Entstellt. Amanda Leduc

Entstellt - Amanda Leduc


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ganz so, wie man von Menschen als an den Rollstuhl »gefesselt« spricht.

      Sieh nur, was du geschafft hast, sagt die Gesellschaft. Du bist wirklich inspirierend.

      Inspirationsporno, so nannte es die verstorbene australische Behindertenaktivistin Stella Young, wenn behinderte Menschen wegen ihrer Behinderung als inspirierend dargestellt werden. Inspirationsporno geht einher mit der Vorstellung des behinderten Körpers als geringerem. Wenn ein behinderter Körper geringer ist, dann ist auch das, was er erreichen kann, geringer – und paradoxerweise zugleich mehr: schwieriger, edler, besonderer.

      In einem Artikel für Bustle aus dem Jahr 2019 erinnert sich Imani Barbarin an ihre Ballettstunden als Siebenjährige. »Ich wollte Kunst machen«, schreibt sie, »aber die Lehrer*innen wollten nur, dass ich gesehen werde. Ich wollte Herausforderungen, doch niemand fordert die heraus, die bereits mit ›Herausforderungen‹ geboren wurden.« So wird aus dem Weniger des behinderten Körpers in den Augen der nichtbehinderten Welt ein Mehr. Der behinderte Körper kann nicht die gleichen Anforderungen erfüllen wie der nichtbehinderte, also senkt man die Anforderung. Wenn die behinderte Person dann diese neue, geringere Anforderung erfüllt, wird sie bejubelt und beglückwünscht.

      Du willst tanzen, aber du hast eine Zerebralparese und wirst nie eine Primaballerina sein. Anstatt dass du also einen Tanz erfinden darfst, der auf die Bedürfnisse deines eigenen Körpers abgestimmt ist, bekommst du einen symbolischen Auftritt und sollst dich freuen, dass du immerhin das geschafft hast.

      Toll, wie du diese viel niedrigere Anforderung erfüllt hast. Toll, dass du versuchst, wie die nichtbehinderten Menschen zu sein. Das ist mehr als genug – das ist inspirierend.

      Wie beim Wohltätigkeitsmodell von Behinderung verlagern psychologische Ansätze die Schuld von der Gesellschaft auf das Individuum: Behinderung ist somit keine gelebte, alltägliche Realität, sondern nur eine vorübergehende Komplikation, die mit genügend innerer und äußerer Stärke überwunden werden kann. (Diejenigen, die ihre Behinderungen nicht »überwinden« – oder sich über die sogenannten »Erfolge«, die sie dank der extra für sie gesenkten Anforderungen erbracht haben, nicht freuen wollen –, sind folglich einfach nicht stark genug oder haben sich nicht genügend angestrengt.)

      Deine Behinderung verursacht dir Schmerzen? Versuch es mit Yoga. Du hast psychische Probleme? Meditieren hilft. Je mehr du dich konzentrierst, desto besser geht es dir, und desto weniger muss sich die Gesellschaft um besondere Tanzstunden oder Barrierefreiheit kümmern, um eigens ausgewiesene Parkplätze, ganz zu schweigen von Untertiteln, Gebärdenübersetzungen oder Rückzugsräumen.

      Schließlich musste sich das Königreich für das Mädchen ohne Hände auch nicht ändern, oder? Sie bekam ihre Hände zurück, dank ihres Glaubens. (Die einzige Behinderung ist eine falsche Einstellung.)

      Das hat sie ganz allein geschafft.

      Ich bin sechs Jahre alt, als ich nach meinen beiden Operationen in die erste Klasse komme. Es gibt, wie bereits erwähnt, einen Rollstuhl, und ein Taxi fährt mich zur Schule. Ich sitze allein an einem halben Sechsecktisch, weil mein Rollstuhl nicht unter die normalen Tische passt. Meine Mitschüler*innen schieben mich, wie ebenfalls erwähnt, auf dem Schulhof herum, bis es ihnen irgendwann langweilig wird. Manchmal – meistens – ist es einfacher, drinnen zu bleiben und zu lesen, also mache ich das.

      Der Gips an meinem Bein fängt nach einer Weile an zu riechen; Baden ist eine Tortur, weil er nicht nass werden darf. Meine Mutter muss mir helfen, weil mein rechtes Bein immer aus der Wanne hängen muss.

      Nachdem der Gips ab ist, arbeite ich mit einem Physiotherapeuten namens Eric. Er hat dunkle Haare, einen Bart und eine Brille, und er erinnert mich an Robert Munsch (den Autor des beliebten kanadischen Kinderbuchs Die Prinzessin in der Tüte). Oder erinnert mich Robert Munsch an Eric, den Physiotherapeuten? Ich weiß es nicht mehr.

      Ehrlich gesagt habe ich kaum Erinnerungen an diese Zeit. An die Operation und die zwei, drei Jahre danach.

      Meine Erinnerungen setzen erst etwas später ein, als in der dritten Klasse meine Nemesis auftaucht.

      Zerebralparese teilt sich traditionell in vier verschiedene Klassifizierungen. Die spastische Zerebralparese wird anhand von Muskelspannung und -tonus beziehungsweise deren Fehlens bestimmt. Die ataktische Zerebralparese ist charakterisiert durch zunehmende Schwierigkeiten in der Feinmotorik sowie der auditiven und visuellen Wahrnehmung. Die dyskinetische oder auch athetotische Zerebralparese ist gekennzeichnet von einem gemischten Muskeltonus mit unwillkürlichen Bewegungen. Der letzte Typ, Mischsymptome der Zerebralparese, beinhaltet verschiedene Merkmale aller vier Klassifizierungen.

      Die Symptome variieren von geringfügig, kaum wahrnehmbar, bis zur vollständigen Muskellähmung. In siebzig Prozent der Fälle ist die Zerebralparese angeboren – aufgrund einer Verletzung oder anderer Einflüsse vor der Geburt. Die Zyste, die meine Zerebralparese verursachte, wuchs im Uterus meiner Mutter mit meinen Neuronen, meinem Schädel, meinen Fingern und Zehen heran. Bis zum Ende der Highschool trug ich ein MedicAlert-Armband, auf dem für Rettungssanitäter*innen im Notfall vermerkt war: Spastische Zerebralparese, leicht. VP-Shunt abgeklemmt.

      Eine Zerebralparese kann auch während oder kurz nach der Geburt auftreten. Ein traumatischer Eintritt in den Geburtskanal, Sauerstoffmangel. Eine eng um den Hals gewickelte Nabelschnur. Zwanzig Prozent der Fälle entstehen auf diese Weise. Die übrigen zehn Prozent sind Folgen von bakterieller Meningitis, viraler Enzephalitis, von Unfällen oder Verletzungen vor dem dritten Lebensjahr.

      Die Zerebralparese ist nicht progressiv, sofern sich die ihr zugrundeliegende Verletzung im Gehirn nicht verschlimmert. Eine Heilung gibt es nicht. Stattdessen gibt es Operationen, Physiotherapien, Stützkorsette, orthopädische Schuhe.

      Eine Zyste, wie sie in meinem Kopf wuchs, entsteht durch eine Läsion im Gehirn, die sich wiederum durch irgendeine Art von Verletzung im Mutterleib bildet. Der Raum, den eine Hirnläsion hinterlässt, füllt sich mit Wasser und wird zu einer Zyste. Die Zyste übt Druck auf das Gehirn aus und schädigt die Motoneuronen, was die Motorik beeinträchtigt. Ein Kind geht mit nach innen gedrehtem Fuß. Nachdem das behoben ist, hinkt das Kind.

      Aber das Kind, das glückliche, kann immerhin laufen. Es kann rennen, es kann sogar tanzen, wenn auch nicht sehr gut.

      Warum ist es dann wichtig, dass dieses kleine Mädchen sich heimlich wünscht, sie könnte wie eine Prinzessin aussehen? Dass sie immer wieder an das Gefühl im Krankenhaus zurückdenkt, als sie das grüne Kleid trug? Und was hat das alles überhaupt mit irgendwas zu tun?

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