Nachspielzeit. Dana Müller-Braun

Nachspielzeit - Dana Müller-Braun


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der zweiten Halbzeit war das, glaub mir: Das Wunder der zweiten Halbzeit!“

      Er reckt beide Arme nach oben, hält seinen alten speckigen Eintracht-Schal fest umklammert und singt unbekümmert. „Zieht den Bayern die Lederhosen aus, die Lederhosen aus …“ Eine ganze Reihe von Zuschauern, die uns von der anderen Seite aus entgegenkommen, stimmen sofort euphorisch ein und klatschen bestens gelaunt ab.

      Seit ich bei der Eintracht als stellvertretende Pressesprecherin angefangen habe, habe ich den VIP-Bereich schon oft in ausgelassener Stimmung gesehen, oh ja, die Mannschaft hat schließlich nicht nur halb Europa begeistert. Aber der Sieg gegen den FC Bayern toppt alles, was ich in den letzten anderthalb Jahren erlebt habe. Heute liegen sich völlig Unbekannte in den Armen, sogar die bornierten Anzugträger, und selbst Offenbacher werden zu Eintracht-Fans. Es stimmt, was Papa immer erzählt hat. Siege gegen die arroganten Bayern kitzeln aus jedem Frankfurter die gesamte Dosis Adrenalin.

      Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir von 121 Spielen gerade mal 33 gewonnen haben. Und sich an den letzten Sieg kaum noch jemand erinnert. Am 20. März 2010 war das. Da haben Tsoumou und Fenin ein paar Minuten vor Abpfiff das Spiel noch gedreht.

      Fenin – so hoch gejubelt, so tief gefallen. Fußball kann schon grausam sein, schießt es mir durch den Kopf. Danach folgten in neun Jahren 17 Pleiten. Jedenfalls in der Liga. Im Pokal gab es ja noch das Endspiel in Berlin … Ich muss innerlich grinsen. Schadenfroh grinsen. Was einer stellvertretenden Pressesprecherin eigentlich nicht gut zu Gesicht steht. Aber was soll’s. Eric würde sagen: „Fußball ohne Emotionen ist wie Ramazzotti ohne Eis. Ungenießbar fad!“

      „Ja, Papa“, lache ich, „das haben wir gemacht. Ihnen die Lederhosen ausgezogen.“

      Ich ergreife seine Hand und schwenke mit ihm den Schal, als mir einfällt, dass er ja gerade angefangen hat, eine seiner alten Geschichten zu erzählen. Normalerweise wäre ich einfach drüber weggegangen. Weil ich die meisten seiner Geschichten schon kenne. Vor allem aber, weil ich immer, wenn er von früher erzählt, tief in mir drin Neid spüre. Ich war nicht dabei. Ich musste mich bis zum letzten Jahr mit Aufstiegsfeiern begnügen. Und immer, wenn dieses Gefühl in mir aufkeimt, sage ich mir, man muss in der Gegenwart leben. Nicht in der Vergangenheit.

      Aber habe ich nicht eben selbst in der Eintracht-Historie herumgestochert? Vielleicht bieten sich gerade Tage wie heute an, alte Heldengeschichten hervorzukramen?

      „Wie war das denn nun damals mit dem Wunder der zweiten Halbzeit? Im Herbst 1979?“

      Er holt dankbar Luft. So wie immer, wenn er zu einer seiner Geschichten ansetzt. Jetzt zaubert es mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen.

      „60.000 waren damals im Waldstadion. Es war ein strahlend schöner Tag und die Bayern haben uns an die Wand gespielt. Nach zwei Toren hätte keiner mehr einen Pfifferling auf unsere Jungs gesetzt. Dann gab es Ecke für die Bayern und – das werde ich nie vergessen – Paule Breitner ist von der Mittellinie aus gemütlich, ach, was sage ich, genüsslich zur Fahne geschlappt. Das gab ein gellendes Pfeifkonzert. Du kannst es dir nicht vorstellen. Wir haben ihn gehasst! Abgrundtief gehasst. Und dann haben Körbel, Nickel und Karger das Spiel innerhalb von nur zehn Minuten gedreht und Jürgen Grabowski hat dem Schnösel eine Lehre erteilt, die sich gewaschen hatte. Stell dir vor: Eckball für die Eintracht und der Grabi schlurft von halblinks Richtung Eckfahne. Zwei, drei Schritte. Fast in Zeitlupe. Genauso wie vorher der Breitner. Aber dann hat er die Beine in die Hand genommen und ist losgelaufen. Auf Zeit spielen – nicht mit Grabi! Das Stadion hat getobt. So geht Fußball, Paule Breitner, haben sie gebrüllt und auch ein paar nettere Worte waren darunter. Das glaubst du aber. Ich werde es nie vergessen. Hätte mir mitten im G-Block fast in die Hose gemacht, so sehr hat mich die Szene bewegt. Der Grabi war in dem Moment für mich der liebe Gott … höchstpersönlich!“

      „Da wäre ich gerne dabei gewesen“, seufze ich ein wenig melancholisch, bevor ich mich wieder fange.

      „Aber jetzt freuen wir uns an dem, was die Jungs heute hingekriegt haben, nicht wahr?“

      Ich beiße mir heftig auf die Unterlippe. Warum kann ich es einfach nicht lassen? Warum muss ich immer schulmeistern? Dabei habe ich mir doch gerade eben noch vorgenommen, es heute mal nicht zu tun. Warum kann ich nicht damit zufrieden sein, dass er einen der schönsten Momente von früher mit dem Jetzt verbindet und einfach nur glücklich dabei ist? Warum will ich immer alles noch perfekter? Das war doch früher nicht so.

      Papa hat meine Bemerkung offenbar gar nicht gehört. Er zuppelt an meinem Ärmel. Ich beuge mich zu ihm hinunter. „Weißt du, mein Schatz. Dass du mich überredet hast, wieder ins Stadion zu gehen, das war …“ Er zögert einen Moment. „Echt anständig von dir. Danke dir, Lydia!“ Die zweite Träne macht sich auf den Weg und ich muss ein paar Mal durchatmen. Anständig war wahrscheinlich das höchste Kompliment, das er in den vergangenen 15 Jahren für mich bereitgehalten hat.

      Dann sehe ich Eric um die Ecke kommen.

      „Ach, Papa!“ Ich schiebe ihm die Eintracht-Mütze etwas tiefer ins Gesicht. Schließlich kann ich mir vorstellen, dass das alte Raubein dem Präsi nicht als Heulsuse begegnen möchte. Nach so vielen Jahren.

      „Lydia. Du willst den alten Mann doch wohl nicht vor mir verstecken.“ Erics Stimme erinnert wie immer nach Eintracht-Spielen an eine schonungslose vorabendliche Mischung aus Whisky-Tasting und einer Menge blauer Gauloises. Dabei hat er wahrscheinlich nur zu viel geredet. Wenn er, wie so oft, spätestens um 14 Uhr im Stadion war, gute dreieinhalb Stunden und dazu noch fünfmal „Tor, Tor, Tor!“ gebrüllt hat. Das halten selbst die sprachbegabtesten Stimmbänder nicht durch.

      „Klaus Heller ... Alter Freund!“ Eric scheint wirklich berührt. Die kleine Pause zwischen „Heller“ und „Alter“ zeigt es deutlich. Er musste schlucken, bevor er den „Alten Freund“ herausbringen konnte. Und ich weiß besser als jeder andere, besser vor allem als Papa selbst, wie sehr Eric Presfeth viele Jahre danach noch darunter gelitten hat, dass er sich nicht durchsetzen konnte, als es um Papas Job bei der Eintracht ging. Er wusste schließlich auch, dass die Eintracht nicht unschuldig daran war, dass Mama gegangen war. Als ihr klar wurde, dass Papas wirkliche große Liebe immer dieser Verein sein würde.

      Sportlich elegant beugt er seinen Blondschopf – die Frage, ob der Presfeth eigentlich seine Haare färbt oder ob er einfach nicht grau wird, habe ich bestimmt schon 100 Mal beantwortet – aus knapp zwei Metern auf 1,30 hinunter.

      „Ich würde ja gerne für dich aufstehen, aber ...“ Papa klopft mit beiden Handflächen auf die Reifen seines Stuhls. „Geht gerade nicht. Tut mir leid.“

      „Mir auch. Ehrlich. Aber wie ich sehen konnte, bist du ja ganz gut unterwegs mit deinem DAK-Flitzer.“

      Ich stoße hörbar Luft durch meine leicht geöffneten Lippen. So, als wollte ich pfeifen, aber es kommt kein Ton dabei heraus. Ich bin oft genug dabei, wenn Papa seine Physiotherapeutin zusammenfaltet, nur weil sie einen wohlgemeinten Scherz über seine Beeinträchtigung macht. Könnte sein, dass die erste Begegnung zwischen dem Eintracht-Präsidenten und seinem ehemals engsten Berater nach mehr als einem Jahrzehnt Funkstille schon nach 20 Sekunden an der Flapsigkeit des Präsidenten scheitert.

      Beide Männer schweigen für einen Moment. Dann nimmt Papa die Schirmmütze herunter und zieht Eric mit der Rechten an sich heran. „Kann dich ja mal ’ne Runde fahren lassen, Präsi. Aber Vorsicht: Wenn du zu viel Stoff gibst, fliegst du aus der Kurve.“

      Eric lächelt. „Bin dabei. Ich hole mir so ’ne Kiste und dann ballern wir mal ’ne Runde auf der Tartanbahn am Riederwald. Jede Wette: Ich häng dich ab.“

      „Nur wenn ich dir genügend Vorsprung gebe. Und das kannst du vergessen. Die Zeiten sind vorbei.“ Papa schaut Eric prüfend an.

      „Abgemacht“, jubelt der Präsi und ich denke bereits über die entsprechende Pressemeldung nach. Es wird furchtbar. Ich werde die beiden von dieser Idee irgendwie abbringen müssen.

      Eric hat sich wieder aufgerichtet. Er will die nächste Frage wohl eher aus sicherer Distanz stellen. Ich weiß, was kommt. Er hat mir gesagt, er wird Papa auch nach all den Jahren als Freund


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