Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2. Inger Gammelgaard Madsen

Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 - Inger Gammelgaard Madsen


Скачать книгу
stattfinden soll. Wir müssen vorher mit dem Sohn reden.« Er klopfte fest gegen die Tür. Es könnte ja sein, dass die Klingel in den alten Wohnungen nicht funktionierte. Ein junges Mädchen, das auf dem Weg die Treppe hoch war, schaute zu ihnen herunter und erkundigte sich, ob sie Sebastian besuchen wollten. Sie erzählte, er sei auf dem Weg, sie habe ihn nämlich gerade auf dem Bürgersteig gegrüßt, wo er einer alten Bewohnerin des Hauses aus einem Taxi geholfen habe. Roland murmelte einen unverständlichen Dank und sah ungeduldig auf die Uhr. Sie warteten im Treppenhaus, das nach altem Linoleum und Schmierseife roch. Dann hörten sie Stimmen aus dem Erdgeschoss und schwere, schleifende Schritte. Kurz darauf tauchte eine alte Dame zusammen mit einem jungen Mann auf, der sie fest untergehakt hatte und sie bei ihrem unsicheren Gang nach oben stützte. Er half der Alten die Treppenstufen zur nächsten Etage hoch und ließ ihren Arm erst los, als die krummen Finger festen Halt am Geländer gefunden hatten. Sie dankte ihrem Nachbarn und setzte den schleifenden Gang ins nächste Stockwerk fort, wo das junge Mädchen darauf wartete, sie in Empfang zu nehmen. Roland und Mikkel sahen sich vielsagend an. Von Jugendlichen kannten sie häufig mangelnden Respekt, Überfälle bei den Älteren zu Hause, Fälle von Gewalt gegen Senioren bis hin zu bestialischem Raubmord.

      »Wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte Sebastian mit einem unbekümmerten Lächeln und steckte den Schlüssel ins Schloss zu seiner Wohnung. Rolands Darm krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, dass er dem jungen Mann den Tag ruinieren würde. Sie folgten ihm in eine gemütliche Wohnung, die dem Türschild zufolge eine Junggesellenbude, aber trotzdem schön und freundlich war. Das Bett im Schlafzimmer war gemacht und farbige Kissen zierten die Bettdecke. Der Tisch in der kleinen, engen Küche war sauber und abgewischt. Es stand kein Geschirr von mehreren Tagen herum, nur eine einzelne benutzte Kaffeetasse. Auch das Wohnzimmer war aufgeräumt, ohne dass es unbewohnt aussah. Eine Schale mit frischem Obst stand in der Mitte des runden Esstisches und signalisierte gesunde Ernährung.

      »Geht es um das Auto, das ich zu verkaufen habe? Ich dachte, Sie kämen erst morgen«, sagte Sebastian fröhlich und hängte die Schlüssel in einen kleinen Schlüsselschrank aus gebürstetem Stahl.

      »Leider nicht.« Roland zeigte seine Erkennungsmarke und sah, dass in Sebastians einem Augenlid fast unmerklich ein Nerv zu zittern begann. Er setzte sich und lud sie mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Er war Mitte dreißig. Die sonnengebräunte Haut ließ das blonde Haar noch heller wirken und die blauen Augen tiefer. Sie erinnerten ihn an die Augen der Schlittenhunde, die er in einer Doku über Finnland gesehen hatte. Sibirische Huskys hießen die. Auf dem Kinn und den Wangen hatte er helle Bartstoppeln, ohne dass es ungepflegt aussah.

      Sebastian nahm einen roten Apfel aus der Obstschale und warf ihn mit kleinen, schnellen Bewegungen von einer Hand in die andere, während er sie prüfend ansah. »Es ist schon lange her, dass ich Besuch von der Polizei hatte«, meinte er.

      Roland sah das als guten Aufhänger.

      »Es geht um Ihre Mutter.«

      Sebastian hörte abrupt mit dem Apfelwerfen auf und sah einen Moment ehrlich überrascht aus. »Meine Mutter?« Die Worte kamen wachsam und fast unverständlich, als ob er sie lange nicht ausgesprochen hätte.

      Der Kerl tat Roland leid. Der unglückliche Ausdruck, der plötzlich in seine Augen trat, konnte nicht aufgesetzt sein.

      »Ich weiß, dass Sie ziemlich klein waren, als Ihre Mutter verschwand. Aber können Sie sich an irgendwas von diesem Tag erinnern?« Seine Frage brachte Sebastian dazu, ihn direkt anzusehen.

      »Ich war erst acht. Ich war in der Schule.«

      Der Augenkontakt war so intensiv, dass Roland sich unbehaglich fühlte. Es war, als ob Sebastian in seine Seele blicken könnte, und das mochte er nicht. Selten wandte er zuerst den Blick ab.

      »Sie wissen also überhaupt nicht, was Ihre Mutter an diesem Tag vorhatte? Sie wohnten in Silkeborg – wollte sie nach Aarhus?«

      Sebastian sah Mikkel nach, der still umherging und sich in der Wohnung umsah. Er hatte kein Wort gesagt und Roland hatte nichts dagegen. Mit seiner direkten Art fand er nicht immer die richtigen Worte. Aber nun kam er mit einem Foto in der Hand zu ihnen ins Wohnzimmer.

      »Ist das Ihre Mutter?«, fragte er. In seiner Stimme lag Mitgefühl, das Roland dazu zwang, ihn verwundert anzusehen. Sebastian nickte und sah schnell weg. Die Frau auf dem Bild war ungefähr Ende zwanzig. Nur ein paar Jahre jünger als zum Zeitpunkt ihrer Ermordung. Es gab keinen Zweifel, wem der Sohn ähnlichsah. Die besonderen Augen hatte er von ihr.

      »Ich wurde damals vernommen, aber wie ich schon sagte, ich war in der Schule und sie hat mir nie erzählt, was sie vorhatte. Sie war oft auf Krankenbesuch – was weiß ich.«

      Das Wort Mutter war wieder aus dem Wortschatz des Sohnes verschwunden, jetzt umschrieb er sie als sie auf eine beinahe feindliche Art. Aber es war nur verständlich, dass das Verschwinden der Mutter für einen Achtjährigen einem Versagen gleichzusetzen war. Er kannte ihr Schicksal ja noch nicht.

      Sebastian betrachtete den Apfel in seiner Hand, als ob er eine Kristallkugel wäre, die ihm erzählen könnte, warum seine Mutter verschwunden war.

      »Sie haben gesagt, sie sei bestimmt mit einem Mann durchgebrannt und ich wäre ihr egal.« Seine Stimme war heiser.

      »Wer hat das gesagt, Sebastian?«

      »Alle. Auch die Polizei, als etwas Zeit vergangen war und sie sie nicht gefunden hatten.« Der intensive Blick traf ihn erneut, jetzt lag darin auch ein Vorwurf.

      »Glauben Sie das auch?«, fragte Mikkel, der sich auf die Tischkante gesetzt hatte. Sebastian schüttelte den Kopf und sah nicht, dass Mikkel seinem Chef vielsagend zunickte. Es war sicher an der Zeit zu erklären, warum sie gekommen waren.

      »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Mutter gefunden haben. Sie ist tot.«

      Von Sebastian kam ein halberstickter Schluchzer. Er ließ den Apfel fallen und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Der Apfel kullerte unter den Tisch.

      7

      Das Schlafzimmer sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Fenster war offen und die weißen Spitzengardinen wellten sich leicht in der Brise. Undeutlich konnte sie die Spitze des Doms wie einen verschleierten Schatten zwischen den dünnen Gardinen sehen. Eine Fliege saß auf dem Fensterrahmen und putzte ihre Flügel. In der Kirche hatte auf der Rückenlehne der Bank vor ihr auch eine Fliege gesessen, als der Pfarrer schöne Worte über ihre Oma sprach, die mit all den Blumen in dem weißen Sarg lag, als ob sie sich nicht trauen würde, den Kopf zu drehen und sie anzusehen. Es war vorher schon schwer genug gewesen, die Tränen zurückzuhalten.

      Die Tür zu dem angrenzenden Wohnzimmer war geschlossen, aber die leisen Stimmen drangen trotzdem hindurch, manchmal ein lautes Lachen, das ihr unpassend und anstößig erschien. Sie knüllte das Taschentuch in ihren Händen fest zusammen. Es war unbenutzt. Als ob keine Tränen mehr übrig wären. Sie hatte jede Nacht geweint, seit sie die Todesnachricht erhalten hatte. Unbemerkt und lautlos, damit Peter es nicht hörte. Er würde nur glauben, dass sie sich immer noch nicht eingewöhnt hätte.

      Sie ließ den Blick über die wohlbekannten Dinge im Schlafzimmer schweifen. Jedes Einzelne rief Erinnerungen hervor. In der Wohnung war die Zeit stehengeblieben. Nichts hatte sich verändert, seit sie als Kind alle ihre Ferien hier verbracht hatte. Die Hand glitt wie abwesend über die Bettdecke, die ihre Oma aus weißer Baumwolle gehäkelt hatte. Sie hatte lange an dieser Decke gearbeitet. Und im Bett nebenan – Opas Bett – hatte sie geborgen neben ihrer Oma geschlafen nach langen, spannenden Märchen, die sie in eine Traumwelt mit guten Feen und Prinzessinnen versetzten. Das Foto ihres Großvaters stand auf dem Nachttisch in einem Silberrahmen. Er sah sie milde an, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Er starb, als sie erst zwei war. Aber Oma hatte ihr so viel über ihn erzählt, dass er in ihren Gedanken leibhaftig vor ihr stand. Ihre Brille lag ebenfalls auf dem Nachttisch, als ob sie irgendwann zurückkommen und sie holen würde. Aber Tatsache war, sie würde sie nie wieder brauchen und nie mehr zurückkommen. Ihr Gesicht lächelte hinter dem Glas in einem Rahmen an der Wand beim Fenster. Die alten, klugen Augen


Скачать книгу