Entstellt. Amanda Leduc

Entstellt - Amanda Leduc


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dennoch betonen, dass niemand von behinderten Menschen erwarten darf, dass sie ihre Krankenakten mit der Öffentlichkeit teilen. Bei meinen Erfahrungen mit der medizinischen Welt hatte ich großes Glück – und Privilegien –, und mir ist bewusst, dass dies für viele nicht gilt.

      Ich habe, während ich Entstellt schrieb, mit vielen behinderten Menschen gesprochen. Sofern es von den Betreffenden nicht anders gewünscht war, nutze ich im Text durchgehend identity-first language. Identity-first language (»behinderter Mensch«) drückt aus, dass die behinderte Identität ein wichtiger Teil dessen ist, was eine Person ausmacht, dass sie untrennbar damit verbunden ist, wie sie sich in der Welt bewegt. Im Gegensatz dazu argumentiert die person-first language (»Mensch mit Behinderung«), dass jemand in erster Linie ein Mensch ist und erst danach jemand mit einer Behinderung. Der allgemeine Konsens unter Behindertenaktivist*innen ist, dass die person-first language, wenngleich sie gut gemeint sein mag, Behinderung und Identität trennt und so die Abwertung von Behinderung, die Vorstellung von Behinderung als etwas Negativem fortschreibt.

      Die Behinderungen und Pronomen jeder Person in diesem Buch wurden entsprechend den jeweiligen Wünschen der Betreffenden verwendet.

      Ich bin allen dankbar, die ihre Zeit und Expertise mit mir geteilt haben, und hoffe sehr, dass die Untersuchungen in diesem Buch ihnen allen gerecht werden.

       1 Das Kind, dessen Kopf in Dunkelheit getaucht war

      Es fängt, wie alle Märchen, mit einem Problem an. Es waren einmal ein Holzfäller und seine Frau, die waren kinderlos. Es war einmal ein wohlhabender Mann, dessen Frau starb, und weil er einsam war, heiratete er eine neue Frau, die grausam zu seinem Kind war. Es war einmal eine Meerjungfrau, die über das Meer hinaussah und sich danach sehnte, auf dem Land zu gehen.

      In diesem Fall waren es eine Mutter und ein Vater mit einer siebzehn Monate alten Tochter, die noch nicht laufen gelernt hat. Das muss nicht immer ein Problem sein – manche Kinder lernen es früher, andere lassen sich Zeit –, aber diese Eltern sind beunruhigt. Sie lesen die Literatur zu den üblichen Stufen frühkindlicher Entwicklung und befragen Ärzt*innen, die ihnen sagen, sie sollen sich keine Sorgen machen. Nachts wiederholen sie flüsternd diese Worte: Keine Sorge. Es wird alles gut.

      Sie haben schon einmal ein Kind verloren – eine Tochter, dunkelhaarig und stumm, die schon tot auf die Welt kam. Das war anderthalb Jahre vor der Geburt ihrer zweiten Tochter. Ihre Asche ruht in einer kleinen grauen Kiste im Regal ihres Schlafzimmers. Sie haben Angst, sind aber auch voller Hoffnung.

      Manchmal dauert es eben ein bisschen länger, beruhigen sie sich. Jedes Kind ist anders. Mit den anderen Entwicklungsstufen ihrer zweiten Tochter ist alles in Ordnung. Sie lacht, sie weint, sie krabbelt mühelos. Sie isst alles, was man ihr vorsetzt. (So eine gute Esserin, sagt ihr Großvater. Der Spruch sollte zu ihrem ältesten Familienwitz werden.)

      Als sie kurz vor ihrem zweiten Geburtstag ihre ersten Schritte macht, sind die Eltern überglücklich, wenngleich noch immer besorgt. Der rechte Fuß ihrer Tochter dreht sich nach innen, so dass das rechte Bein zum linken hin einknickt. Sie zieht es nicht nach, nicht so richtig zumindest, aber irgendetwas an ihrem Gang sieht nicht ganz richtig aus. So etwas wird in ihren Babybüchern nicht erwähnt, es sind dort keine Beine abgebildet, die sich genau so neigen. Sie gehen mit ihr zu einer Ärztin, die bestätigt: Irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte.

      Mehr noch: Die Ärztin vertraut ihnen, glaubt ihnen, sie versteht den dunklen Fluss von Verunsicherung, der tief im Inneren aller Eltern fließt.

      »Ich höre den Müttern zu«, sagt sie. »Sie wissen immer, wenn etwas nicht stimmt.«

      Die Ärztin überweist sie zu einem Neurologen, der sie in eine andere Stadt schickt, wo man das Mädchen in eine Maschine stecken und ihr Gehirn betrachten kann.

      Märchen, wie wir in der modernen westlichen Welt sie verstehen, haben eine reiche und vielfältige Geschichte. Der Oxford Companion to Fairy Tales definiert sie als »Narrative von Zauberei und Fantasie, die als fiktional verstanden werden«. Der englische Ausdruck fairy tale geht zurück auf eine Veröffentlichung der französischen Adligen Marie-Catherine d’Aulnoy aus dem Jahr 1697, Les contes des fées. Doch Märchen gab es – in schriftlicher wie mündlicher Form – schon viel früher. Vor ihrer Verschriftlichung wurden sie lange mündlich überliefert. Die Form, die sich über Tausende von Jahren erhalten konnte, ist stärker als die der meisten anderen Geschichten – und da sie den Launen der mündlichen Nacherzählung unterworfen ist, zugleich um vieles empfindlicher.

      Einige Märchen fallen in die Unterkategorie der Volkssage, ein Begriff, der mittlerweile recht weitgreifend die Gesamtheit der Erzählungen, Sagen, Mythen und Legenden einer bestimmten Kultur umfasst. (Auch wenn die Grenzen manchmal fließend sind, bemerkte der Ethnologe William Bascom, dass die Ethnologie oft zwischen Mythen und Legenden einerseits und Märchen andererseits anhand der Haltung unterscheidet, die die Menschen zu ihnen einnehmen. Dem Anthropologen Elliott Oring zufolge werden Mythen »als zugleich heilig und wahr« angesehen, während Legenden sich auf einen einzelnen, wundersamen Aspekt einer Geschichte konzentrieren. Im Gegensatz dazu gelten Märchen von Anfang bis Ende als fiktiv.)

      Es finden sich Märchenelemente in ›Der goldene Esel‹, dem einzigen überlieferten Roman der griechischen Antike; sie finden sich in ›Bel und der Drache‹ im Buch Daniel des Alten Testaments, das auf das fünfte oder sechste vorchristliche Jahrhundert datiert wird. Kunstmärchen wiederum stammen nicht aus mündlichen Überlieferungen, sondern sind Schöpfungen bekannter Urheber*innen. Hans Christian Andersen schuf eigene Märchen, ebenso wie Lewis Carroll und Edith Nesbit. J. M. Barrie verwendete Märchenelemente in Peter Pan, das von Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen geschätzt wird, ebenso wie L. Frank Baum im Zauberer von Oz.

      Während der Begriff Märchen, wie wir ihn in der westlichen Kultur verstehen, sich grundsätzlich auf europäische Erzählungen bezieht, umfasst der Oberbegriff Volksmärchen Geschichten aus der ganzen Welt. In vielen Fällen haben klassische europäische Märchen ähnliche Entsprechungen in anderen Ländern, von denen einige um Jahrhunderte oder sogar noch weiter zurückreichen als ihre europäischen Pendants. Die Ursprünge von Erzählungen wie ›Hans und die Bohnenranke‹, ›Die Schöne und das Biest‹ oder ›Rumpelstilzchen‹ lassen sich in ihren weltweiten Varianten über viertausend Jahre zurückverfolgen.

      Im Grunde erzählen wir einander Geschichten, seit wir sprechen können. Das Genre Märchen mag eine relativ junge Entwicklung sein, doch es ist eine Art von Erzählung, die es in unterschiedlichen Formen von Anbeginn der Zeit gegeben hat.

      Genauer gesagt haben wir diese Erzählweise benutzt, um das zu beschreiben, was anders ist. Ob diese Andersartigkeit in einer Entstellung begründet ist oder in sozialer Ausgrenzung: Märchen drehen sich oft in irgendeiner Weise um Protagonist*innen, die sich vom Rest der Welt unterscheiden.

      »Der Zweck von Geschichten«, stellt der Amerikanist und Disability-Forscher David T. Mitchell fest, »ist, das zu erklären, was aus der Reihe fällt. Das Begreifen von Unterschieden zwischen Menschen ist eines der ersten Dinge, die den Akt des Geschichtenerzählens ins Leben rufen.«

      Durch Geschichten verleihen wir der Welt Gestalt, um sie zu verstehen – und historisch gesehen haben wir durch Geschichten den Unterschieden überhaupt erst Gestalt verliehen. Ohne die Hilfe der Wissenschaft beim Verstehen dessen, was nicht in die Reihe passt, ist es nachvollziehbar, dass zuerst Geschichten diese Funktion erfüllten. Ich bin drei Jahre alt, als meine Eltern mich in ein Krankenhaus in London, Ontario, zum CT-Scan bringen. Ich habe kaum Erinnerungen daran – vielleicht erinnere ich mich an das Gefühl des Eingeschlossenseins in der riesigen, surrenden Maschine, doch da in den darauffolgenden Jahren noch weitere CT-Scans von mir gemacht werden sollten, erinnere ich mich wahrscheinlich eher an diese. Es sind meine Eltern, die die Erinnerungen bewahren: die fast zwei Stunden dauernde Fahrt in die andere Stadt, wie sie die Angst beschleicht, als sie im Auto sitzen, wie sie immer wieder versuchen, ein Gespräch anzufangen. Vielleicht bin ich unterwegs eingeschlafen – es ist sogar wahrscheinlich. Ich schlafe immer noch in Autos ein, so viele


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