Entstellt. Amanda Leduc

Entstellt - Amanda Leduc


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sollten, ist ein leerer Raum, erklärt sie ihr. Die Scans zeigen einen dunklen Fleck im Zentrum meines Großhirns, eingebettet zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte.

      »Dort sollte eigentlich Gehirnmasse sein«, sagt die Neurologin, »aber da ist nichts.«

      Meine Mutter fängt an zu weinen. Ich greife nach ihr, bin verwirrt.

      Aber sie weiß doch, wer ich bin, denkt meine Mutter. Sie sieht gar nicht aus, als hätte sie kein Gehirn. Was soll das alles bedeuten?

      Die Neurologin empfiehlt eine Operation und verweist uns an einen anderen Arzt. Wir gehen zum Beratungsgespräch. Meine Eltern mögen ihn nicht.

      »Er war ein junger Arzt«, erzählt mir meine Mutter heute. »Man merkte, dass er überhaupt nicht wusste, was zu tun war, dass er nur Vermutungen anstellte.« In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an ihre Cousine, die als Krankenschwester in der Kardiologie arbeitet. Die Cousine hört sich um und liefert meinen Eltern einen Namen: Dr. Humphreys vom Kinderkrankenhaus in Toronto. Dieses Krankenhaus liegt wieder eine Stunde von meiner Heimatstadt entfernt, in der entgegengesetzten Richtung.

      Wenn der Arzt es von ihnen verlangt hätte, wären meine Eltern in den Wald gegangen und hätten einen Haselzweig gesucht, sie hätten ihn vor unserer Haustür eingepflanzt und auf Regen gewartet. Sie hätten ein gemästetes Kalb geschlachtet und sein Blut um die Tür versprengt, oder mich zu einer Waldhexe gebracht und sie um einen Zaubertrank gebeten, den sie in mein Essen gemischt hätten. Sie hätten einen alten Mann vor ihrer Haustür angetroffen, von dem sie instinktiv wüssten, dass er der (verkleidete) Teufel ist, und hätten ihm die Reichtümer ihres Hauses und ihrer Ländereien als Gegenleistung für meine Gesundung versprochen. Sie hätten alles getan, sie würden alles tun für die Sicherheit und Unversehrtheit ihrer kleinen Tochter. Sie können sich nicht vorstellen, wie das Leben sonst sein soll.

      Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben, sagt Joan Didion.

      Sie fahren mit mir ins Krankenhaus, sie falten die Hände und beten.

      Anders als Legenden und Mythen gelten Märchen im Allgemeinen nicht als auf irgendeiner historischen Wahrheit beruhend. Ihr oberster Zweck ist meist moralischer Natur: Märchen sollen uns etwas lehren, uns etwas über einen Teil der Welt erzählen, der in irgendeiner Weise missverstanden wurde. In den deutschen Märchen (Diminutiv von mittelhochdeutsch mære, aus dem Althochdeutschen māren: verkünden, rühmen), dem Äquivalent des englischen fairy tale (»Feenerzählung«) spielen Feen nur selten eine Rolle, jedoch enthalten sie allesamt Elemente des Wundersamen: Gänsemägde, die zu Prinzessinnen werden, drachentötende Helden, Königinnen, die zur Magie greifen, um ein Kind zu bekommen.

      In Europa nahm das Genre als literarische Form während der Renaissance Gestalt an. Autoren wie Giovanni Francesco Straparola (Le piacevoli notti; Ergötzliche Nächte) und Giambattista Basile (Il Pentamerone; Pentameron) die darin enthaltene Erzählung ›Sonne, Mond und Thalia‹ ist die erste schriftliche Version von ›Dornröschen‹) bereiteten den Boden für die nachfolgenden Erzählungen von Charles Perrault (Frankreich) und die Sammlungen der Brüder Grimm.

      Im siebzehnten Jahrhundert, als Madame d’Aulnoy in Frankreich ihre Märchen zu schreiben begann, wurde das Kunstmärchen zum beliebten Zeitvertreib adeliger Damen, die diese in ihren verschiedenen Salons erzählten und verbreiteten. Hier lässt sich die Auswirkung sozialer und kultureller Veränderungen auf die Geschichten beobachten: Ihr Schwerpunkt verlagerte sich hin zur Betonung bestimmter Vorstellungen von Moral und Etikette, wobei die Märchen stets mit großem rednerischen Elan erzählt wurden, der wiederum Form und Struktur der literarischen Sprache und des literarischen Stils zu beeinflussen begann.

      Die gesammelten Märchen der Brüder Grimm, die in Deutschland als Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht wurden und wahrscheinlich das bekannteste Beispiel europäischer mündlich tradierter und in schriftlicher Form zusammengetragener Märchen darstellen, waren zunächst ein Versuch, diesem hochgestimmten »literarischen« Stil entgegenzuwirken. Die Brüder Grimm wollten die den deutschen Volkssagen und -erzählungen innewohnende – wie sie es nannten – »Naturpoesie« erhalten, die sie in ihrer ursprünglichen Form bei den bäuerlichen Schichten bewahrt glaubten und die zu verschwinden drohte, indem die Welt sich allmählich literarischen Formen in Büchern und anderen Veröffentlichungen zuwandte. In den Einleitungen der ersten Ausgaben der Märchen priesen die Grimms den »robusten« und »gesunden« Charakter derjenigen, deren Märchen sie gesammelt hatten – Eigenschaften, die sie als maßgeblich für das Geschichtenerzählen betrachteten. So wie Industrialisierung und Verstädterung bäuerliche Lebensformen in Deutschland zunehmend verdrängten, sahen die Brüder Grimm im Aufkommen einer literarischen Kultur eine Bedrohung für die Traditionen des Erzählens, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatten.

      »Es besteht also eine Parallele«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Ann Schmiesing, »zwischen der Prekarität des menschlichen Seins und der Prekarität des mündlich überlieferten Märchens […]. Das Märchen kann nicht überleben, wenn es nicht weitererzählt und gehört bzw. aufgeschrieben und gelesen wird.«

      Eine große Ironie hierbei ist jedoch, dass Wilhelm und Jacob Grimm eine beträchtliche Anzahl ihrer Märchen in Wirklichkeit von adeligen Damen und nicht von Angehörigen der bäuerlichen Schicht gesammelt haben. Im Nachwort zur Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen (im Folgenden abgekürzt als KHM) lobt Jacob Grimm insbesondere die Erzählkunst einer gewissen Dorothea Viehmann, die »noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt, […] hell und scharf aus den Augen [blickt]. […] Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sei.« Tatsächlich gehörte Viehmann jedoch zur Mittelschicht – sie war die Tochter eines Gasthofbesitzers, die ihre zahlreichen Kinder alleine großziehen musste. Sie verstarb nach dem Erscheinen der zweiten Ausgabe der KHM an einer Krankheit.

      Dennoch fand das Werk der Brüder Grimm Nachhall in ganz Europa. Sammler*innen und Volkskundler*innen in anderen Ländern wurden angeregt, ihre jeweils eigenen Geschichten zu sammeln und zu erhalten, was zugleich den Hang zu Nationalismus und kulturellen Erzählungen nährte, der zu jener Zeit über den Kontinent hereinbrach. Ebenso folgenreich war die Entscheidung, ihre Sammlung »Kinder- und Hausmärchen« zu nennen, wodurch das Genre Märchen auf Jahrhunderte verstärkt mit Blick auf ein junges Publikum geformt wurde.

      Wie wir sehen werden, haben spätere Bearbeitungen – denken wir nur an die Disney-Prinzessinnen – die auf Kinder ausgerichtete Anpassung der Märchen noch weitergetrieben. So wurden viele ursprüngliche Elemente von Märchen wie ›Rapunzel‹ oder ›Aschenputtel‹ weggelassen (Rapunzels Schwangerschaft im Turm, die Selbstverstümmelung von Aschenputtels bzw. Cinderellas Stiefschwestern beim Versuch, den Schuh anzuziehen), um diese inhaltlich wie auch – im Fall von Disney – visuell freundlicher zu gestalten. Während im 20. Jahrhundert die streng religiösen Untertöne der Grimm’schen Märchen dezent in den Hintergrund gedrängt wurden, bildete sich durch die Konzentration auf das stets glückliche Ende eine eigene, neue Moral heraus: ein Versuch, die Ordnung über das Chaos zu stellen, die strenge und manchmal willkürliche Hand Gottes durch ein wohlwollendes Universum zu ersetzen, in dem das Gute denen widerfährt, die es verdienen. Gab es in den KHM und anderen Sammlungen noch viele Märchen, die tragisch endeten, sind die bis heute am häufigsten rezipierten meist die mit glücklichem Schluss. Der Bogen des moralischen Universums neigt sich heute in all den alten Geschichten, die überdauert haben, zum Guten hin.

      Alle bekommen ihr Happy End, auf die eine oder andere Weise.

      Zumindest, wenn sie es verdienen.

      Eine Biopsie der Masse im Gehirn ergibt, dass es sich nicht um einen Tumor handelt, sondern um eine Zyste – was zwar etwas besser klingt, aber immer noch beängstigend ist. Es ist ungewöhnlich, sagt der Arzt meinen Eltern, eine Zyste dort zu finden, wo meine wächst: mitten im Gehirn.

      Zerebralparese. Eine neurologische Störung, bei der Bewegung, motorische Fähigkeiten und Muskeltonus beeinträchtigt sind. Dr. Humphreys ist anders als der junge Arzt, der meine Mutter so verunsichert hat. Er ist älter, zugewandter, selbstbewusster. Als er ihr also diese Worte übermittelt, sind


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