Das Prinzip Uli Hoeneß. Christoph Bausenwein

Das Prinzip Uli Hoeneß - Christoph Bausenwein


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ihn dann mit konstant hohem Tempo in den Strafraum treibt und schließlich dem herausstürzenden Reina kaltblütig durch die Beine schiebt – 1:0.

      In der Pause herrscht in der Bayern-Kabine Zuversicht. Nach dem Wiederanpfiff ist erstmal Müller-Zeit: Vom linken Flügel flankt Kapellmann mit rechts auf den sprintenden »Bomber«, der den Ball im Sprung annimmt und dann verwandelt; das dritte Tor erzielt er mit Verstand und Gefühl per Lob über den zu weit herausgeeilten Reina – ein Weltklassetreffer. In der 82. Minute dann die Kür von Uli Hoeneß: Breitner befördert den Ball per Scherenschlag aus dem Strafraum, Müller leitet mit dem Kopf weiter zu einem Spanier, und der vertändelt den Ball, als Hoeneß dazwischenspritzt. Reporter Oskar Klose ist wie elektrisiert: »Hoeneß! Hoeneß!! Hoeneß!!! Ein Mann noch, einer ist bei ihm, an dem muss er noch vorüber, der zweite kommt … jetzt legen sie ihn um! … Nein, er macht sie alle fertig!« Ein atemberaubender Querfeldeinlauf über das Feld, bei dem Hoeneß am Ende auch noch den herausgeeilten Reina narrt und den Ball schließlich scharf unter die Latte zieht. Beide Hoeneß-Tore waren gleichsam noch verschönerte Kopien der Treffer von Dresden, mit Kraft und Raffinesse vorgetragene Sololäufe, bei denen die Gegner zu Statisten eines Heldenauftritts schrumpften.

      4:0 – eine solche Darbietung in einem solch wichtigen Spiel hatte es bis dahin noch von keiner deutschen Vereinsmannschaft gegeben. Der FC Bayern feierte seinen ersten Sieg im Europapokal der Landesmeister und den trotz aller späteren Erfolge wohl glücklichsten Tag seiner Geschichte. »An diesem Abend war ich richtig stolz auf ihn. Das ist doch schon etwas, der Europapokal«, resümierte Susi Hoeneß, die beim fulminanten 1:0-Treffer ihres Mannes auf der Tribüne vor Begeisterung geschrien hatte wie eine Verrückte. Und ihr Gatte Uli berichtete hernach von dem »Gefühl, das Rad des Lebens anhalten und eine Zeitlang auf derselben Stelle verweilen zu wollen«. Im »Kicker« wurde er gar mit dem größten aller damaligen Stars, mit Johan Cruyff, verglichen. Wenig später referierte der Hochgelobte, dass er vor dem Spiel nie zu träumen gewagt hätte, nach Dresden noch einmal zwei so wichtige und stilistisch so ähnliche Tore zu schießen. »Nämlich Tore im direkten Duell mit dem Torwart. Man sagt mir nach, dass ich in diesen Situationen einen kühlen Kopf und ein waches Auge hätte. Das muss wohl stimmen.«

      Als ein Mann, der immer in der Gegenwart lebte und stets tatkräftig nach vorne blickte, entwickelte er wenig Neigung, sich sentimentaler oder analysierender Nachbetrachtung hinzugeben. Uli Hoeneß beschäftigte sich denn auch nur selten mit seinen vergangenen Erfolgen als Fußballspieler. Nur im Fall dieses Spiels sollte er sich ab und an eine Ausnahme genehmigen: Wenn er Lust darauf hatte, sich die wohligste Gänsehaut, die er in seiner Karriere hat erleben dürfen, noch einmal hervorzuzaubern, legte er die Videokassette mit dem Triumph von Brüssel 1974 in den Rekorder.

       Der schwierige Weg zum Weltmeistertitel

      Der Europapokalsieg der Bayern war gleichsam der Auftakt eines für ganz Fußball-Deutschland herausragenden Jahres. Als Saisonhöhepunkt stand die erste in Deutschland ausgetragene Fußball-Weltmeisterschaft auf dem Programm. Nach dem letzten Test vor der WM am 1. Mai in Hamburg, einem 2:0 gegen Schweden, war Uli Hoeneß in der Presse mit der Schlagzeile gefeiert worden: »Der neue Netzer heißt Hoeneß.« Dieser Vergleich war wohl genauso unpassend wie der frühere mit Haller oder der spätere mit Cruyff, denn es handelte sich um jeweils ganz eigene Typen, deren Spielweisen kaum sinnvoll miteinander verglichen werden konnten. Unglücklich war der Vergleich darüber hinaus deswegen, weil der langmähnige Gladbacher in Hamburg selbst auf dem Platz gestanden hatte. Netzer wurde denn auch nie ein Freund von Hoeneß. Er, der selbst immer den Individualisten herausgekehrt hatte, mokierte sich vor allem über die Egomanie des jungen Bayern-Stürmers. Kurz vor der WM beschimpfte er Hoeneß in der »SZ« als »Banditen«, der wohl glaube, alleine Weltmeister werden zu können.

      Viele erwarteten, dass Hoeneß zum großen Star der WM werden könnte, unter ihnen der als »Fußballprofessor« gerühmte Dettmar Cramer, der frühere Assistent von Helmut Schön und jetzige FIFA-Trainer. »Das war sehr unglücklich«, sollte der Gelobte nach der WM äußern, es habe ihm sehr geschadet, derart »von außen hochgejubelt« worden zu sein. Vor dem Anpfiff des Turniers war er freilich noch nicht so klug gewesen und hatte sich nicht gegen solche Vorschusslorbeeren gewehrt. Er war absolut von sich überzeugt und entschlossen, die Erwartungen zu erfüllen. Konditionell, da waren sich alle Beobachter einig, würde er keinerlei Probleme bekommen. Bei einem Belastungstest vor dem Spiel gegen Chile erzielte er mit einer Pulsfrequenz von über 190 den Spitzenwert im deutschen Team. »Er ist der Typ des Zehnkämpfers und hält jegliche Belastung aus«, meinte Mannschaftsarzt Heinrich Hess.

      Aber das war die Theorie; die Praxis war das andere. Am 14. Juni, dem Tag des Auftaktspieles gegen Chile, herrschte in Berlin eine drückende Schwüle. Vorher, bei der Vorbereitung in der schleswig-holsteinischen Sportschule Malente, hatte es immer kühle Ostsee-Witterung gegeben. »Uli Hoeneß, der ohnehin gegen Klimawechsel sehr anfällig ist, schleppte sich vor dem Spiel herum, als hätte er am Vormittag das Europapokal-Finale gegen Madrid gespielt«, erzählte sein Freund Paul Breitner später. Die Deutschen konnten froh sein, dass Breitner schon in der 17. Minute das 1:0 erzielte – denn danach passierte nicht mehr viel. Kapitän Beckenbauer suchte sich hinterher vor allem Uli Hoeneß als Sündenbock für das schlechte Spiel heraus: »Wir standen vorne mit vier Angriffspitzen herum und nahmen uns gegenseitig den Platz weg. ›Du bist hier nicht Spitze, du bist Mittelfeldspieler, du musst zurück.‹ Das habe ich während des Spiels Uli Hoeneß zugerufen. Aber es änderte sich nichts. So ein Lob, wie es Dettmar Cramer verteilte, kann eben nicht jeder vertragen.«

      Im zweiten Spiel gegen den Außenseiter Australien in Hamburg wurde es nicht viel besser – nicht bei der Mannschaft und auch nicht bei Uli Hoeneß. Zunächst sah alles noch gut aus, das deutsche Team spielte druckvoll und ging durch Tore von Overath, Cullmann und Müller mühelos mit 3:0 in Führung. Nach einer Stunde aber war es mit der Herrlichkeit vorbei. Die Männer von Helmut Schön wirkten plötzlich wie gelähmt, kaum etwas gelang mehr, besonders Uli Hoeneß nicht, der schon in der ersten Halbzeit eine Riesenchance kläglich versiebt hatte. Die Stimmung im Stadion kippte, es gab gellende Pfiffe und Anfeuerungsrufe für den Außenseiter aus Australien. Bei der etwas hilflosen Suche nach Erklärungen für seine schwache Leistung sprach Uli Hoeneß von einem psychischen »Webfehler«, der sich bei ihm in Spielen gegen solche Außenseiter immer wieder bemerkbar mache. »Spiele gegen Mannschaften, die zum Sieg nicht das allerletzte Quäntchen Kraft und Konzentration verlangen, sind nicht mein Fall.«

      Immerhin war die bundesdeutsche Elf mit 4:0 Punkten und 4:0 Toren bereits sicher für die zweite Finalrunde qualifiziert. Im letzten Spiel gegen die Auswahl der DDR ging es dann lediglich noch um den Gruppensieg. Die Stars aus dem Westen hätten in diesem ersten offiziellen deutsch-deutschen Länderspiel eigentlich befreit aufspielen können. Doch statt selbstbewusst aufzutrumpfen, verfielen sie in Überheblichkeit und überließen das Kämpfen ihren Gegnern. Elf Minuten vor dem Abpfiff gelang Jürgen Sparwasser mit dem Treffer zum 1:0 die riesige Sensation: Westdeutschlands Superstars waren von biederen DDR-Amateuren düpiert worden.

      »Nach der ersten Finalrunde dieser Weltmeisterschaft blieb es niemandem verborgen: Wir, der große Favorit im eigenen Land, waren am Boden zerstört«, resümierte ein zerknirschter Uli Hoeneß. »Intern zerstritten; von außen wurden manche Reibereien noch geschürt. Alle anderen Mannschaften wurden uns als leuchtende Beispiele unter die Nase gerieben; man schrieb uns als Versager fast ab.« Nach heftiger Presse-Kritik an Helmut Schön avancierte nun Kapitän Franz Beckenbauer als eine Art Neben-Bundestrainer zu dem Mann, der die wichtigen Entscheidungen forcierte. Man verabschiedete sich von der Idee, jenen Angriffsfußball, mit dem die westdeutsche Auswahl vor zwei Jahren triumphal zum Europameistertitel geeilt war, fortsetzen zu wollen. Dies hatte auch Personalentscheidungen zur Folge: Zum einen wurde die Frage nach dem Mittelfeld-Regisseur nun endgültig zugunsten des fleißigen Kölners Wolfgang Overath entschieden, sodass der Kurzeinsatz des defensivfaulen Günter Netzer gegen die DDR der letzte und einzige WM-Auftritt seiner Karriere blieb; und zum anderen wurde Uli Hoeneß, der im Spiel gegen die DDR seinen Defensivpart zum wiederholten Mal recht nachlässig interpretiert hatte, eine Denkpause verordnet. Beckenbauer, beschwerte er sich beleidigt, habe ihm die ganze Schuld an der Niederlage gegen die DDR aufgebürdet. »Als er sagte, einige hätten nicht genug gekämpft, hat er mich gemeint.« Tatsächlich hatte sich Hoeneß wegen


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