Das Prinzip Uli Hoeneß. Christoph Bausenwein
hoffe, dass er sich nach den Spielen auch auszahlen wird.« Mit anderen Worten: Der »idealistische« Einsatz als Amateur sollte sich letztendlich doch in klingende Münze umsetzen, sollte am Ende wohl sogar noch lukrativer sein als der direkte Weg in den bezahlten Fußball.
Neben dem Fußball wollte Hoeneß studieren. Zunächst hatte er noch Betriebswirtschaft geplant, sich dann aber, als dort kein Platz frei war, für ein Lehramtsstudium in Anglistik und Geschichte entschieden. Ein studierender Fußballspieler war damals eine kleine Sensation. Noch vor Beginn der Saison 1970/71 brachte der »Kicker« eine Story über Hoeneß mit dem Titel »Studium als Stimulans«. Auf die Frage, ob es für den »aufgeweckten Blondschopf« nicht ein Handicap sei, dass er neben seiner harten Profiarbeit sein Studium absolvieren müsse, antwortete dieser: »Im Gegenteil, ich brauche geradezu mein Studium als Stimulans für den Fußball. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich als ›Nur-Fußballprofi‹ leben müsste. Meine Leistung würde sogar darunter leiden.«
Uli Hoeneß war der Prototyp einer neuen Spielergeneration und der FC Bayern der Verein, der den neuen Zeitgeist und die gesellschaftliche Fortentwicklung des Fußballs am deutlichsten dokumentierte. Kein anderer Bundesligist konnte sich Anfang der siebziger Jahre auch nur annähernd so vieler Abiturienten rühmen wie der FC Bayern: Karl-Heinz »Charly« Mrosko, der spätere Rechtsanwalt, Rainer Zobel, Edgar Schneider, Jürgen Ey und natürlich Paul Breitner, der in München Pädagogik studierte, standen für einen sozialen Machtwechsel im deutschen Spitzenfußball. »Uli Hoeneß zählt zur neuen Generation des Fußballprofis«, schrieb der »Kicker« später, »obwohl er bis 1972 Amateur bleiben und erst dann Geld verdienen will.« Es sei nicht verwunderlich, so das Blatt weiter, dass »die jungen Intellektuellen« beim FC Bayern unter Trainer Udo Lattek zusammengefunden hätten, »der einst selbst das Abitur ablegte, ehe er Sport und Englisch studierte«. Hoeneß selbst zitierte die Zeitschrift mit dem Satz: »Die heutige Art, Fußball zu spielen, setzt eine gewisse Intelligenz voraus.« Die Ära der Analphabeten sei vorbei, erklärte er nachdrücklich, wer heute in der Bundesliga weiterkommen wolle, benötige Köpfchen. »Spieler, die nur rennen, kommen entweder nie über ein Mittelmaß hinaus oder verschwinden bald wieder in der Versenkung.«
Unruhe im Reich des »Kaisers«
Mit Mittelmaß wollte sich auch der neue Bayern-Trainer nicht aufhalten. Der bis dahin ziemlich unbekannte Udo Lattek hatte sein Engagement nicht zuletzt der Empfehlung Franz Beckenbauers zu verdanken, der ihn als Assistenten von Bundestrainer Helmut Schön kennen und schätzen gelernt hatte. »Er war freundlich, souverän, nicht anbiedernd«, so das Urteil Beckenbauers, »was bei Assistenten nicht selbstverständlich ist. Viele holen sich ihre Bestätigung durch eine verschwörerische Kumpelhaftigkeit, versuchen, sich durch Gefälligkeiten eine gewisse Wertschätzung zu erwerben. Lattek hatte nichts davon an sich, er war geradlinig, ehrlich, selbstbewusst. Als Fußballer entwickelt man – und ich weiß, es geht nicht nur mir so – ein Gespür für Siegertypen, die vieles dem Willen zum Erfolg unterordnen, manche sogar alles. Bei Udo Lattek hatte ich das Gefühl.« Der damals erst 35 Jahre alte Trainer war weniger als Übungsleiter gefragt denn als Motivator. Beckenbauer: »Wir Bayern waren damals eine Supertruppe, aber irgendwer musste sie schließlich bei Laune halten.«
Da Bayern-Präsident Neudecker mit Latteks Vorgänger, dem eigensinnigen Branco Zebec, schon seit geraumer Zeit nicht mehr gut konnte, war es nicht sonderlich erstaunlich, dass das Engagement des Neuen nach einer kleinen Misserfolgsserie des Alten früher als geplant begann. Zebec wurde am 13. März 1970 vorzeitig entlassen, nur einen Tag später gab Lattek sein Debüt. Aus den verbleibenden sieben Begegnungen holte der ehemalige Jugendtrainer des DFB elf von 14 möglichen Punkten und Platz zwei in der Gesamtabrechnung. Das war der Beginn der erfolgreichsten Ära in der Geschichte des FC Bayern München.
Die dringlichste Aufgabe des neuen Trainers vor der neuen Saison bestand darin, eine neue Stammformation zu bilden. Insbesondere galt es, für die beiden langjährigen Leistungsträger Rainer Ohlhauser und Werner Olk, die sich ins »Rentnerparadies« Schweiz verabschiedet hatten, tauglichen Ersatz zu finden, und Kandidaten dafür waren die beiden Jugendnationalspieler Uli Hoeneß und Paul Breitner. Der erste Eindruck von den beiden war überragend. »Überraschend, wie die Spieler, die im Vorjahr noch in der DFB-Jugendauswahl kickten, die Strapazen überstanden«, berichtete der »Kicker« aus dem Trainingslager der Bayern. »Hoeneß und Breitner hielten mit, als hätten sie schon immer unter Profibedingungen trainiert. Hoeneß, der wie sein Freund Paul Breitner körperlich voll da ist, entwickelt gewaltigen Ehrgeiz.« Und den Ehrgeizling zitierte die Fachzeitschrift mit den Worten: »Jetzt muss man sich einen Platz in der Mannschaft erkämpfen. Auf eventuelle Verletzungen zu warten, um dranzukommen, darauf verlasse ich mich nicht.« Voller Selbstbewusstsein erklärte er darüber hinaus, keine Vorbilder zu benötigen. »Jemanden zu kopieren heißt, die eigenen Vorzüge zu zerstören«, dozierte er etwas altklug. »Man sollte so spielen, wie es einem in die Beine gegeben ist.«
Der Neuling aus Ulm dachte nicht daran, sich zu verstecken. Er forderte seinen Platz und zeigte sich selbst nach einer mäßigen Leistung in einem Vorbereitungsspiel keineswegs bescheiden. »Ich musste die mir etwas ungewohnte Rolle des Rechtsaußen übernehmen, weil Erich Maas einen Dämpfer bekommen sollte«, begründete er seine schwache Vorstellung und machte sich damit gleichzeitig bei einem Mitspieler unbeliebt. Selbst vor den Größen in der Mannschaft zeigte er keinerlei Respekt. »Der Gerd hat ganz ordentlich gespielt«, meinte er einmal nach dem Abpfiff zur Leistung des »Bombers« Müller, und über die Arbeitsauffassung seines Kapitäns witzelte er: »Der Franz Beckenbauer ist schon ein Garant dafür, dass es im Training nicht zu hart zur Sache geht.« Solche kessen Sprüche des von der »Welt am Sonntag« als »Klassenbester des DFB« titulierten Nachwuchsstürmers störten bald den Frieden in der Mannschaft. »Besonders in der ersten Zeit bei Bayern München war sein übertriebenes Selbstbewusstsein recht unangenehm für seine Umgebung«, kommentierte Lattek das vorwitzige Verhalten seine Schützlings. »Damit kompensierte er seine Sorgen. Das kam in der Mannschaft gar nicht gut an.«
Ebenso wenig passte der Mannschaft zudem das enge Verhältnis des neuen Trainers zu seinem Schützling, den er ja bereits in der DFB-Jugendauswahl betreut hatte. Bissige Bemerkungen machten die Runde. Er sei der »Mann mit dem Linksblick«, hieß es zum Beispiel, weil er nach jeder Aktion über die linke Schulter verstohlen Richtung Trainerbank schiele, oder er wurde hinter vorgehaltener Hand als »Schoßkind« bespöttelt, das noch mit 50 Jahren einen Stammplatz sicher habe. Vor allem Franz Beckenbauer hatte so seine Probleme mit dem nassforschen Neuling, der sich weder unter- noch einordnen wollte. »Er glaubt, die Welt dreht sich um seinen Nabel«, bemerkte er einmal kopfschüttelnd. Als Hoeneß im Fernsehen durchblicken ließ, dass man seinen Wert bei den Bayern nicht zu schätzen wisse und es genügend andere interessante Vereine gebe, fuhr der »Kaiser« schließlich aus der Haut: Wenn er sich in diesem Alter so viel herausgenommen hätte, dann wäre man mit ihm Schlitten gefahren. Uli solle endlich mal zur Ruhe kommen. Oder verschwinden. Schließlich seien die Bayern auch ohne ihn Europapokalsieger geworden und Deutscher Meister.
Das Betriebsklima war also nicht das allerbeste, und Uli Hoeneß war nicht der Einzige, der bei seinen Mitspielern schlecht ankam: Paul Breitner gab sich ähnlich frech, ehrgeizig und selbstbewusst. Udo Lattek und Manager Schwan wollten schließlich nicht mehr länger zusehen und beriefen in der Sportschule Grünwald eine große Aussprache ein. Uli Hoeneß’ Bericht über die Zusammenkunft fiel sehr knapp aus: »Jeder sollte seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Danach war der Burgfrieden wiederhergestellt, wenn auch auf Kosten einiger Mannschaftskollegen, die zum Saisonende verkauft wurden.« Dieses erste Jahr bei den Bayern war die wohl kritischste Phase seiner Laufbahn. Seine Karriere hätte wohl niemals so steil nach oben führen können, wäre er damals bei den Bayern gescheitert. »Meine Lektion von damals«, resümierte er: »Ich habe es mir abgewöhnt, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.« Uli Hoeneß und Paul Breitner blieben auch nach dieser Aussprache ein spezielles Pärchen, doch ihr Verhältnis zu den etablierten Spielern um den Mannschaftskapitän Beckenbauer wurde nun allmählich freundschaftlicher.
Die Protektion durch Udo Lattek war für den jungen Nachwuchsspieler aus Ulm in seinen ersten Wochen bei den Bayern eine Last, zugleich aber auch die Lösung seiner Probleme. »Ohne Lattek«, sollte Uli Hoeneß später voller Dankbarkeit äußern, »wäre ich vor die Hunde gegangen.«