Entstellt. Amanda Leduc
ich nicht ganz erklären kann. Er ist selbstbewusst und ernst, dabei aber überall, wo es darauf ankommt, noch ein Kind. Ein Mann, der verspielt ist und freundlich, wie ein weiser und gütiger Großvater. Wenn er sich in ein Tier verwandeln würde, wäre es nur passend, dass dieses Tier ein rotbrüstiger Vogel wäre.
»Die Zyste ist wie ein mit Wasser gefüllter Ball im Gehirn«, erklärt er. »Wir legen einen Shunt, um ihn trockenzulegen.«
Einen VP-Shunt, um genau zu sein. Ein Gerät, das normalerweise in die Gehirnventrikel eingebracht wird, um einen Hydrocephalus zu behandeln. Ich sollte das Wort erst zehn Jahre später richtig aussprechen können. Vaupeh, vau-peh, vau-peh. Ventrikuloperitoneal. Das Wort stolpert über meine Zunge wie Rumpelstilzchen.
Um den Shunt zu verlegen, rasieren sie mir die linke Kopfhälfte und öffnen meinen Schädellappen. Sie schieben den Shunt durch den linken Hauptventrikel und führen den langen Plastikschlauch an meinen Organen vorbei nach unten, wo er als silberglänzende Spirale in meinem Bauchraum zu liegen kommt. Während ich wachse, entrollt sich die Spirale Stück für Stück und dehnt sich mit mir zusammen aus. (»Wenn sie größer wird als 1,90«, scherzt der Chirurg später mit meinen Eltern, »bekommt sie ein Problem.«) Der Shunt soll die Hirn- und Rückenmarkflüssigkeit, die sich in der Zyste sammelt, in meinen Verdauungstrakt ableiten, von wo aus sie dann mit meinem Urin aus dem Körper austritt. Problem gelöst, wie durch Zauberei.
Meine Eltern weinen und sind dankbar, vorsichtig, doch noch immer besorgt. (Warum haben sie ihr nur den halben Kopf rasiert?, fragt sich meine Mutter, sagt aber nichts.) Ich bleibe zur Beobachtung im Krankenhaus.
Bald zeigt sich, dass der Shunt nicht funktioniert. (Die Sorge ist ein dunkler Fluss ohne Ende.) Die meisten Zysten bestehen aus Wasser – meine ist, wie sich herausstellt, eher gallertartig. Man muss sie herausschälen. Also werde ich noch einmal operiert. Diesmal rasieren sie mir auch die andere Hälfte des Kopfes, dann schneiden sie die Masse an und entfernen die Zyste Scheibchen für Scheibchen. Meine Mutter, die im siebten Monat mit meinem Bruder schwanger ist, hält ihren Bauch umfasst, während sie mit meinem Vater im Warteraum sitzt.
Die Operation verläuft erfolgreich – so erfolgreich es eben geht. Die Ärzt*innen konnten fast die gesamte Zyste entfernen, bis auf die Teile, die direkt an das Gewebe meines Gehirns angrenzen. Dr. Humphreys geht nicht davon aus, dass sie nachwachsen wird.
»Wir bestellen sie jedes Jahr zur Kontrolle ein, nur um sicherzugehen.«
Als meine Eltern nach der Operation zu mir kommen, bin ich benommen, aber wach.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragt meine Mutter ängstlich.
Ich schaue sie an, verwirrt von den seltsamen Fragen der Erwachsenen, wie nur Vierjährige es sein können. »Ja«, sage ich. »Weißt du es denn nicht?«
Sie will lachen, oder weinen, tut aber nichts von beidem. Stattdessen setzt sie sich behutsam ans Bett und nimmt mich in den Arm, ganz vorsichtig, wegen der Verbände um meinen Kopf. Ich sehe winzig aus, wie ich da in dem Krankenhausbett schwimme, in meinem Krankenhauskittel schwimme.
Im Laufe der kommenden Tage erhole ich mich, bin aber mürrisch. Meine Mutter verbringt die Nächte im Hotel gegenüber dem Krankenhaus, wo sie alleine unter der Dusche weint. Sie glaubt nicht an Märchen, aber dies ist ein neuer dunkler Fluss, ein Flüstern, eine Warnung. Vielleicht ist irgendetwas in diesen Operationssaal eingedrungen, hat mich mitgenommen und dann ein anderes Mädchen an meiner Statt dort gelassen. »Irgendetwas stimmt nicht«, beschwört sie die Schwestern. »Das ist nicht das Kind, das ich kenne.«
Doch das ist es, ich bin es – ich bin nur mürrisch. Ich will nicht im Krankenhaus sein. Ich hasse den Verband, der an meinem Kopf juckt. Ich hasse es, dass die Krankenschwester mir beim Waschen helfen muss. Ich hasse das Essen, ich hasse es, dass ich mit den anderen Kindern im Spielzimmer spielen soll, ich hasse es, dass die Schwestern nachts alle paar Stunden hereinkommen, um meine Temperatur zu messen. Ich hasse den Piepton des Thermometers, das Tiefrot der Digitalanzeige. Ich hasse es, wie sich das kalte Metall unter meiner Zunge anfühlt. Ich hasse die forsche Fröhlichkeit der Schwestern, wenn ich mich weigern will.
Wenn du nicht den Mund aufmachst, muss ich deine Temperatur im Po messen!
Ich hasse es, dass meine Lieblingsschwester Margaret mir sagt, ich solle beim nächsten Mal, wenn meine Mutter zu Besuch kommt, nicht vor ihr weinen. Natürlich will ich stark sein für meine Mutter. Natürlich will ich sie nicht enttäuschen.
Sobald ich sie sehe, breche ich in Tränen aus, und das hasse ich noch viel mehr.
Doch schon bald werde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Es ist April. Ich bin für den Rest meines letzten Kindergartenjahres zu Hause. Mein Haar wächst nach, aber nur langsam. Eines Tages fragt ein Mädchen auf dem Spielplatz seine Mutter: Mami, warum trägt der Junge dort ein Kleid? Und ich laufe weinend zu meiner Mutter.
Mein rechter Fuß dreht sich noch immer einwärts, also kommt innerhalb eines Jahres die nächste Operation, diesmal, um die Sehnen in meinem Fuß zu verlängern, damit er sich nach außen dreht – richtig, normal. Ich trage sechs Wochen lang einen Gips, ich habe ein Taxi, das mich zur Schule fährt, und einen Rollstuhl, in dem mich die anderen Kinder aus meiner Klasse gerne herumschieben, so lange, bis es nichts Neues mehr ist.
Als der Gips abkommt, hinke ich. Ich kann laufen, aber eben nicht normal. Meine Hüfte ist schief. Die verlängerten Sehnen ändern nur wenig daran; mein rechter Fuß ist unförmig und vernarbt. Ich muss Spezialschuhe tragen, der rechte Schuh ist größer als der linke. Es fällt kaum auf, wenn überhaupt, aber sogar mit meinen fünf oder sechs Jahren ist es das Einzige, was ich sehe.
In fast allen Märchen kommt irgendeine Art von Aufgabe vor. Diese kann entweder physischer Art sein – wie im Grimm-Märchen ›Die beiden Wanderer‹, wo ein Schneider eine Reihe von Aufgaben lösen muss, bevor er die Königstochter zur Frau erhält, oder auch spiritueller – wie bei Grimms ›Das Mädchen ohne Hände‹, in dem die Titelfigur mit abgetrennten Händen und auf den Rücken gebundenen Armen alleine durch den Wald irrt. Die Menschen werden in die Welt hinausgeschickt, um etwas zu lernen, um eine Reihe von Aufgaben zu meistern, eine Reihe von Gegenständen zu sammeln, um ihre Kämpfe zu bestehen und am Ende siegreich zurückzukehren. Tu dies, tu jenes, dann wird alles gut.
In dem norwegischen Märchen ›Östlich von der Sonne und westlich vom Mond‹ muss die Heldin zu einem Schloss reisen, um ihren zukünftigen Ehemann aus den Händen einer Trollprinzessin zu befreien. In Hans Christian Andersens ›Die kleine Meerjungfrau‹ soll die Meerjungfrau ihren geliebten Prinzen töten, um ihre Stimme wiederzuerlangen und ins Meer zurückzukehren.
Aufgaben gibt es in der Literatur und in mündlichen Überlieferungen seit Gilgamesch und in Kulturen weltweit. In einem westafrikanischen Märchen muss die Spinne Anansi eine Reise unternehmen, um den Python Onini, den Leoparden Osebo und die Mboro-Hornissen zurückzuholen, damit der Himmelsgott Nyame der Welt ihre Geschichten zurückgibt.
Anansi fängt die Tiere ein und befreit die Geschichten, der Schneider löst die Aufgaben und heiratet die Prinzessin, das Mädchen ohne Hände erhält Hilfe von wohlmeinenden Fremden, und zur Belohnung für ihren guten Glauben wachsen ihre Hände nach. Jede Aufgabe in jedem Märchen kommt zu irgendeinem Abschluss. Selbst die kleine Meerjungfrau, die sich am Ende von Andersens Märchen das Leben nimmt, erhält das Versprechen auf ein ewiges Happy End im Himmel.
Ich bin das Happy End, das meine Eltern sich erhofft hatten, und gleichzeitig bin ich es für mich selbst irgendwie auch nicht. Dass ich überlebt habe, ist der bestmögliche Verlauf – die triumphale Heimkehr, die Belohnung für tadellos gemeisterte Aufgaben. Meine Eltern haben auf die Ärzt*innen und Gurus gehört, sie haben so viele Ratschläge von weisen Männern und Frauen eingeholt, wie sie nur konnten. Mein Schädel wurde geöffnet und die missliebigen Teile wurden entfernt, ein Prozess, der vollkommen wissenschaftlich und zugleich vollkommen magisch ist. Erst ist alles beängstigend, und dann ist alles gut. Doch die Wirklichkeit dieses neuen Lebens nach der Operation, das ist eine ganz andere Geschichte.
Das Leben ist immer anders als die Happy Ends, die wir aus Märchen