Nachspielzeit. Dana Müller-Braun

Nachspielzeit - Dana Müller-Braun


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dir hören lassen“, bringt er ohne Umschweife heraus. „Sechszehneinhalb Jahre.“

      Papa neigt den Kopf, kann zu meiner Verblüffung dem Blick von Eric nicht standhalten und verschanzt sich lieber hinter seiner ollen Schirmmütze.

      Mann, Papa, würde ich am liebsten an sein Herz appellieren. Da schiebt er den Kopf langsam in den Nacken und richtet sich dabei so gut er kann auf. „Sechzehn Jahre und fünf Monate, um genau zu sein.“

      Die beiden Kerle mustern sich. Jetzt also ist es soweit. Schneller, als ich es erwartet habe. Die Entscheidung steht bevor. Ich weiß das. Kann es spüren. Die kleinen Haare auf meinen Armen richten sich auf. Auch, weil ich das Bild, wie Mama und Papa sich gegenübergestanden haben, bevor sie gegangen ist, wohl niemals vergessen werde. Sie hat sich umgedreht und ist zur Haustüre raus. Ohne ein weiteres Wort. Und ohne jemals wieder ein Wort mit ihm zu sprechen. Mit ihm nicht und mit mir auch nicht. Wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil ich wie gelähmt auf der Treppe gesessen habe und nicht hinter ihr hergelaufen bin.

      Wird es wieder so kommen? Wird sich auch jetzt einer von beiden einfach umdrehen und gehen? Bitte nicht.

      „Machst ’nen guten Job hier, Präsi. Fast so, als wäre ich immer noch an deiner Seite.“

      „Wie man es nimmt, Klaus. Wie man es nimmt.“

      „Ehre, wem Ehre gebührt. Ich weiß doch genau, wo die Strippen gezogen werden. Das wird heute nicht anders sein als damals. Big Brother is still watching … Hast deine Zunge manchmal nicht im Zaum, aber irgendwie doch alles im Griff. Stimmt’s, mein Freund?“

      Die beiden grinsen sich plötzlich an wie zwei 15-jährige Schuljungen, die gerade einen üblen Streich ausgeheckt haben. „Heller, alter Sack! Bier? Oder immer noch Ramazzotti?“, prustet Eric, schiebt mich sanft zur Seite, schnappt sich den Rolli und ist schon mit Papa im Inneren des Businessbereichs verschwunden. „Männerrunde“, johlt er ausgelassen. „Das 5:1 und die Rückkehr des ollen Jedi-Ritters müssen schließlich gebührend gefeiert werden.“

      Einen Moment lang stehe ich etwas verloren herum. Papa ist bei Eric in guten Händen und wird wahrscheinlich vor nächstem Mittwoch kein Lebenszeichen mehr von sich geben. Und ich? Heute wartet niemand auf mich. Ich hatte mir schließlich freigenommen, um Papa zu Hause abzuholen und ihn ins Stadion zu bringen. Allein mit dem Rollstuhl – das wäre schon schwierig geworden. Jedenfalls für einen, der sich partout nicht helfen lassen will.

      Also nach Hause? Und trübsinnig darauf warten, dass Jens sich irgendwann einfindet? Allein bei dem Gedanken an ihn und seine Vorträge zum Thema Fußball verpufft meine Siegeslaune in Sekundenschnelle. Nein. Auf jeden Fall nicht nach Hause. Das braucht jetzt kein Mensch.

      Vielleicht sollte ich Tim anhauen? Nein. Der ist nicht einmal mehr im Stadion. Wird sich wohl mit seinem neuen besten Freund, Severin, in Frankfurt herumtreiben. Kurz nach Abpfiff ist er kommentarlos verschwunden. Severin hat es raus, Menschen für sich zu gewinnen. Immer schön von oben herab.

      Sollte ich also einfach zur Pressekonferenz gehen, falls Peter Staudinger Hilfe braucht? Was eigentlich immer der Fall ist. Der Pressesprecher der Eintracht ist ein kluger Kopf, aber merkwürdig unorganisiert.

      Aber auch das würde meine Laune gerade nur in den Keller schießen lassen. Dann eben in die Eintracht-Loge. Es wird sich schon der ein oder andere interessante Gesprächspartner finden. Gute Laune haben heute ja schließlich alle. Und spätestens seit der Geschichte im vergangenen Herbst bin ich in den Augen der meisten ein angesehenes Familienmitglied. Auch wenn ich für den Job wohl eigentlich das falsche Geschlecht habe. Kommt mir jedenfalls manchmal so vor. Und als wollte ich mich mit meinen eigenen Taten davon überzeugen, dass es tatsächlich so ist, mache ich mich schnurstracks auf den Weg zur Toilette. Der Fünf-Tore-Jubel hat Spuren hinterlassen. Ein bisschen Aufhübschen wäre nicht falsch.

      Oh ja. Ordentliche Spuren, wie ich mit einem Blick in den Spiegel erkennen kann. „Lydia Heller. Wie sehen Sie denn heute aus?“, höre ich mich sagen, während ich den Lidstrich nachziehe und die Lippen spitze. Oh Gott. Ist das etwa … eine Falte? Nein. Wenige Wochen vor ihrem 30. Geburtstag hat Frau noch keine Falten. Ungläubig schaue ich auf einen feinen Schatten, der sich von meinem rechten Lippenrand Richtung Ohr eingegraben hat. Belustigt ziehe ich mit drei Fingern die Haut am Kinn sanft Richtung Hals. Weg. Keine Falte, lächle ich beruhigt und werde brutal aus meinen Gedanken gerissen. Es ist schon unangenehm genug, festzustellen, dass man bei seinen Selbstgesprächen auf der Toilette aus einer Kabine heraus belauscht wird – Scheiße, Lydia Heller! Wie oft habe ich mir geschworen, genau hinzusehen, ob eine der Türen verschlossen ist? Schließlich muss nicht jeder mitbekommen, dass sich die stellvertretende Eintracht-Pressesprecherin ganz gerne mal selbst interviewt. Besonders gerne vor dem Spiegel, weil ja dann aus der Radioreportage ein Fernsehformat wird –, was aber, wenn einem auch noch ein leises Stöhnen ans Ohr dringt?

      „Hallo?! Ist da jemand?“ Für ein paar Sekunden halte ich den Atem an. Habe ich mich vertan? Kam das Geräusch von draußen? Vielleicht von irgendeinem johlenden Fan, der sich an seinem hundertsten Bier verschluckt hat und nach Luft japst?

      Nein. Kommt es nicht. Es kommt aus der mittleren Kabine.

      „Hallo? Geht es Ihnen gut?“

      Warum nur sind Frauen immer so leicht zu verunsichern? Warum schnellt ihr Puls bei allem Unbekannten erst mal reflexartig in die Höhe? Wo sind die Erfolge und die daraus resultierende Stärke der Emanzipation der letzten Jahrzehnte geblieben? Haben sich in einer Schrecksekunde in Luft aufgelöst. Einfach weg.

      Ich knie mich hin. Versuche, unter der Tür in die Kabine zu schauen.

      „Hallo! Was ist denn …?“

      „Helfen Sie mir …“ Es ist kaum zu hören. Nur dahin gehaucht. Begleitet von einem ebenso leisen Wimmern. Dann knallt etwas von innen gegen die Tür. Rutscht ein paar Zentimeter nach unten und schiebt sich unter der Tür hindurch. Ein Fuß. Der Fuß einer Frau. Schlank. Klein. Nur der Fuß. Kein Schuh.

      „Können Sie die Tür aufmachen?“ Keine Antwort. Nur wieder das Wimmern. Ich fühle mich wie betäubt. Irgendwie hilflos. Warum macht sie die blöde Tür nicht auf? Was ist passiert?

      Ich reiße mich aus diesem tranceähnlichen Zustand heraus. Springe auf, öffne die Tür der Nachbarkabine mit einem Ruck, steige auf die Kloschüssel und ziehe mich mit beiden Armen an der Trennwand hoch.

      Das sieht im Film immer so cool aus, wenn die Kerle mir nichts, dir nichts über solche Wände klettern. Aber die sind ja auch nicht nur 1,60 Meter groß. Für die ist das kein Problem. Für mich schon.

      Unter mir stöhnt die Frau wieder auf. Ich kann nur wenig erkennen. Offenbar blutet sie aus einer Wunde oberhalb der rechten Augenbraue. Nicht heftig, aber sie blutet.

      Ich kann mich nur mit Mühe halten und würde jetzt viel für eines dieser Urzeitklos geben, wo die Wasserspülung nicht nur hervorragend geeignet ist, um in ihrem Inneren Waffen, Geld oder Drogen zu verstecken, sondern auch, um daraufzusteigen und relativ problemlos über Zwischenwände klettern zu können.

      „Sind Sie gestürzt?“ Ein dumpfes Röcheln beantwortet meine Frage. Alkohol, schießt es mir durch den Kopf. Aber sie ist nicht gekleidet wie eine Frau, die ein 5:1 der Eintracht gegen Bayern München mit literweise Bier begießt. Eher Schampus, schätze ich mit einem abschätzenden Blick auf ihr dunkelblaues Kostüm, und fühle mich im gleichen Moment ganz schlecht dabei, über einen anderen Menschen überhaupt so etwas zu denken.

      Ich schaue mich um. An der Wand neben der Tür entdecke ich einen dunkelroten Fleck. Blut? Könnte sein. Könnte. Die Frau unter mir bewegt sich und plötzlich kann ich den Schriftzug auf ihrem Jackett sehen. Ganz zart gestickt. CPA. Sie hat die Uniform unseres Caterers an. Warum ist mir das nicht sofort aufgefallen?

      „Können Sie die Tür nicht öffnen?“, frage ich und versuche, meiner Stimme einen beruhigenden Ton zu geben. Dabei bin ich alles andere als ruhig. Ich hänge mit meiner halben Brust über einer 1,90 Meter hohen Trennwand, habe kaum Halt, kann mich mit den Füßen nicht abstützen und unter mir liegt eine Frau mit einer


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