Nachspielzeit. Dana Müller-Braun
Uhr. Was kann ich tun? Der große VIP-Bereich vor der Terrasse ist fast leer. Ein paar „Bundestrainer“ können nicht aufhören, die 9. Minute zu sezieren. „Die Rote Karte für Boateng war’s. Keiner hat gegen den Trainer gespielt. Ein Mann weniger gegen unsere Jungs in einem Rausch … da haben sogar die Bayern die Hosen voll“, wabert eine Stimme zu mir herüber. Eine, die keinen Widerspruch duldet. Und doch reichlich dafür erntet. Ein wildes Durcheinander an Sprachfetzen saust auf den Redner nieder.
Ich wende mich ab. Blicke mich um. Die meisten haben sich längst auf den Nachhauseweg gemacht oder sind in Sachsenhausen eingefallen, um den Bayern auch noch die Unterhosen auszuziehen.
„Lydia? Du bist noch hier?“, höre ich plötzlich eine vertraute Stimme. Thomas Tamathi – sehr gut. Der Chef des Eintracht-Museums hat jetzt Feierabend und kann mir helfen, Eric zu finden.
„Hey!“, sage ich und wundere mich über die Freundlichkeit, die ich in einem Wort mit drei Buchstaben unterbringen kann. „Direktor! Dich schickt der Himmel!“
Was dann wohl eher eine Brise zu viel Freundlichkeit war.
„Keine Zeit“, antwortet er. Ohne, dass ich ihn überhaupt um Hilfe bitten konnte. „Bin verabredet und eh schon spät dran. Sorry, Lydia. Was immer es sein könnte, was du von mir willst – heute passt es gar nicht!“
„Tom. Warte. Ich brauch doch nur einen Tipp. Papa und Eric sind irgendwo in Frankfurt unterwegs. Hast du ’ne Ahnung, wo die beiden ihr Wiedersehen feiern könnten?“
Tom dreht sich im Gehen zu mir um. Eigentlich geht sein Körper weiter und nur der Kopf schaut noch zu mir.
„Na ja. Beim Griechen? Oder in Orpheus Unterwelt? Oder sie machen ’ne Tour durch die Stadt. Morgen früh sitzen sie dann bei Eric im Garten.“ Ich bewundere diesen Mann dafür, dass er nie um eine Antwort verlegen ist, aus tiefstem Herzen. Trotzdem antworte ich eher patzig.
„Na danke. Soll ich jetzt dorthin fahren und warten, bis sie eintrudeln, und mir den Tod holen? Es ist November, Tom. Aber trotzdem danke für den Tipp.“
Tom antwortet nicht. Hält stattdessen sein Handy hoch und wackelt damit hin und her.
Wie war das mit den Freunden, bei denen du keine Feinde mehr brauchst? Als ob ich nicht längst versucht hätte, Eric und Papa auf dem Handy zu erreichen.
Also gut. Dann zuerst der Grieche. Die Kneipe, die Amanatidis vor Jahren aufgemacht hat. Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden dort auf dem Tisch tanzen. Papa ist zwar seit seinem Schlaganfall nicht mehr gut zu Fuß, aber für einen Sirtaki mit Erics Hilfe und etlichen Ouzos im Blut könnte es an einem solchen Abend schon noch reichen, befürchte ich.
Es ist fast halb neun, als ich ins Parkhaus Börse einbiege. Von hier aus sind es bis in die Kaiserhofstraße nur ein paar Schritte. Ich stelle mein Auto in der zweiten Etage ab und sause schnell in Richtung Aufzug. Parkhäuser sind nicht gerade das, was ich als meine Lieblingsorte bezeichnen würde. Vor allem die Aufzüge. Zu oft sind mir dort merkwürdige Gestalten begegnet. Kerle, die so unverhohlen auf meine Brüste gestarrt haben, dass ich dachte: Hallo! Ich gucke doch auch nicht auf die Minibeule zwischen deinen Beinen wie eine notgeile Schlampe.
Mit 18 bin ich die Treppe gelaufen. Und wenn ich mit anderen im Aufzug war, habe ich immer an meinem Mantel herumgenestelt und ihn schützend vor der Brust zusammengekrempelt. Bis ich 25 war, habe ich deshalb Parkhäuser gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Heute ist mir das ziemlich egal. Lass sie doch starren. Wenn ich mit dem Aufzug fahre, weil ich in Begleitung bin, stelle ich mir dann immer vor, wie es wäre, wenn ich so einen Typen – vor allem wenn seine Frau dabei ist – ganz laut fragen würde: Na, Kleiner, mal wieder Lust auf eine ordentliche Nummer? Aber das wird sicher nicht passieren.
Vor dem Parkhaus steht eine Gruppe Männer am Automaten. Ein großer Blonder überragt die anderen und sofort kommt mir Vera in den Kopf.
„Der Kerl hatte ganz helle Haare. Fast gelb und zwei Finger haben ihm gefehlt. Der Zeigefinger und der Mittelfinger der rechten Hand“, hat sie gesagt und ich ertappe mich dabei, nach der rechten Hand des Blonden zu schielen.
„Lydia Heller! Reiß dich zusammen“, murmele ich fast unhörbar in mich hinein und beiße mir dabei ein kleines Stück Haut aus der Lippe.
Sev hätte mir eigentlich zur Seite stehen können. Aber der Idiot lässt mich hängen und ist sicher wieder mit Tim unterwegs. Die beiden sind ja anscheinend beste Freunde. Seit der Türkei. Dass ich es war, die ihn im Stadion ziemlich brüsk nach Hause geschickt hat, verdränge ich ungeniert.
Es hilft nichts. Ich muss mir meinen Weg mitten durch die Gruppe bahnen. Zwei haben ein Eintracht-Trikot an. Könnte also sein, dass sie mich kennen. Außerdem bete ich innerlich, dass sie wenigstens ihre gute Kinderstube nicht mit dem letzten Glas Bier weggeschwemmt haben.
„Na, schöne Frau, wohin so spät?“, bewegt sich einer der Kerle auf mich zu. Er weiß genau, dass ich an ihm vorbei muss, und macht sich extra breit.
„Direkt zur Polizei, wenn Sie nicht sofort Platz machen“, herrsche ich ihn an. Und tatsächlich: Der Kerl ist sichtlich eingeschüchtert und weicht zurück. Seine Freunde lachen.
„Na, Hannes? Abgeblitzt bei der Schönen, oder was?“, will der große Blonde wissen, der seine Hand immer noch tief in der Manteltasche vergraben hat.
So kalt ist es doch gar nicht, denke ich und bereite mich schon auf den nächsten verbalen Angriff vor.
„Sollen wir dich nicht besser beschützen? In dieser Stadt weiß man nie, was alles passieren kann“, fragt der Große jovial und hält mir doch tatsächlich seine Hand entgegen. So wie d’Artagnan, wenn er einer Dame aus der Kutsche hilft.
„Männer. Ihr könnt jetzt noch ein bisschen hier herumalbern, aber besser wäre es, wenn ihr mich einfach vorbeilasst. Und gut ist.“
Meine Stimme hat keinen Moment gezittert. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, sie zu gebrauchen. Deutlich zu sein. Jedenfalls beruflich. Privat – na ja.
Aber es wirkt. Wenn auch unter dem Gemaule der Gruppe. Sprüche wie „Man wird doch wohl noch nett sein dürfen?“, „Und wenn man sie gar nicht beachtet, ist es auch falsch“ und „Wohl vom anderen Ufer, die Tussi?“ folgen mir. Und ich bin froh, dass sie leiser werden und mein Herz nicht mehr so laut schlagen muss.
Beim Griechen baut sich ein baumlanger Mitarbeiter direkt hinter der Eingangstür vor mir auf. „Wir sind voll“, radebrecht er in einer wahrlich einmaligen Deutsch-türkischen-irgendwie-Mischung über mich hinweg.
„Das sehe ich. Sagen Sie: Ist Eric Presfeth da?“
„Und wenn?“, grinst der Riese.
Ich atme tief durch.
„Dann wüsste ich gerne, wo er sitzt. Ich muss mit ihm reden!“
Der Lulatsch blickt zu mir hinunter. Nickt leicht, um dann plötzlich mit dem Kopf zu schütteln: „Kommst du zu spät, kleines Fräulein. Ise schon wieda weg gegange. War mit so eine Rollitype da. Coole Gang, die zwei!“
Ich warte gar nicht erst ab, bis er mir noch mehr Einzelheiten verkünden kann, und drehe mich mit einem Okay! ab. Dann überlege ich es mir anders.
„Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollen? Ein Taxi bestellt?“, will ich wissen.
„Keine Taxi. Sind zu Fuße weg. Also die Eric. Andere Mann auf Rolle.“
Andere Mann auf Rolle, scheppert es in meinem Kopf. Die findest du nie – ohne Reiseführer.
Ich krame das Handy aus meiner Tasche und tippe auf Severins Nummer. Da saust plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Eine ziemliche Pranke. Mein Kopf fliegt herum. „Max!?“
„Ja, Ly! Suchst du immer noch deinen Papa und den lieben Eric?“ Ein gurgelndes Lachen begleitet den Satz. Offenbar hat Max die zwei letzten Stunden anders genutzt als ich.
„Ja“, antworte ich und bin nah dran, Max von Vera und