Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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Bein. Wie ist das geschehen?« Endlich rückte er mit der Sprache heraus.

      »Krieg.« Eine knappe Frage, eine knappe Antwort.

      »Sie haben bestimmt heldenhaften Mut auf dem Schlachtfeld bewiesen.« So einer war er also.

      »Im Krieg gibt es keine Helden«, meinte Sedlmayr, woraufhin der Fremde wieder die Augenbrauen hob. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch der Doktor ließ ihn nicht zu Wort kommen.

      »Ein Krieg fordert nur Opfer. Tote. Invaliden. Verkrüppelte Seelen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie diese Erfahrung machen müssen.« Schachmatt. Der Fremde sah beschämt wie ein Schuljunge auf seine Schuhspitzen. Sedlmayr entschied von ihm abzulassen und begann mit seiner Diagnose.

      »Ich kann Ihnen erst morgen Genaueres sagen, wenn die Röntgenbilder entwickelt sind. Ich bin mir aber, wie bereits vorher schon erwähnt, sicher, dass mindestens zwei Rippen gebrochen sind. Ihre Frau sollte unbedingt das Bett hüten. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Ich melde mich dann sofort bei Ihnen, Herr …?«

      »Winter. Erich Winter.« Der Name versetzte ihm einen Stich. Winter. Grüne Augen. Wie die einer Schlange. Er hatte all die Jahre gehofft, dass er diesen Namen nie wieder laut aussprechen müsste. Nun befiel ihn Atemnot. Er lockerte seinen Kittel und zog die Luft ein. Der Fremde schien sein Entsetzen bemerkt zu haben.

      »Ist etwas, Herr Doktor?«

      Sedlmayr schüttelte den Kopf und wandte sich der Frau zu.

      »Bleiben Sie bitte im Bett und schonen Sie sich«, sagte er zu ihr. Stummes Nicken.

      Erich Winter strich mit steifen Fingern über die rotblonden Haare seiner Frau. »Das wird schon wieder, Helene«, raunte er ihr zu. Seine Stimme klang kalt. Ohne Wärme.

      »Vielen Dank, Herr Doktor, dass Sie sich Zeit genommen haben. Für die Nachtschicht werde ich Sie natürlich entschädigen.«

      »Das ist nicht nötig. Ich bin Arzt. Krankheiten und Verletzungen suchen sich nicht die passende Zeit aus.«

      »Das klingt sehr selbstlos, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich möchte nicht als Schmarotzer dastehen. Ich bringe das Geld morgen in die Praxis, wenn ich die Röntgenbilder ansehe.« Seine Stimme duldete keinerlei Widerspruch.

      »Also schön. Dann sehen wir uns morgen wieder.«

      Winter nickte zufrieden und half seiner Frau aufzustehen. Helene Winter drückte dem Doktor noch kurz die Hand, dann war das Paar aus seiner Praxis verschwunden.

      Georg Sedlmayr sank auf dem Stuhl zusammen und stützte den Kopf in die Arme. Das konnte doch nicht wahr sein? Die grünen, kalten Augen. Der Name? Er musste Hans Sternlicht Bescheid geben. Oder sollte er es besser für sich behalten? All die Jahre hatte er seine Gefühle im Griff gehabt und allein der Klang dieses Namens ruinierte alles. Georg Sedlmayr gab es nicht gern zu. Aber er hatte Angst.

      Erich Winter zählte nach der Machtübernahme Hitlers zu jenen Männern, die ihre Chance in der deutschen Politik gekommen sahen. Sein Hass galt den Sozialisten und Kommunisten, doch was er am meisten verabscheute, waren die Juden. Sie waren aus seiner Sicht Christusmörder, resistentes Ungeziefer, das sich in der Stadt eingenistet hatte wie Ratten im unterirdischen Kanalsystem. Verlogene Kaufmänner, die den anständigen Deutschen das Geld aus der Tasche ziehen wollten und den Bürgern die Arbeitsplätze stahlen. Großen Stolz empfand er, da kein Tropfen jüdisches Blut durch seine Adern pulsierte. Auch die Blutlinie seiner Frau Helene hatte er genau unter die Lupe genommen, bevor er um ihre Hand angehalten hatte. Besser gesagt sein Vater. Er verfügte über die nötigen Kontakte, die es dazu brauchte, und saß am richtigen Schalter, wenn es darum ging, die Mühlräder zum Laufen zu bringen.

      Dieter Winter. Ein bedeutender Mann. Ein hohes Tier in der Politik. Ihm verdankte er selbstverständlich seine Position in der fremden Stadt im Süden von Deutschland. Er verdankte ihm seinen Platz im Jurastudium, das er nur mit seiner Hilfe geschafft hatte, er verdankte ihm seine Intelligenz, seinen scharfen Verstand. Natürlich erinnerte ihn sein Vater bei jeder einzelnen Begegnung daran, dass er noch nichts selbstständig erreicht hatte. Ein fremder Sohn. Ein Taugenichts. Ohne Führungsqualität. Ohne Durchblick. Ohne Macht. Er brauchte seinen Vater wie die Luft zum Atmen. Obwohl dieser mittlerweile den größten Teil seiner Zeit auf dem Familienwohnsitz in Preußen verbrachte, edle Rennferde züchtete und einmal die Woche auf die Jagd ging, so war er doch über all die Kilometer, die zwischen ihnen lagen, allgegenwärtig. Allgegenwärtig in seinen Entscheidungen, in seinen Gedanken, in seinen Taten. Als läge ein dunkler Schatten über ihm, als säße eine Marionette auf seiner Schulter, die ihn steuerte. Manipulierte. Aber war das nicht gut so? Hatte sein Vater nicht nur richtige Entscheidungen getroffen?

      Der Einfluss seines Vaters schickte ihn über Berlin und München in die kleine Provinz, in diese elendige Kleinstadt. Hier unten sollte er Fuß fassen, angeblich, um Macht zu erlangen. Dieter Winter bezeichnete den Ort stets als die kleine Schwester Münchens. Eine Perle im Import und Export von Gütern, Knotenpunkt für das benachbarte Österreich. In München war der Nationalsozialismus eingeschlagen wie eine Bombe. Auch dort rannten die Bürger nach der Machtübernahme auf die Straßen und hielten Fackeln in die Luft. Ihre Euphorie schien einfach zu entflammen zu sein, so leicht, als würde man Benzin auf ein kleines Feuer schütten. Er würde derjenige sein, der die Flammen nährte und kontrollierte. Das war er seinem Vater schuldig.

      Aber Erich Winter befand sich nicht wie von ihm gewünscht in der Landeshauptstadt. In München wollte er groß werden, sich einen Namen machen. Stattdessen war er hier unten, tief im Süden, wo die Luft nach Kuhmist schmeckte, wo die Menschen in einer unprivilegierten Mundart sprachen, die unvertraut in seinen Ohren klang, in einer Stadt, die andere Bräuche und Traditionen pflegte. Alles fremd. Zumindest gelang es ihm, schnell Kontakte aufzubauen. Kontakte, die ihm sein Vater empfohlen hatte.

      Erwin Holzer, einem Parteigenossen, der als Jurist tätig war und Winter in seiner Kanzlei angestellt hatte, fühlte er sich eng verbunden. Obwohl Winter erst sechsundzwanzig Jahre alt war, behandelte Holzer ihn nicht wie einen Jüngling, der gerade die erste Berufserfahrung sammelte; Holzer behandelte ihn ebenbürtig.

      Die Machteroberung stieß bei der Bevölkerung hier im Süden auf Begeisterung. Ein großes Problem stellten die Kommunisten dar. Nur zwei Wochen zuvor waren sie zu einer Versammlung in eines der Wirtshäuser gekommen, bei der sich einige Kommunisten unter die Parteimitglieder gemischt hatten. Die Männer der SA hatten sie gewaltsam vor die Tür setzen müssen. Daraufhin hatte das Gesindel einen Fahnenmast mit der Parteiflagge umgesägt. Die Kommunisten waren es auch gewesen, die Winters Frau niedergetrampelt hatten. Am liebsten hätte er sie der Reihe nach an den Bäumen aufgehängt. Leider war das nicht möglich. Noch nicht.

      Winter setzte seinen Hut auf und sah auf seine goldene Taschenuhr. Ein Geschenk seines Vaters. Er war eine halbe Stunde zu früh dran, also würde er pünktlich bei Holzer in der Kanzlei ankommen. Helene lag noch immer im Bett. Sie brauchte Ruhe. Wer wohl in der Zwischenzeit den Haushalt führte, wenn sie herumlag wie Falschgeld? Darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Bald würde er sich eine Haushälterin leisten können.

      Er stieg in sein Auto und fuhr durch die verschneiten Straßen, bis er die Kanzlei erreichte. Rasant bog er auf den Parkplatz ein und sperrte den Wagen ab. Als er die Kanzlei betrat, begrüßte ihn Holzer mit dem Hitlergruß. Er überragte Winter um einen Kopf, seine Haare färbten sich an den Seiten bereits grau. Ebenso sein voller Schnauzbart.

      »Hast du’s schon mitbekommen? Die verdammten Kommunisten machen Rabatz«, kam er sofort zum Punkt. »Die ganze Innenstadt ist voll von ihnen. Ich habe bei Heinzmann angerufen und den Schnarchnasen bei der Polizei etwas Druck gemacht. Die sollen sich beeilen und die nette Zusammenkunft schnellstmöglich zerstreuen. Erst musste ich ihnen erklären, dass es erlaubt ist, den Roten einen Gummiknüppel über die Rübe zu hauen!«

      Winter nickte zustimmend. Mit ihnen ging man viel zu achtsam um. Sie waren schließlich nicht aus Zucker. Gewalt erforderte Gegengewalt. Nach diesem Prinzip lebten selbst die primitivsten Tiere.

      »Wir müssen etwas unternehmen, Erich.


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