Nachspielzeit. Dana Müller-Braun

Nachspielzeit - Dana Müller-Braun


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drehe Vera sanft zu mir um. Sie wehrt sich nicht wirklich und nimmt meine Schulter dankbar an. Lautes Schluchzen folgt. Ihr ganzer Körper schüttelt sich, und wir sinken zu Boden. Dabei kann ich sie nur mit Mühe festhalten. Aber es gelingt. Jetzt sitzen wir eng umschlungen mitten im Damenklo. Eine völlig abstruse Situation, passend für eine Komödie oder ein Drama. Ganz egal.

      Ein Laut reißt mich zurück in die Gegenwart. Wieder dieses herzzerreißende Schluchzen.

      „Warum? Warum hat er das gemacht?“, bricht es aus Vera heraus. Dann folgt eine kleine Ewigkeit nichts.

      Ich streichele ihr über die blonden Haare. „Wenn du mir erzählen magst, was passiert ist … ich höre dir zu.“

      „Es war doch nur ein Spiel. Eine kindische Wette. Er hat sich einen Kaffee bei mir geholt und wir haben herumgealbert. Er hat gesagt, die Eintracht wird zur Halbzeit 2:1 führen und mit mir um einen Kuss gewettet. So zum Spaß. Einfach nur eine Blödelei. Ich habe gedacht, den siehst du eh nie wieder. Aber er kam und hat sich seinen Kuss abgeholt. Ganz brav auf die Backe. Es war lustig und er war schon irgendwie mein Typ.“

      „Und dann?“

      „Hat er mir eine zweite Wette angeboten. Wenn die Eintracht das Spiel gewinnt, wollte er einen echten Kuss. Und einen für jedes weitere Tor, das die Mannschaft gegen die Bayern noch schießt. Und für mich 500 Euro für jedes Tor, das die Bayern noch schießen.“

      „500 Euro. Nicht schlecht.“

      „Ich konnte doch nicht ahnen, dass die wirklich fünf Tore schießen. Habe gedacht, die Bayern machen schon noch eins oder sogar zwei rein. Macht einen Tausender. Für mich. Das, was wir hier bekommen, ist nicht schlecht, aber … Hallo? Ein Tausender!

      „Und du hast ihm geglaubt?“, frage ich vorsichtig nach und bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihr die Geschichte so abnehmen soll. 500 Euro pro Tor … klingt nicht wirklich glaubhaft.

      Sie hebt angewidert die Mundwinkel. „Ja klar. Mein Gott. Fußball. VIP-Bereich. Da fliegen die Scheine doch immer tief.“

      Innerlich muss ich lachen. Ja, in der Fußball-Bundesliga geht es um eine Menge Geld. Und viele genießen es, ein Teil dieser Welt zu sein. Für 90 Minuten plus Nachspielzeit. Aber Fußball ist eben nicht nur Geld. Drüben in der Kurve, die sparen sich jede Fahrt und jede Eintrittskarte vom Mund ab. Und auch hier im VIP-Bereich gibt es eine Menge Leute, die ihr Geld hart verdienen.

      „Aber du siehst nicht so aus, als wäre es am Ende nur um ein paar Küsse für die drei Eintracht-Tore in der zweiten Halbzeit gegangen? Wieso bist du mit ihm aufs Klo?“, bohre ich nach.

      „Nein. Schlimmer.“ Sie schluchzt wieder laut auf. „Es war mein Vorschlag.“ Pause. „Es ist mein erster Tag heute. Was glaubst du, was die mit mir gemacht hätten, wenn ich an der Kaffeebar mit einem Wildfremden rumknutsche? Also habe ich vorgeschlagen, wir verziehen uns nach dem Spiel kurz auf die Toilette. Er war einverstanden und ein Freund von ihm hat gesagt, er steht Schmiere. Mein Gott, wie dumm bin ich denn?“

      Sie bricht ab und beginnt hemmungslos zu weinen. Über das, was passiert ist, und wahrscheinlich über ihre eigene Unbekümmertheit.

      „Er hat noch gesagt: Mäuschen, lass uns aus den vier Küssen doch lieber einen ordentlichen machen … und mir dann seine Zunge in den Hals gesteckt. Widerlich! Aber ich dachte immer noch: Okay, du blöde Gans. Das hast du dir schön selbst zuzuschreiben. Augen zu und durch. Statt der erhofften tausend Euro hast du eben nur einen scheiß Geschmack im Mund.“

      Ich starre sie an. Frage mich, ob ich an irgendeinem Punkt in meinem Leben ähnlich gehandelt hätte. Wie alt mag sie sein? Mitte, Ende 20? Ziemlich verkrachte Existenz, wenn du in dem Alter noch für Mindestlohn Kaffee servieren musst.

      Sie schaut mich an. Kann sie meinen Gedanken erraten haben? Wie peinlich ist das denn?

      „Alles gut, Vera“, plappere ich drauflos.

      „Nee, nichts ist gut“, antwortet sie aufgebracht. Als hätte sie tatsächlich meine Gedanken gelesen. „Plötzlich hat er mich herumgerissen und meine Brüste und meinen Hintern begrapscht. Ich habe gesagt, er soll sofort damit aufhören. Da hab ich auch schon seine Hand zwischen meinen Beinen gespürt. Mäuschen. Komm. Tu nicht so, als kämst du aus dem Nonnenkloster. Du willst es doch auch, du kleine Nutte, hat er mir ins Ohr gesabbert und versucht, meinen Rock nach oben zu schieben.“

      „Und dann?“ Eine dümmere Frage ist mir wahrscheinlich noch nie im Leben eingefallen.

      „Ich habe mich mit letzter Kraft aus seiner Umklammerung herausgewunden und ihm eine geklatscht.“

      „Gut so.“

      „Eher nicht. Er hat mit voller Wucht zurückgeschlagen“, sie deutet auf die derbe Rötung unterhalb ihres Auges. „Ich habe nur noch Sternchen gesehen, das Gleichgewicht verloren und muss beim Fallen auf die Kloschüssel geknallt sein. Dumme Fotze, hat er geschrien und ist einen Schritt zurückgegangen. Den Moment habe ich genutzt, um die Klotür vor seiner Nase zuzuknallen und abzuriegeln. Dann ist es dunkel um mich herum geworden.“

      Einen Moment lang überlege ich, wie ich mit dieser grauenvollen Geschichte umgehen soll. Dann treffe ich eine klare Entscheidung: „Vera, wir müssen die Polizei informieren. Hast du das verstanden? Da hilft uns der Sicherheitsdienst nicht weiter.“

      Vera rappelt sich mühevoll hoch. Es fällt ihr sichtlich schwer, aufrecht zu stehen. Sie dreht den Hahn auf und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Dann blickt sie sich selbst im Spiegel an. Eine gefühlte Ewigkeit lang.

      „Vera?“, frage ich.

      Sie überlegt einen Moment. Dann antwortet sie mit klarer Stimme: „Okay. Dann eben die Polizei. Aber glaub mir, die kriegen das nicht gebacken. Du musst mir helfen. Ihr habt doch überall Kameras. Kommst du an die Aufzeichnungen ran? Dann können wir den Mann identifizieren. So wie sie es letztes Jahr in einem Fanzug von München nach Gladbach gemacht haben. Nach der Vergewaltigung einer 19-Jährigen haben sie in Flörsheim den Zug gestoppt, das Opfer rausgeholt und von allen mitfahrenden Männern zwischen 18 und 50 bei den weiteren Haltepunkten Fotos gemacht. So haben sie das Schwein gekriegt.“

      Wow. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Die letzten Sätze kamen wie aus der Pistole geschossen, wie auswendig gelernt. Ich muss einen Moment nachdenken. Mir Klarheit verschaffen. „Vera. Beruhige dich. Wir tun alles. Natürlich. Aber ohne Polizei geht gar nichts. Die müssen alles veranlassen. Verstehst du? Ich kann da gar nichts machen.“

      In diesem Moment reißt Carlos die Tür auf. Er schaut erst mich, dann Vera an. „Was um Himmels willen ist hier passiert?“, will er mit bohrendem Blick wissen.

      „Das lässt sich nicht in zwei Sätzen erklären“, antworte ich zögernd, doch davon scheint er wenig zu halten.

      „Draußen stehen sich die Damen schon die Füße platt“, deutet er grinsend auf die Tür. „Also, wenn nichts beschädigt ist, sollten wir vielleicht in die Geschäftsstelle gehen und dort reden.“

      Mit diesen Worten schiebt uns der große Kerl mit einer ausladenden Handbewegung zur Tür hinaus. Vera zuckt nicht einmal, als er sie sanft anschiebt. Ihre Panik scheint verflogen.

      In meinem Büro angekommen, drücke ich ihr einen Kaffee in die Hand. „Schnaps?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ich noch zur Polizei soll – besser nicht.“

      Sie schaut erwartungsvoll zu Carlos, aber der scheint ausgerechnet jetzt unschlüssig. „Ihr müsst mir gar nichts erzählen. Sie müssen nur entscheiden, ob ich die Polizei einschalten soll. Dauert keine fünf Minuten, dann sind die Beamten hier“, erklärt er Vera. Sie nickt und schweigt.

      Für Carlos das Zeichen, dass er zunächst nicht aktiv werden muss. Er dreht sich Richtung Tür. „Ruf mich an, wenn sie sich anders entscheidet“, murmelt er. „Ich werde sie auf jeden Fall schon mal bei der Security als abwesend melden. Sonst sucht noch das halbe Stadion nach ihr.“

      Als die Tür ins Schloss fällt, setzt sich Vera auf. „Und nun?“, will sie wissen.


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