Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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alle Feiertage des Jahres zusammen.

      »Hallo Hannah«, rief er fröhlich und kam auf sie zu. Er riss den rechten Arm nach oben und schlug die Hacken zusammen. Herbert blickte Jacob einen Augenblick abschätzig von oben bis unten an, als wäre er ein Insekt, und drehte ihm dann den Rücken zu. »Schau mal, mein Abzeichen.« Seine Wangen glühten vor Aufregung, als er Hannah das Hakenkreuz zeigte, das auf seiner rechten Brust steckte. Liebevoll strich er mit seinen Bärentatzen über das Eisen.

      »Hannah, du bist ja auch schon da!« Elsa, Hannahs beste Freundin, eilte zu ihr und fiel ihr freudig um den Hals. Auch sie trug ihre rötlichen Haare, wie fast alle Mädchen der Klasse, zu zwei Schaukeln gebunden. »Warst du gestern dabei? Papa hat uns erlaubt mitzugehen. Es war so aufregend.« Ihre Stimme überschlug sich fast.

      »Wir durften leider nicht mitgehen. Ich wäre so gerne raus, aber mein Vater hat es uns nicht erlaubt.« Hannah bemerkte, wie Jacob sie von seinem Platz aus irritiert ansah, als sie die Lüge laut aussprach, doch sie ignorierte seinen Blick und würde es ihm später erklären. Sie konnte unmöglich blöd vor ihren Freunden dastehen.

      »Oh«, rief Elsa theatralisch aus, »du Ärmste. Du hast vielleicht was verpasst!« Hannah hatte jetzt tatsächlich das Gefühl, etwas Bedeutendes verpasst zu haben. Sie blickte sich im Klassenzimmer um. Fast alle Kinder berichteten aufgeregt von dem gestrigen Ereignis. Dem Wendepunkt der Geschichte. Was hatte sich ihr Vater nur dabei gedacht, sie davon fernzuhalten? Wie sehr sie Karl beneidete. Warum war sie ihm nicht gefolgt? Warum war Hermann nur danebengestanden? Wollte er nicht dazugehören?

      »Ist ja nicht schlimm«, tröstete sie Elsa, »das nächste Mal bist du auch mit von der Partie. Jetzt geht es ja erst richtig los. Wird dein Vater auch in die Partei eintreten? Meiner ist schon dabei!«

      »Ich weiß nicht. Ich frage ihn gleich nach der Schule.«

      Hannah spürte erneut Jacobs Blick im Rücken. Als sie sich umdrehte, sah er sie an. War es Wut? Mitleid? Angst? Der Ausdruck in seinen Augen war ihr fremd und passte nicht zu Jacob. Er drehte den Kopf weg, als Herbert wieder auf sie zuging und damit begann, seine Schulbücher auf dem Tisch zu stapeln. Dann ließ er sich auf den Holzstuhl plumpsen, der viel zu klein für seine massige Statur war.

      »Komm, setzen wir uns. Der Lehrer wird gleich kommen.« Elsa grinste breit. Hannah drehte sich mit Schwung um, sodass der Rock ihres Dirndls nach oben flog, und ließ sich dann neben ihre beste Freundin in die zweite Reihe sinken.

      Von draußen drang das Geräusch polternder Stiefel herein und alle Schülerinnen und Schüler flitzten auf ihre Plätze. Schweigen kehrte ein. Max Völkl, ihr Lehrer, marschierte stramm, als würde er eine Militärparade anführen, ins Klassenzimmer. Das Hakenkreuz an seinem Oberarm kennzeichnete auch ihn als Parteimitglied. Kleine Schweinsaugen blitzten unter den buschigen Augenbrauen hervor und wanderten von einem zum anderen.

      »Heil Hitler!«, schrie Völkl laut, knallte die Hacken zusammen und riss den rechten Arm nach oben.

      »Heil Hitler!«, riefen die Kinder wie ein Echo zurück.

      »Was ist das für ein gottverdammter Sauhaufen? Seid ihr Deutsche oder seid ihr das nicht?« Die Anspannung wuchs. »Wenn ich ›Heil Hitler‹ rufe, schaut ihr mich gefälligst nicht an wie eine Herde Rindviecher, sondern antwortet mit gebührendem Respekt. Ist das bei jedem von euch Hornochsen angekommen oder soll ich erst meinen Rohrstock herausholen?«

      Totenstille. Hannah wagte kaum zu atmen. Noch nie zuvor hatte sie den Rohrstock zu spüren bekommen. Sie gehörte stets zu den Klassenbesten, schrieb gute Zensuren, war fleißig und lernte gerne. War das jetzt zweitrangig geworden?

      »Heil Hitler!«, brüllte Völkl noch einmal.

      »Heil Hitler«, brüllten die Kinder im Chor. Jeder so laut er konnte. Dabei rissen sie wie ihr Lehrer den rechten Arm nach oben. Zu Ehren Hitlers.

      Endlich nickte Völkl zufrieden. Dabei wabbelte sein Gesicht wie Pudding, und er fuhr sich mit seinen Wurstfingern über den Mund, als würde er die Reste einer Nachspeise abwischen.

      »Ihr habt gestern bestimmt die Radionachrichten verfolgt«, begann Völkl und schritt vorne auf und ab. Der Boden bebte unter seinem Gewicht.

      Herbert Bauers Finger schoss in die Luft, ohne dass er überhaupt gefragt worden war.

      »Ja bitte, Herbert.« Völkl lächelte väterlich, als sein Blick an Herberts Hakenkreuz hängen blieb.

      »Die NSDAP hat die Macht übernommen. Hitler ist Reichskanzler. Hindenburg hat ihn dazu ernannt«, sprudelte es aus seinem Mund. »Mein Vater ist deswegen ganz aus dem Häuschen. Jetzt bekommt er wohl endlich bessere Arbeit.«

      »Ausgezeichnet, Herbert«, lobte ihn der Lehrer, als hätte der Junge gerade den ganzen Goethe aufgesagt. »Endlich hat das deutsche Volk erkannt, dass allein die Partei dazu in der Lage ist, uns aus der Verelendung zu holen. Das Trauma von Versailles können wir damit vergessen und begraben. Gott sei Dank hat Hindenburg das eingesehen. Hitler ist der Mann der Zukunft!«

      Hannah war überrascht, dass Völkl sich so klar positionierte. Den Biologieunterricht hatte er anscheinend komplett vergessen.

      »Herbert! Du bist doch Mitglied bei der Hitlerjugend. Erzähl’ deinen Klassenkameraden davon.«

      Herberts dunkelbraune Augen leuchteten vor Stolz, als wäre er gerade zum Ritter geschlagen worden. Betont langsam stand er auf und klammerte sich an der Stuhllehne fest. Hier war seine Bühne.

      »Wir alle sind das junge Deutschland«, begann er und drückte die Brust heraus wie ein Hahn. »Jeder Deutsche kann beitreten. Eigentlich müsst ihr alle zu den Pimpfen, da ihr noch zu jung seid. Die Mädchen können dem Jungmädelbund beitreten. Wir unternehmen alles in der Gemeinschaft. Wir veranstalten Zeltlager, Lagerfeuer, machen Wanderungen, sportliche Wettkämpfe, wir singen. Das alles macht unwahrscheinlich viel Spaß. Meine Kameraden und ich würden uns freuen, wenn wir euch in unserer Mitte begrüßen dürften.« Herberts Stimme überschlug sich beinahe vor Euphorie und Hannah musste zugeben, dass seine Ansprache Neugierde in ihr geweckt hatte. Elsa stupste sie mit dem Ellenbogen an und nickte.

      »Ach ja, bevor ich es vergesse. Juden dürfen nicht mitmachen.« Dabei sah Herbert Jacob missbilligend an, der unbewegt in der dritten Reihe saß. Auch Hannah drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt. Unbewegt. Emotionslos. Erlaubte sich Herbert womöglich nur einen dummen Scherz? Unsicher sah sie zu ihm hinüber, doch er hielt die Arme vor seiner Brust verschränkt. Erst jetzt bemerkte Hannah, wie groß er über den Winter geworden war. Vor allem schien er in die Breite gewachsen zu sein. Stark. Muskulös. Dem Bild der deutschen Jugend entsprechend.

      Völkl nickte anerkennend und wiederholte noch einmal Herberts Satz: »Jawoll, Juden müssen draußen bleiben.« Für Hannah klangen die Worte wie die einer Verkäuferin, die zeterte: »Hunde müssen draußen bleiben«, wenn jemand seinen Vierbeiner mit in den Laden nehmen wollte.

      Was sollte sie davon halten? Hannah war sich sicher, dass Elsa, Anni und Matilda, ihre anderen Freundinnen, dem BDM beitreten würden. Sie saß in der Zwickmühle. Einerseits wollte sie zu ihnen gehören, gemeinsam an den Aktivitäten teilnehmen, von denen Herbert so geschwärmt hatte, doch andererseits war Jacob ihr bester Freund. Aber er war Jude. Seine Brüder waren Juden. Seine Eltern waren Juden. Er durfte nicht dabei sein. Ausgeschlossen.

      Immer wieder hatte sie aufgeschnappt, wie antisemitische Stimmen in Rosenheim aufflammten. Die Zeitungen und die Politiker der Partei schimpften öffentlich über die Juden, als wären sie eine Last. Abschaum. Dreck. Unrat. Doch weshalb? Was hatten sich Jacob und seine Familie zuschulden kommen lassen, dass sie der Bevölkerung ein Dorn im Auge waren?

      Als sie die Schulglocke nach einer Doppelstunde erlöste, verabschiedete sich Völkl mit dem Hitlergruß, den alle erwiderten. Als nächstes stand der Deutschunterricht bei Alfons Seibt an. Hannah sank in ihrem Stuhl zusammen, als sie auch an Seibts Oberarm das Parteiabzeichen erblickte. Alles lief schon wie automatisiert ab, als der Lehrer ins Klassenzimmer trat. Hitlergruß. Hacken zusammenschlagen. Lautes Rufen. Strammstehen. Die Klasse hatte schnell gelernt.

      Auf Hannahs Tisch wartete


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