Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner
und einzelne Szenen hatten sie detailliert bearbeitet.
»Legt die alten Schinken weg«, flötete Seibt und fummelte an seinem Monokel herum.
Ein Raunen ging durch den Klassenraum, dennoch packten alle ihren Faust in den Lederranzen. Der kleine, hagere Mann zog ein anderes Buch aus seiner Tasche und hielt es nach oben, sodass jeder es sehen konnte. Mein Kampf. Hitlers Werk. Hannah hatte ihre Eltern darüber reden hören und natürlich hatte es Hermann bereits verschlungen. Wie jedes Buch, das ihm in die Hände fiel.
»Das wird in nächster Zeit unsere Lektüre sein. Wir erfahren viel über das Leben Adolf Hitlers. Über seine Überzeugungen und seine Vorstellungen. Das müssen wir auch, da ihr anständige deutsche Bürger werden wollt.«
Seibt räusperte sich und begann zu lesen. Wort für Wort ging er die ersten Passagen des Buches durch, blätterte und blätterte, während sich die Kinder in ihren Stühlen zurücklehnten, lauschten, flüsterten, staunten. Je mehr der Lehrer las, desto klarer nahmen Hitlers Gedanken Gestalt an, und Hannah merkte, wie auch sie an Seibts Lippen hing.
Ein Anruf in den frühen Morgenstunden. Das schrille Klingeln des Telefons hatte ihn aus dem Schlaf geschreckt. Bis nach Mitternacht war er wachgelegen und hatte darauf gewartet, dass Karl zurückkam. Als er den Schlüssel im Schloss vernommen und das Knarzen der Treppe unter den Füßen seines Sohnes gehört hatte, hatte er endlich einschlafen können. Das Donnerwetter musste bis zum nächsten Morgen warten.
Dr. Georg Sedlmayr setzte sich auf, darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken, die sich zur Seite drehte.
»Wer ruft denn um diese Zeit an?« Zu spät. Theresa richtete sich schlaftrunken auf. Zorn in ihrer Stimme.
»Schlaf ruhig weiter.« Dr. Sedlmayr schälte sich aus der Daunendecke und humpelte aus dem Zimmer. Nach dem Aufstehen pulsierte stets der Schmerz durch sein Bein und er krallte sich am Geländer fest, als er die Treppe nach unten ging. Dieses verdammte Knie.
»Sedlmayr«, raunte er in den Hörer.
»Herr Doktor? Kommen Sie schnell in Ihre Praxis. Ein Notfall.« Er kannte die Männerstimme am anderen Ende nicht, doch er hörte Panik heraus. Trotz der kurzen Nachricht war Georg Sedlmayr sich aufgrund der Dialektfärbung sicher, dass der Anrufer nicht aus Bayern kam. Was wollte ein Nordlicht um diese Uhrzeit in seiner Praxis?
»Was ist passiert?«, hakte er nach.
»Ein Notfall. Nun kommen Sie einfach.« Der andere legte auf.
Verwundert sah Dr. Sedlmayr auf den Hörer, aus dem nur noch ein Rauschen drang. Wer zum Teufel war das? So schnell es sein Bein erlaubte, zog er sich an und eilte zum Auto. Vor dem Tor musste er anhalten, austeigen und es öffnen. Der Weg war vereist und glatt. Die Fahrt würde volle Konzentration erfordern, deswegen war es von Vorteil, dass er die Strecke in die Stadt in- und auswendig kannte.
Als er auf den Parkplatz vor seiner Praxis einfuhr, sah er bereits zwei Gestalten an der Tür warten. Ein Mann in einem langen, dunklen Mantel stützte eine Frau, die den Kopf an seine Brust gelehnt hielt. Als Dr. Sedlmayr aus dem Auto stieg und auf das Paar zuhumpelte, drehte der Mann den Kopf zur Seite. Seine Gesichtsfarbe war fahl, beinahe etwas gelb. Er trug einen schwarzen Hut, den er zog, als er den Doktor begrüßte. Hellgrüne Augen stachen hervor. Augen wie gemähtes Gras. Die Pupillen groß und schwarz wie Einschusslöcher. Die arrogante Art, wie der Mann den Hut gezogen hatte und mit gerümpfter Nase sein verkrüppeltes Bein beäugte, wirkte auf Sedlmayr sofort unsympathisch. Er bereute, dass er aus dem Bett gestiegen war. Aber ging es nicht um die Frau?
»Herr Doktor, wie gut, dass Sie so schnell kommen konnten.« Der Mann streckte ihm mit einem Lächeln, das nicht die Augen erreichte, die Hand entgegen und drückte sie. Ein fester, ordentlicher Händedruck, den Georg Sedlmayr nicht von dem schlanken, beinahe zarten Mann erwartet hatte. Dennoch fühlte er sich nicht echt an, so als hätte er viele Male geübt, wie er die Hand des Gegenübers schütteln sollte. Seine Handflächen waren weich wie Butter. Wahrscheinlich hatte er im Norden noch nie eine Schaufel oder einen Besen benutzt. Ein Schreibtischtäter. Immer wieder waren ihm Leute wie er begegnet. In der Praxis. Im Leben. Sie hielten nichts von Wartezeiten, stellten sich über Bauern, Maurer und Schmiede. Sie hielten sich für etwas Besseres.
Die Augen des Mannes kamen ihm irgendwie bekannt vor. Aber woher? War er ihm womöglich schon einmal begegnet? Sedlmayr grub tief in seinen Erinnerungen. Unmöglich. Er hatte ein extrem gutes Gedächtnis, wenn es um Gesichter und Namen ging. Schreibtischtäter waren die schlimmste Sorte Mensch. Der Schmerz in seinem Bein erinnerte ihn wieder daran, dass er seine Verwundung auch einem Mann verdankte, der selbst noch nie Frontluft geschnuppert hatte. Er unterschrieb wichtige Dokumente und Befehle, entschied über das Leben und den Tod unzähliger Soldaten, schickte sie in die schlammigen Gräben, schickte neue Männer nach, wenn die alten abgeschossen worden waren wie Wachteln. Nein. Er durfte nicht an die dunkelste Zeit zurückdenken. Nicht jetzt.
Die Gesichtshaut des Fremden erinnerte an die eines Kindes. Glatt. Bartlos. Nicht einmal ansatzweise sprossen Bartstoppeln darauf. Aber es ging nicht um ihn.
Der Mund der Frau war vor Schmerz nur noch ein schmaler Strich, die Augen hielt sie geschlossen und immer wieder entschlüpfte ein Stöhnen ihren Lippen.
Der Doktor zog den Schlüssel der Praxis heraus und öffnete die Tür. »Bitte, kommen Sie herein.« Sofort führte er das junge Paar in den Behandlungsraum und half der Frau, auf der Liege Platz zu nehmen.
»Was ist passiert?«
»Sie ist gestern Abend in der Menge hingefallen und zahlreiche Menschen sind einfach über sie getrampelt wie eine Herde Elefanten.« Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Sie dachte eigentlich, dass es nicht so schlimm wäre, doch die Schmerzen sind immer größer geworden«, antwortete er für sie, »und dann musste ich Sie einfach kontaktieren.« Er wirkte, als wäre ihm die Situation äußerst unangenehm.
»Sie haben alles richtig gemacht.«
Dr. Sedlmayr half der Dame aus ihrem Wintermantel. Erst jetzt sah er, dass sie darunter nur ein Nachthemd trug. Ihr Mann wandte sich beschämt ab.
»Sie war nicht in der Lage sich anzukleiden«, versuchte er den Anblick seiner Frau zu entschuldigen.
»Können Sie das Nachthemd ausziehen?«, fragte der Arzt die junge Frau behutsam. Ein zaghaftes Nicken. Ihr Mann zog laut hörbar Luft ein, doch er protestierte nicht.
Der ganze rechte Brustkorb färbte sich bereits lila und blau. Als Sedlmayr sie berührte, zuckte sie unter seinen Fingern zusammen und wimmerte. Zwei Rippen waren mit Sicherheit gebrochen. Mit dem Stethoskop hörte er ihre Lunge ab und war erleichtert, dass es keine großen Auffälligkeiten gab. Anschließend tastete er ihren Bauch ab. Diese Frau war zerbrechlich wie eine Blume. Sie schien aber auf den ersten Blick keine inneren Verletzungen zu haben.
»Sie bekommen gleich ein Schmerzmittel. Dann müssen wir Sie röntgen. Ich vermute, dass zwei Rippen gebrochen sind.«
»Gebrochen? Sind Sie sich sicher, Herr Doktor?« Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. Er leckte sich über die Lippen und verschränkte die Finger, sodass die Knöchel weiß anliefen.
Georg Sedlmayr ignorierte ihn und zog eine Spritze auf, die er ihr in die Vene stach. Augenblicklich wurde der Atem der Frau etwas ruhiger.
»Bitte gehen Sie kurz vor die Tür, während ich Ihre Frau röntge.« Der Mann hob die Augenbrauen, verzog die Lippen aber dann zu einem Grinsen, erhob sich und ging vor die Tür.
»Es wird nicht weh tun. Keine Sorge«, redete er auf die Frau ein. Als er fertig war, holte er den Mann wieder herein, der nur wenige Zentimeter von der Tür entfernt gestanden hatte. Hatte er gelauscht? Als der Arzt zurück zum Behandlungstisch humpelte, spürte er erneut, wie der Fremde ihn beäugte. Sedlmayr entschied sich für die Konfrontation.
»Interessant, nicht wahr?« Ertappt zuckte der Mann zusammen, als wäre er von seiner Mutter beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt worden.
»Tut mir leid. Ich äh …« So leicht war er also aus der Fassung zu bringen. Er schien noch nicht viel Erfahrung zu haben.