Entstellt. Amanda Leduc

Entstellt - Amanda Leduc


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ein interessanter Begriff, der schon immer untrennbar mit Zauberei verbunden war. Im irischen Volksglauben hielt man Wechselbälger für Kinder von Feen, die mit gesunden Menschenkindern vertauscht worden waren. Feenkinder galten als kränklich und man ging davon aus, dass sie nicht lange leben würden. Familien setzten deshalb ihre »Wechselbälger« draußen in der Kälte zum Sterben aus, in der Überzeugung, sie hätten ihr eigentliches Kind für immer verloren.

      Dem Glauben nach vertauschten die Feen die Kinder aus verschiedenen Gründen: damit sie ihnen Gesellschaft leisten oder sie bedienen, oder auch, um sich an den Menschen zu rächen. Gewöhnlich kam der Verdacht, dass ein Kind ein Wechselbalg ist, gleich nach der Geburt auf; in einigen Fällen aber auch erst Jahre später. 1827 ertränkte eine Irin einen ihr anvertrauten drei Jahre alten Jungen im Fluss Flesk, weil er weder sprechen noch laufen konnte und sie »ihm den Wechselbalg austreiben« wollte; 1895 wurde die Irin Bridget Cleary von ihrem Ehemann und anderen Verwandten nach einer kurzen Krankheit ermordet, wobei der Ehemann sich auf die später berüchtigte »Feen-Verteidigung« berief.

      Bezeichnenderweise hing der Wechselbalg-Verdacht direkt damit zusammen, ob ein Kind bei der Geburt sichtbare Anzeichen von Behinderungen aufwies oder in seiner späteren Entwicklung ein Verhalten zeigte, das zu jener Zeit als befremdlich galt. So hielt man im 19. Jahrhundert autistische Kinder für Feenkinder: Die Vorstellung, dass Feen viel Zeit mit repetitiven Aufgaben verbringen – etwa dem Zählen von Goldmünzen –, verweist auf dokumentierte Aspekte autistischen Verhaltens. (Wenn es keine weltliche Erklärung gibt, muss es gewiss eine magische Erklärung geben.)

      Stellen wir sie uns einen Augenblick vor: Ein Kind, das mit einer Glückshaube geboren wird (die in einigen Kulturen als böses Vorzeichen gilt), ein Junge mit einem Klumpfuß, ein Mädchen mit Spina Bifida, die man frierend und weinend draußen liegen lässt, bis sie nicht mehr sind. Ein Kind, das vor drei Jahrhunderten mit Zerebralparese geboren wird, auch wenn noch niemand weiß, was das ist, nur dass das Kind nicht essen, nicht sprechen und sich nicht umdrehen kann. Gramerfüllte Eltern, die die Feen verfluchen und das Kind in die Kälte legen, damit es verhungert oder erfriert. Kinder, die nicht magisch sind, sondern nur anders.

      Wie viele Kinder wir wohl im Laufe der Jahrhunderte an die Kälte und den Schnee verloren haben – keine Kinder von Königinnen und Königen, sondern die einfacher Menschen, die von der Welt nur das wussten, was sie sich abends am Feuer erzählten? Wie viele Leben wurden erstickt oder verschwanden oder durften nie erblühen, wegen der Geschichten, die wir erzählen?

      Ann Schmiesing stellt fest, dass ›Das Mädchen ohne Hände‹ einen krassen Gegensatz zu einem Märchen wie ›Hans mein Igel‹ bildet, weil das Mädchen demütig und unterwürfig ist, während Hans mein Igel ein lautstarker Verteidiger seines eigenen Lebens ist. Das Mädchen liefert sich der Welt aus und vertraut darauf, dass die Gesellschaft alle ihre Bedürfnisse befriedigt, während Hans mein Igel sich innerhalb der Beschränkungen des Systems beweisen will. Das Gottvertrauen des Mädchens steht im Kontrast zu Hans mein Igels Wut und Eifer und hat innerhalb der Erzählung ein ebenso starkes Gewicht wie ihre Amputation.

      Es liegt nahe, beim ›Mädchen ohne Hände‹ zunächst an das soziale Modell von Behinderung zu denken, bei dem die Gesellschaft die Bedürfnisse behinderter Menschen wahrnimmt. Tatsächlich aber bewegt sich das Märchen im Bereich des Wohltätigkeitsmodells von Behinderung, das viele, wenn nicht alle behinderten Menschen heutzutage in der einen oder anderen Form kennen.

      Das Wohltätigkeitsmodell ähnelt dem medizinischen Modell insofern, als die behinderte Person als defizitär angesehen wird – als jemand mit einem weniger perfekten, einem entstellten Körper, der*die durch diese Unterschiede von der Gesellschaft abgesondert ist. In beiden Fällen ist die behinderte Person von anderen abhängig: im medizinischen Modell von der medizinischen Expertise, die (Ab-)Hilfe verspricht; im Wohltätigkeitsmodell von medizinischen und sozialen Einrichtungen, die die bemitleidenswerte behinderte Person retten wollen. Die medizinische Welt heilt den Körper, während die soziale Welt das Leben der behinderten Person durch Wohltätigkeit und großherzige gute Taten verbessert.

      Das Wohltätigkeitsmodell, stellt das Online-Portal Disability World fest, »sieht behinderte Menschen als Opfer ihrer Umstände, die Mitleid verdienen«. Das Modell entspringt der altehrwürdigen Tradition von ›Adel verpflichtet‹ (in der die Vermögenden die Pflicht haben, einen Teil ihres Reichtums zum Wohl der Gesellschaft zurückzugeben), doch anstelle der Reichen, die den Armen geben, lassen sich hier die Nichtbehinderten herab, den behinderten Menschen zu helfen. Wenngleich der Gedanke der Wohltätigkeit zunächst erstrebenswert scheint – schließlich ist ein*e Philanthrop*in unweigerlich eine moralisch akzeptablere Figur als Ebenezer Scrooge –, ist dennoch einzuwenden, dass Wohltätigkeit auch dem Erhalt bestehender sozialer Strukturen dient. Solange Einzelpersonen und Wohltätigkeitsorganisationen die Benachteiligten mit milden Gaben bedenken, besteht keine Notwendigkeit für einen umfassenden sozialen Wandel, der die Hierarchien ebenso wie die ökonomische und strukturelle Ungleichheit abschafft, die die Menschen überhaupt erst benachteiligt. Im Grunde trägt Wohltätigkeit, indem sie die Sorge für die Mitmenschen zu einer aktiven Entscheidung anstatt zu einer Verpflichtung macht, also dazu bei, Armut und Ungerechtigkeit aufrechtzuerhalten.

      (Ich argumentiere hier natürlich nicht gegen die Existenz von Wohltätigkeitsorganisationen – bestimmt können sie wunderbare Dinge bewirken und tun es auch. Es ist richtig, dass die Menschen darüber nachdenken, wie sie der Welt, und insbesondere den weniger Begünstigten, etwas geben können. Es geht mir vielmehr darum, dass wir die Gründe für deren Benachteiligung nicht mehr in bestimmten Umständen – etwa einer Behinderung – suchen, sondern anerkennen sollten, dass sie das Ergebnis struktureller Ungerechtigkeit sind, die die »Begünstigten« aufrechterhalten, auch wenn sie noch so viel Geld spenden.)

      In Krankheit als Metapher bemerkt Susan Sontag, dass Krankheit oft mit moralischem Fehlverhalten in Verbindung gebracht wird.

      Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdienen. […] Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen – da diese Bedeutung unausweichlich eine moralische ist.

      In der Literatur gilt das Gleiche oft auch für Behinderung. So wie Betroffene einer Krankheit zum Sinnbild für die Leiden der Krankheit selbst werden (vgl. Tuberkulose, Krebs, Aids), werden behinderte Menschen zum Sinnbild von Verlust und Mühsal, dafür, dass die Welt nicht gnädig ist zu denen, die anders sind. In der gleichen Weise, in der Krankheit bei Sontag zur Metapher wird – etwas ist ein Krebsgeschwür, verbreitet sich wie die Pest –, dient Behinderung oft der Verkörperung uralter und dennoch aktueller, drängender Ängste: vor dem Verlust der Unabhängigkeit, vor sozialer Ausgrenzung, vor Einsamkeit in einer zunehmend vernetzten Welt.

      Und so wie das medizinische Modell die Schuld an der Behinderung im Körper der behinderten Person sucht und Mediziner*innen zu »Expert*innen« erhebt, wie das Wohltätigkeitsmodell den großherzigen Philanthrop*innen die Schuld an der Gesellschaft abnimmt und hierarchische Normen stärkt, nehmen psychologische Krankheitstheorien der Gesellschaft die Schuld und Verantwortung für die Krankheit ab und schieben sie den Betroffenen zu. Wenn sie nur dieses oder jenes unterlassen oder anderes getan hätten, wenn sie demütiger oder gläubiger gewesen wären, hätte die Krankheit vielleicht vermieden werden können. (Im neunzehnten und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts glaubte man in manchen Kreisen, dass melancholische Patient*innen Krebs hätten vermeiden können, wenn sie nur glücklicher gewesen wären; im achtzehnten Jahrhundert dachte man von zarten, nervösen und leicht erregbaren Menschen, dass sie durch eine ruhigere, stillere Lebensführung von der Tuberkulose verschont geblieben wären.)

      Dieses Denken mag uns heute lächerlich erscheinen – doch in Bezug auf Behinderung wirkt es oft weiter, wenn auch in subtilerer (und möglicherweise schädigenderer) Form. Noch immer werden behinderte Menschen zu Wunderheiler*innen gebracht, es wird ihnen geraten, mehr Wasser oder mehr grünen Tee zu trinken, es mit Entgiftung oder Hypnose zu versuchen, um psychische Blockaden abzubauen und ihre körperlichen Beeinträchtigungen zu überwinden. Man ermutigt sie, »durchzuhalten«, »sich zu bewegen«,


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