Entstellt. Amanda Leduc
uralten Geschichten.
Als Heranwachsende wusste ich, dass mein Leben als das eines behinderten Kindes ebenso wertvoll ist wie jedes andere. Was ich allerdings nicht wusste – und manchmal bis heute nicht weiß –, war, wie ich mich körperlich in diesen »wertvollen« Raum einfügen sollte. Ich war im Tanzunterricht nicht anmutig, obwohl ich es wollte, ich schritt nicht selbstbewusst durch die Schulkorridore. Ich hinkte. Ich trug peinliche, kastenförmige Schuhe. Die Prinzessinnen aus den Märchen, die ich in der Schule und zu Hause las, wurden nicht mit orthopädischen Einlagen und Physiotherapie traktiert. Sie mussten nicht jedes Jahr zur Kontrolle ins Krankenhaus nach Toronto, wo ein Arzt ihre missgebildeten Füße untersuchte und ihre Glieder vermaß.
Prinzessinnen wurden nicht in der Schule ausgelacht, weil sie so komisch laufen. Prinzessinnen gab man nicht den Spottnamen Pickle, weil du läufst, als hättest du eine saure Gurke im Arsch! (Außer dass es, zu meiner viel späteren Überraschung, manchmal doch so war: Aschenputtel erhielt ihren Namen von ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern, die unsere Heldin auslachten und schikanierten, weil ihre Haare und Kleider von der Arbeit als Küchenmagd oft mit Asche beschmutzt waren.)
Die Prinzessinnen, die ich kannte, waren anmutig und schön und konnten traumhaft tanzen. Objektiv gesehen wusste ich zwar, dass sie nicht echt sind, aber wie sollte ich gegen mein aufwallendes Herz ankommen, wenn Auroras Kleid die Farbe wechselte, von blau nach rosa und wieder zurück?
Wie sollte ich gegen die so offensichtlich normgerechte Schönheit von Disneys Belle oder Cinderella ankommen oder gegen die Unausweichlichkeit, mit der der Erzählbogen so vieler Märchen sich am Ende zur romantischen Liebe neigt? Wie sollte ich all das vereinbaren mit meinem Selbstverständnis als jemand, die nie auf genau diese Weise schön sein würde? Wichtiger noch – wie sollte ich begreifen, dass es nicht darauf ankommt, auf genau diese Weise schön zu sein? Wie umgehen mit der unvermeidbaren Abweichung des Lebens vom traditionellen Erzählbogen mit Happy End, wenn ich überall von diesen Happy Ends umgeben war – in Märchen, in den Medien, in anderen Geschichten, die ich las und liebte? Wie sollte ich erkennen, dass nicht die Abweichung des Lebens von diesem Erzählbogen das Problem ist, sondern die Etablierung dieses Bogens – diese normierten Körperideale und Erwartungen?
Und wie sollte ich mit dem Widerspruch zwischen dem nichtbehinderten und dem behinderten Erzählbogen umgehen, wenn Behinderung in diesen Happy Ends überhaupt nicht vorkommt?
Zerebral. Aus dem Lateinischen cerebrum, Gehirn. Im medizinischen Sinn bezogen auf den Bereich des Gehirns in und um die Hirnrinde sowie die Verbindungen, die von dort aus zum Kleinhirn verlaufen.
Parese. Aus dem Griechischen parésis, Erschlaffung, unvollständige Lähmung.
Zusammengenommen bilden die beiden Worte einen Überbegriff für eine Reihe von Diagnosen, bei denen die Bewegung eingeschränkt, bedingt oder unmöglich ist.
Andere Verwendungen von zerebral: das Gehirn betreffend, geistig, intellektuell. Im Englischen (cerebral) auch: unter Einbeziehung des Verstands statt emotional/instinktiv.
Parese (Substantiv): vollständige oder teilweise Muskellähmung, oft begleitet von Sensibilitätsverlust, unkontrollierten Bewegungen oder Tremor.
Verb: paralysieren, zu einer Paralyse führen, lähmen, handlungsunfähig/hilflos machen, etwa vor Angst.
Dr. Humphreys’ Konsultationsberichte aus dem Jahr 1986 an unsere Hausärztin sind medizinisch-sachlich und zugleich warmherzig. Das Kind wurde nach einer vollständig ausgetragenen, normal verlaufenen Schwangerschaft und unkomplizierten Entbindung geboren und wog 3800 Gramm. Die weitere Entwicklung des Kindes verlief relativ unauffällig. Im Alter von etwa sechs Monaten fiel den Eltern auf, dass Amandas rechte Zehen »sich nicht entspannen, sondern gekrümmt bleiben«. Sie lernte anschließend nur langsam laufen und machte erst im Alter von siebzehn Monaten sichere, eigenständige Schritte. Dabei blieb jedoch das Gleichgewicht instabil und der Fuß neigte zur Einwärtsdrehung.
Er ist auf jeden Fall ein Geschichtenerzähler.
Mit der Zeit und mit fortschreitender Mobilität gewöhnte sie sich an, beim Gehen das rechte Bein im Kreis zu schwingen. Sie ist nie impulsiv gerannt. Da die Ganganomalie weiterhin bestand, wurde nach möglichen Störungen im rechten Unterarm und in der rechten Hand gesucht. Hier gab es kaum Auffälligkeiten, auch nicht in Bezug auf eine leichte Spastik im Arm. Jedoch entwickelte sie sich aus irgendeinem Grund zur Linkshänderin.
(Es war einmal eine Zeit, da dachte man, dass Linkshändigkeit vom Teufel komme. Matthäus 25:41: »Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!« Die linke Seite galt als Merkmal alles Minderwertigen und Falschen: Eva, die aus Adams linker Rippe entstand, Frauen im Allgemeinen, von denen man glaubte, sie würden beim Geschlechtsakt aus dem linken Hoden des Mannes entstehen, was im antiken Griechenland zu der Praxis führte, dass Männer sich einen Hoden abbanden, um das Geschlecht ihrer Nachkommen zu beeinflussen. Im Südafrika des neunzehnten Jahrhunderts war es bei einigen Zulu-Stämmen Brauch, die linke Hand eines Kindes in kochendes Wasser zu tauchen, um das Kind dazu zu zwingen, seine rechte zu benutzen. Während der Spanischen Inquisition fürchtete die katholische Kirche Linkshänderinnen als Hexen und verbrannte einige von ihnen bei lebendigem Leib.
Cesare Lombroso, der vielen als der Vater der Kriminologie gilt, schrieb im Jahr 1903: »Je mehr der Mensch in Zivilisation und Kultur fortschreitet, zeigt er im Vergleich zu Primitiven eine immer stärkere Rechtshändigkeit, die männlichen mehr als die weiblichen, Erwachsene mehr als Kinder.« Lombroso betrachtete Linkshändigkeit als ein Zeichen von Abnormalität – eine Behinderung, die die Habenden von den Habenichtsen unterschied.
Dr. Humphreys war natürlich nicht der Meinung, dass ein linkshändiges Kind minderwertig sei. Doch sind wir nach so vielen Jahrhunderten von Legenden und Aberglauben überrascht, in seiner Beschreibung eine gewisse Ungläubigkeit mitschwingen zu hören, eine gewisse Spekulation? … entwickelte sie sich aus irgendeinem Grund zur Linkshänderin.)
Gegenwärtig ist die motorische Behinderung recht leicht und scheint nur ihr rechtes Bein, genauer dessen Knöchel und Fuß zu betreffen. Den Eltern fiel auf, dass sie länger braucht, um zu Fuß bestimmte Strecken zurückzulegen, etwa auf dem Schulweg oder in einem Einkaufszentrum. Es wurde außerdem eine leichte Linksneigung des Kopfes festgestellt, vermutlich im Zusammenhang mit einem Schielen, ein leichter Muskelschwund in der rechten Wade sowie eine sehr leichte Skoliose im unteren Rücken.
Bei der klinischen Untersuchung ist das Kind sehr aufmerksam und kooperativ. Sie weist jedoch einen leicht spastischen hemiparetischen Gang auf, der das rechte Bein nahezu vollständig einbezieht. Sie entwickelt zudem einen Pes equinovarus, der zu einem Hinken führt.
Hemiparetisch: von Hemiparese, leichte Lähmung einer Körperhälfte. Aus dem Altgriechischen hemi-: halb; páresis: (»das Vorbeilassen, Erschlaffung«), leichte, unvollständige Lähmung, Schwächung eines Muskels, einer Muskelgruppe.
Pes equinovarus: Fehlstellung des Fußes, (equine: wie bei einem Pferd), bei der der Fuß nach unten überstreckt und einwärts verdreht ist. Lateinische und medizinische Bezeichnung für einen Klumpfuß, mit dem auch Ödipus gezeichnet war.
Doch spricht man von Ödipus eigentlich immer als behindertem Mann? Seine Behinderung wird meist symbolisch gelesen, als Zeichen dafür, wie seine Eltern versuchten, die Götter zu überlisten. Sie ist ein wesentlicher Teil der Erzählung eines Mannes, der immer wieder versucht, seinem Schicksal zu entkommen. Seine Behinderung ist keine Tatsache in seinem Leben – eine alltägliche Begleiterin, die neben ihm her und in ihm, durch ihn existiert –, sondern vielmehr ein Symbol, das sein Narrativ auf eine ganz bestimmte Weise vorantreibt: Er muss sie überwinden, sich über sie erheben, sich beweisen, denn als jemand mit einem Fuß, der anders ist, als jemand, der zur Bestrafung für die Verfehlungen seiner Eltern gezeichnet wurde, gilt er automatisch als Geringerer.
Erst durch den Klumpfuß gelangt Ödipus’ Narrativ zur Vollendung: Um seine Behinderung zu überwinden, muss er sich der Tatsache beugen,