Entstellt. Amanda Leduc
ist der Glaube an Magie, an Zaubertränke, Feenstaub und gute Zauberinnen, an Geister, die Wünsche erfüllen können. Märchen haben sich auf vielfältige Weise mit Verwandlungen befasst. Doch weil ihre Schöpfer*innen – vielleicht insbesondere die in der westlichen Welt – oft nicht in der Lage waren, sich das ganze Potenzial von Wissenschaft und Technologie auszumalen, sind die Verwandlungsmöglichkeiten in den uns bekannten Märchen zwangsläufig in wesentlicher Hinsicht beschränkt.
In ›Hans mein Igel‹, einer Erzählung aus der Sammlung der Brüder Grimm, verkündet ein Bauer vor lauter Verzweiflung darüber, dass er und seine Frau kinderlos sind (die zudem durch den Spott der anderen Bauern über ihre Kinderlosigkeit verstärkt wird), dass er glücklich wäre, ein Kind zu haben, »und sollt’s ein Igel sein«. Sein Sohn, Hans mein Igel, der neun Monate nach dieser Verkündung geboren wird, hat den Oberkörper eines Igels und den Unterkörper eines Menschen. Die entsetzten Eltern halten den Jungen acht Jahre hinter dem Ofen versteckt. Das treibt ihn schließlich alleine in die Welt hinaus, wo er sein Glück als Musikant (der Vater hatte ihm auf seinen Wunsch einen Dudelsack gekauft) und Esel- und Schweinehirt machen will.
Hans ist ein mutiger Protagonist, der sich trotz der Behandlung durch seine Eltern nicht scheut, seine Wünsche zu äußern und Verbesserungen in seinem Leben zu fordern. Im Laufe der Zeit erwirbt er sich einen Ruf als ausgezeichneter Hirte und kehrt schließlich mit einer Herde Schweine nach Hause zurück, die er zum Wohl des Dorfs verkauft.
Danach zieht Hans mein Igel erneut in die Welt und trifft auf einen König, der sich verlaufen hat. Als Gegenleistung dafür, dass er ihm den Weg zeigt, willigt der König ein, Hans seine Tochter zur Frau zu geben, doch als ihm später die ganze Tragweite dieses Handels – dass er seine Tochter mit einer halb-menschlichen Kreatur verheiraten muss – bewusst wird, will er sein Versprechen nicht mehr einlösen. Die Tochter selbst ist ebenfalls alles andere als begeistert. Um sie für ihren Widerwillen zu bestrafen, zwingt Hans mein Igel die Prinzessin, sich zu entkleiden und sticht sie mit seinen Stacheln, bis sie blutet. Sie flieht schmacherfüllt und kehrt nie wieder an den Hof zurück.
Einige Zeit später trifft Hans mein Igel wieder einen König, der sich im Wald verirrt hat. Dieser König nimmt ebenfalls Hans mein Igels Hilfe an und ist überdies auch bereit, den Preis dafür zu zahlen. So kommt Hans mein Igel mit dem König auf dessen Schloss und heiratet die Prinzessin. Nur ihr offenbart er sein größtes Geheimnis: Seine Igelhaftigkeit ist nur eine Verkleidung, die er nachts ablegen kann. Auf seine Anweisung werfen vier Wachen seine Igelhülle, nachdem er sie ausgezogen hat, ins Feuer, wodurch seine Igelhaftigkeit gebannt wird und er seine wahre Gestalt als hübscher junger Mann annehmen kann. Nachdem diese Aufgabe gelöst ist, kehrt Hans mein Igel mit seiner schönen Prinzessin als Ehefrau im Schlepptau zu seinen Eltern zurück, und gemeinsam feiern sie den endgültigen Triumph über seine Entstellung. Sein Vater, überglücklich über seine Erscheinung als »normaler« Sohn, ist für den Rest seines Lebens gut zu Hans mein Igel.
›Hans mein Igel‹ ist deshalb interessant, weil es sowohl von der Selbstermächtigung des Protagonisten als auch den tiefer liegenden sozialen Erwartungen handelt. Hans äußert deutlich seine Wünsche und Bedürfnisse, und er bedrängt den Vater, ihn draußen in der Welt ein unabhängiges Leben führen zu lassen. Beim Schweinehüten stellt er seine Verlässlichkeit unter Beweis. Zudem ist er musikalisch begabt; als der erste König sein Dudelsackspiel im Wald vernimmt, lobt er das Talent des unsichtbaren Spielers. Um der Welt zu zeigen, wer er wirklich ist, setzt Hans mein Igel sich für soziale Veränderung ein: Die Gesellschaft soll ihn akzeptieren, wie er ist, sie soll seinen Beitrag zur Gemeinschaft anerkennen, Igel hin oder her. Die Erzählung steht unter dem Eindruck, dass Hans mein Igel ungerecht behandelt wird: Seine Eltern lehnen ihn ab, und der erste König will seine Tochter nicht hergeben, weil ihn Hans mein Igels Äußeres abstößt. Auch die Tochter selbst schämt sich seiner und wird bestraft. Nur der gütige König und die aufgeschlossene Prinzessin erfahren die Wahrheit über Hans – quasi als Belohnung für ihr gutes Verhalten.
Dennoch haben wir am Ende die traditionelle märchenhafte Verwandlung/Enthüllung: Die Igelhaftigkeit ist nur eine Hülle, die Hans mein Igel nach Belieben ablegen kann. Hans mein Igel erhält die erhoffte Heimkehr: Die Wiedervereinigung mit seinen Eltern, die stille Freude und Erleichterung der Prinzessin, die wohl trotz ihrer Güte ihren menschlichen Ehemann seiner früheren halbtierischen Form vorzieht.
Sei es der Kürbis in ›Cinderella‹ oder die herbeigezauberten Beine der kleinen Meerjungfrau – im Märchen geht es oft darum, dass jemand oder etwas sich verwandelt. Das Unerreichbare manifestiert sich mittels Magie, Feenstaub und Sehnsucht. Die böse Fee in ›Dornröschen‹ verwandelt ein Spinnrad in ein tödliches Utensil; in ›Rotkäppchen‹ verwandelt/verkleidet sich der Wolf; Aschenputtel/Cinderella wird von der Küchenmagd zur Prinzessin.
Dabei ist es jedoch nie die Gesellschaft, die sich ändert, und wenn noch so viele Halbtiere und Küchenmägde ihren Platz an der Tafel einfordern. Vielmehr sind es fast immer die Protagonist*innen selbst, die sich in irgendeiner Weise verändern – indem sie ansehnlicher, schöner werden, besser in die vorgeprägten Formen der bestehenden Gesellschaft passen. Obwohl der Eingriff nicht chirurgisch, sondern magisch ist, kann man sich vorstellen, wie die Verfasser*innen dieser Märchen zugunsten des medizinischen Modells argumentieren: die lebensrettende Operation – wobei Leben mit sozialem Status und Anerkennung gleichgesetzt wird. Das Kind, dessen Klumpfuß heute chirurgisch gerichtet wird, würde im Märchen von einer guten Fee oder einer bösen Hexe besucht werden, die mit dem unwiderstehlichen Geschenk des Normkörpers lockt.
Im Märchen ist das Individuum bei seiner Verwandlung auf Feen und Zauberei – oder auf die Götter – angewiesen, weil davon ausgegangen wird, dass die Gesellschaft sich nicht verbessern kann (und wird). Im historischen Kontext der Märchen betrachtet, leuchtet das zumindest ein wenig ein: Welchen Handlungsspielraum hat ein*e Landarbeiter*in mit einem behinderten Kind und wenig bis keiner Macht, die Welt, in der er*sie lebt, zu verändern? Doch seltsamerweise bewirkt die Zauberei in den Märchen auch das Gegenteil: Anstatt eine Welt aufzuzeigen, in der Veränderung möglich ist und den Rechtlosen Gutes widerfahren kann, festigt sie die bestehenden Klassen- und Gesellschaftsstrukturen sowie die traditionellen Vorstellungen davon, was es bedeutet, über einen funktionierenden Körper zu verfügen. Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb die Protagonist*innen fast immer einen Preis für ihre magische Transformation zahlen müssen. Einfach so von einem Zustand in einen anderen überzuwechseln – das gestattet die Gesellschaft nicht. Also muss der*die Protagonist*in sich als würdig erweisen – durch gute Taten und Sanftmütigkeit, wie im Fall von Aschenputtel/Cinderella, oder durch Opfer und Prüfungen, wie die kleine Meerjungfrau.
Wer daran scheitert, trifft vielleicht auf eine Fee oder vertraut, wie in vielen Märchen der Brüder Grimm, auf Gott. »Die Märchen der Brüder Grimm vertreten zwar gesunde und normgerechte Körper als Ideal«, schreibt Ann Schmiesing, »doch gleichzeitig suggerieren sie oft, dass dieses Ideal unerreichbar ist, zumindest ohne göttliche Intervention.« Gehen, sehen, hören, fühlen. Gaben, die all die Mühe wert sind, wie hoch der Preis dafür auch sein mag.
Ich bin vier Jahre alt, fast fünf, als ich das Krankenhaus verlassen darf, nachdem sie mir den Kopf aufgeschnitten und Teile der Zyste herausgeschält haben. Ich freue mich, nach Hause zu kommen. Meine Mutter und ich haben im Krankenhaus alle Bände von Unsere kleine Farm gelesen, manche sogar zweimal. (Laura und ihre Freunde mochte ich am liebsten. Mir gefiel es, dass Mary und Laura Ingalls in einem unterirdischen Haus leben und auf ihrem Dach im Gras spielen.)
Eines Tages gegen Ende meines dreiwöchigen Aufenthalts komme ich mit der Schwester zusammen in mein Krankenzimmer, wo meine Mutter und meine Großmutter zusammen mit Dr. Humphreys auf mich warten.
»Wir haben drei Kleider für dich«, sagt Dr. Humphreys. Er lächelt. Ich mag sein Lächeln sehr. »Aber du kannst nur eins davon anziehen! Du musst dir also aussuchen, welches du tragen willst.«
Es geht um ein Festkleid – das weiß ich sogar mit meinen vier Jahren. Wir feiern, weil ich bald nicht mehr im Krankenhaus sein muss. Bald werde ich keine Verbände mehr haben. Bald wird Schwester Margaret mir nicht mehr den Kopf reinigen und beim Baden helfen müssen.
Ich weiß nicht mehr, wie die anderen beiden