Entstellt. Amanda Leduc

Entstellt - Amanda Leduc


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vor die der Klumpfuß ihn in seinem Leben stellt, muss er – und wir, als Leser*innen seiner Geschichte – ihn stattdessen als Symbol für etwas anderes betrachten, für ein anderes Übel, dessen Wiedergutmachung ihm erst ermöglichen wird, ebenso zu triumphieren wie alle anderen nichtbehinderten Heroen. So wird die gelebte Realität der Behinderung zu etwas Abstraktem und Vorübergehendem – was es umso schwerer macht, Behinderung als eine konkrete Realität in der Welt zu sehen. Zum ersten Mal dachte ich an Ödipus als an einen behinderten Mann während meiner Recherchen zu diesem Buch. Das macht Behinderung-als-Symbol mit uns und unseren Geschichten.

      Oder, wie Tobin Siebers es ausdrückt: »Niemand liest Sophokles’ Stück als Tragödie über einen Krüppel und einen Blinden, die um die Zukunft von Theben ringen.«

      »Behinderung nur als Metapher für etwas anderes zu lesen, ist schon an sich eine Form der Auslöschung«, bemerkt Ann Schmiesing, »weil es das Individuum und seinen behinderten Körper abstrahiert.«

      Doch meine Zerebralparese war nie ein Symbol für irgendetwas. Sie war immer nur ich – ich und mein Körper. Wie soll es also von hier aus weitergehen? Die Geschichten, die wir erzählen, die Symbole, die wir verwenden. Wie sollen wir in einer Gesellschaft vorankommen, die den behinderten Körper so oft als Symbol eines inneren Übels einsetzt? Wie können wir uns die chaotische, gelebte Komplexität dessen, was es bedeutet, in dieser Welt einen anderen Körper zu haben, zurückerobern?

       2 Behinderung: Ein Märchen

      Behindert: infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt.

      Der Begriff disabled im Englischen ist das Partizip von disable. Aus dem Lateinischen dis (»das Gegenteil von etwas«) und dem Altfranzösischen (h)able (fähig, geeignet, brauchbar, imstande, geschickt), das wiederum vom lateinischen Verb habere – (er-)halten, empfangen – abstammt. Der Begriff kam im sechzehnten Jahrhundert in Gebrauch. Während er früher vorwiegend für Beeinträchtigungen physischer Art verwendet wurde, wird er heute weitgehend als Begriff für alle Arten von Beeinträchtigungen angesehen.

      Im Deutschen ist behindert das Partizip von behindern (hemmen, störend aufhalten, jemandem/einer Sache hinderlich sein, im Wege stehen). Der Stamm hindern leitet sich ab aus dem althochdeutschen gihintaren, (betrügen, herabwürdigen), später hintaren (hemmen, vorenthalten, herabwürdigen, erniedrigen). Im Mittelhochdeutschen hindern (zurücktreiben, stören, abhalten).

      Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge ist Behinderung ein Überbegriff, der Beeinträchtigungen, Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen umfasst. Eine Beeinträchtigung bezieht sich auf Probleme mit den anatomischen, psychischen oder physiologischen Funktionen und Strukturen des Körpers; eine Aktivitätseinschränkung ist gegeben, wenn ein Individuum bei der Ausübung von Aufgaben oder Handlungen Schwierigkeiten hat, während eine Teilhabeeinschränkung ein Problem darstellt, das ein Individuum bei der Beteiligung an bestimmten Lebenssituationen erfährt. Behinderung ist somit nicht nur ein gesundheitliches Problem, sondern vielmehr ein komplexes Phänomen, das die Interaktion zwischen den körperlichen Merkmalen eines Individuums und der jeweiligen Gesellschaft widerspiegelt.

      Die Betrachtung von Behinderung als komplexes Phänomen ist auch der zunehmenden Verbreitung des sozialen Modells von Behinderung zu verdanken, dem zufolge die Behinderung von Individuen stärker von systemischen Barrieren, Exklusion und negativen Einstellungen gegenüber ihren Beeinträchtigungen abhängt als von den körperlichen Beeinträchtigungen selbst. (Wenn ein Gebäude Fahrstühle und barrierefreie Zugänge hat, schränkt die Tatsache, dass eine Person einen Rollstuhl nutzt, sie in diesem Gebäude in keiner Weise ein; im Gegensatz dazu stellt ein Gebäude mit Eingangstreppen und ohne Fahrstühle eine Barriere dar, weil eine Person, die auf Barrierefreiheit angewiesen ist, sich darin nicht bewegen kann. Die Architektur des Gebäudes berücksichtigt also strukturell gesehen nicht die Bedürfnisse der unterschiedlichen Körper.)

      Das soziale Modell von Behinderung steht im Gegensatz zum medizinischen Modell, in dem ein Körper an eine Diagnose gebunden wird und der medizinische Eingriff zur Lösung oder Beseitigung der konkreten Behinderung oder Erkrankung im Vordergrund steht. »Das medizinische Modell«, bemerkt Tobin Siebers, »definiert Behinderung als einen individuellen, der jeweiligen Person innewohnenden Defekt, der geheilt oder beseitigt werden muss, damit die Person sich als menschliches Wesen voll entfalten kann.« Mit anderen Worten: Nicht die Gesellschaft ist verbesserungsbedürftig, sondern die Person ist schadhaft. »Mitleid und Medizin statt sozialer Gerechtigkeit«, schreibt Siebers, »sind die Antwort auf das Problem des behinderten Körpers, weil dieser als die eigentliche Ursache der Probleme angesehen wird.«

      Im medizinischen Modell ist Behinderung sowohl eine Lebensrealität als auch eine Erzählung. Jede Geschichte von Behinderung wird zu einem Narrativ, das vor allem davon handelt, was in einer Kultur als gut gilt (Gesundheit, Schönheit) und was als schlecht (Behinderung, Entstellung), davon, wie wir uns in der Gesellschaft zueinander verhalten sollten – und was die Gesellschaft, oder die höheren Mächte, die da sein mögen, im Gegenzug für uns tun. Derart losgelöst von ihrer körperlichen Realität – der körperlichen Realität der behinderten Person – wird eine Behinderung für Außenstehende zum Symbol, mit Siebers’ Worten zum »anderen Anderen«, und fungiert als eine Art intellektueller Böser Mann für die Heilen – ein dunkles Flüstern, das am Rand der vermeintlichen Ordnung der Welt lauert.

      Kurz gesagt: Im medizinischen Modell ist Behinderung immer der Bösewicht. Behinderung ist anders, weil davon ausgegangen wird, dass es eine Art gibt, sich durch die Welt zu bewegen – eine Art zu gehen, zu sehen, zu riechen und zu fühlen, Informationen zu verarbeiten. Abweichungen von dieser Annahme sind somit erklärungsbedürftig. Ein Mädchen wird mit einer Zyste im Gehirn geboren, hätte aber ohne sie geboren werden sollen, somit müssen die Gründe dafür aufgedeckt werden: genetischer Defekt, Verletzung in utero, identifizierbarer Zustand. Wie soll man sie sonst einordnen? Wie begreifen, wo in der Welt sie hineinpasst? Das Narrativ um ihre Behinderung folgt der gleichen Struktur wie die Märchen, die sie abends mit ihrer Mutter im Bett liest: Problem, Aufgabe, Rückkehr. Im medizinischen Modell besteht die »Rückkehr« darin, möglichst ein Leben ohne Behinderung zu erlangen/wiederzuerlangen – denken wir an Gentherapie, an Cochlea-Implantate, an die Suche nach einer Heilung.

      Doch vor dem medizinischen Modell, vor der Wissenschaft, gab es Geschichten mitsamt all ihrer unergründlichen Magie. Wie sollte man verstehen, warum ein Kind mit einer Missbildung geboren wurde, wenn nicht, indem man eine Geschichte darüber erzählt – indem man die Missbildung im gläsernen Sarg einer Erzählung einschließt, die auf Magie und auf die stets unergründlichen Götter zurückgreift? Geschichten zwingen selbst widerspenstigen Körpern eine Ordnung auf. Indem etwas Unfassbares zu einer Geschichte wird, erlangt es Legitimität, agiert es plötzlich wieder im Bereich des Möglichen.

      So ist es auch mit Körpern, die anders sind.

      »Märchen sind ein Ausdruck des menschlichen Handlungsdrangs«, schreibt der renommierte Märchenforscher Jack Zipes. »Wir versuchen, die Welt den menschlichen Bedürfnissen anzupassen, während wir gleichzeitig uns selbst an die Welt anzupassen suchen. Daher geht es in Märchen, seien sie nun mündlich, schriftlich oder filmisch, immer um die Suche nach magischen Hilfsmitteln, außerordentlichen Technologien oder machtvollen Menschen oder Tieren, die es den Protagonist*innen ermöglichen, sich selbst und ihre Umgebung so umzuformen, dass ein zufriedenes Leben möglich ist.«

      Märchen gehören zu den ursprünglichen Geschichten, mittels derer wir den Sinn unserer selbst und der Welt verstehen wollen. Mit ihrer Hilfe können wir die bestehende Welt erklären und zugleich eine mögliche Welt imaginieren. »Frühe mündlich überlieferte Märchen«, so Zipes, »waren eng an die Rituale, Bräuche und Religionen von Stämmen und Gemeinschaften geknüpft. Sie schufen nicht nur ein Zugehörigkeitsgefühl, sondern nährten auch die Hoffnung, dass Wunder und magische Verwandlungen möglich sind und eine bessere Welt herbeiführen können.«

      Die Imagination einer Welt, die möglich ist, wird besonders wichtig,


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