßen, beim Einkaufen hörte man die Leute reden. Hitler sei der Mann für Deutschland.

      Hannah sah von einem zum anderen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch Jacobs Eltern, Hans und Sarah Sternlicht, auf dem grünen Samtsofa saßen. Rechts und links von ihnen seine Brüder. Der vierzehnjährige Simon war groß gewachsen für sein Alter. Breitschultrig und stark wie ein Bär. Keiner konnte ihm beim Armdrücken das Wasser reichen. Simon und Karl, Hannahs anderer Bruder, besuchten dieselbe Klasse. Beim genaueren Beobachten fiel Hannah auf, dass bereits Bartstoppeln an Simons Kinn sprossen. Der neunjährige Levi war das Nesthäkchen der Familie. Sein Mund war halb geöffnet, und auch er horchte konzentriert. Jedes Wort saugte er auf wie ein trockener Schwamm. Auf seinen farblosen Wangen drängten sich so viele Sommersprossen wie Sterne am Himmelszelt und sein rotes Haar leuchtete. Hannah hatte Levi fest ins Herz geschlossen. Er war wie der kleine Bruder für sie, den sie selbst nicht hatte.

      »Über zehn Jahre hat die NSDAP auf den Machtwechsel hingearbeitet. Jetzt ist es ihnen endlich gelungen, die Macht an sich zu reißen!«, grollte die Bassstimme ihres Vaters, aber heute blieb der sonst freundliche Klang fern. Hannah ließ sich auf einen der Holzstühle sinken und zwirbelte ihre zu zwei langen Zöpfen geflochtenen Haare.

      »Fackelzüge!«, stieß Georg Sedlmayr verächtlich aus. »Hitler gewinnt immer mehr und mehr Anhänger. Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen könnte!« Hannah erschrak über die ungewohnte Wortwahl ihres Vaters. So sehr er sich gerade aufplusterte wie ein Kampfhahn, sie wusste, dass er das weichste Herz verbarg. Kein Kätzchen konnte er miauen hören, kein Kind weinen. Vor ihr stand ein Fremder, der ihr mit seinem Auftreten Angst machte.

      »Hitler als Reichskanzler. Dass ich nicht lache! Hindenburg hat jeglichen Respekt verloren. Dieser dämliche alte Ziegenbock!«

      Energisch griff er nach dem Gehstock, der zumeist in der Ecke lehnte, da er sich weigerte ihn zu benutzen. »Eins sag ich dir, Hans!«, donnerte Georg Sedlmayr und zeigte mit der Spitze des Stockes auf das Radio. »Dieser Mann ist gefährlich.«

      »Wir können jetzt erst einmal nur


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