Nachspielzeit. Dana Müller-Braun

Nachspielzeit - Dana Müller-Braun


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ich wissen, bekomme aber erneut nur einen gurgelnden Laut als Antwort. „Sagen Sie doch etwas! Irgendetwas!“, klinge ich nun alles andere als beruhigend. Dann gebe ich mir einen Ruck und schiebe mich mit letzter Kraft weiter über die Wand auf die andere Seite.

      In diesem Moment reißt jemand unter mir die Tür auf. „Was ist denn hier los?“, ruft eine Frau offenkundig verwirrt. „Helfen Sie mir hinüber“, antworte ich und bin froh, dass sie nicht weiter fragt, sondern meinen rechten Fuß so von unten stützt, dass ich mein anderes Bein über diese verfluchte Wand bugsieren kann. Dann geht es schnell. „Vorsicht!“, kann ich noch rufen, bevor ich ziemlich unsanft zwischen der Porzellanschüssel und der Frau lande. „Rufen Sie bitte jemanden vom Ordnungsdienst“, befehle ich und höre an der zufallenden Tür, dass meine Helferin keine Fragen stellen will.

      „Danke“, krächze ich ihr hinterher. Danke, dass sie Hilfe holt, und danke, dass sie keine weiteren Fragen stellt.

      Die Frau neben mir stöhnt wieder. Ich versuche, nach ihrem Handgelenk zu greifen. Puls fühlen, habe ich mal im Erste-Hilfe-Kurs gelernt. Und natürlich die stabile Seitenlage … Hier auf dem Klo? Wie soll das gehen? Und der Puls ist auch egal. Sie lebt ja ganz offensichtlich. Aber: Sie muss raus hier, da bin ich sicher. Also schiebe ich meinen Körper langsam mit dem Rücken an der Wand nach oben. Versuche sie dabei auf keinen Fall einzuquetschen und über sie hinweg an den Verschlussmechanismus der Tür zu kommen. Ich schiebe den Riegel auf Grün und ziehe sanft am Griff.

      Ihre Beine sind im Weg. Wir kommen hier nicht raus. Warum müssen Toilettentüren nach innen aufgehen? Kneipentüren müssen doch auch nach außen aufgehen. Damit man im Notfall rauskommt. Warum gilt das nicht für Toilettentüren? Verdammt! Warum nicht? In diesem Moment stürzt jemand in den Raum.

      „Wir sind vom Ordnungsdienst. Brauchen Sie Hilfe?“, höre ich eine aufgeregte Stimme.

      „Wäre nicht schlecht“, antworte ich und kann mir eine kleine Portion Ironie nicht verkneifen. „Hier ist eine Frau, die ist ohnmächtig und ich bin über die Trennwand geklettert, um ihr zu helfen.“

      „Was ist passiert?“ Die Frau neben mir hat plötzlich ihre Augen geöffnet und ist außer sich. Sie schlägt wild um sich. So, als müsste sie mich abwehren.

      „Beruhigen Sie sich, bitte. Mein Name ist Lydia Heller. Ich habe Sie hier auf der Toilette gefunden. Sie sind verletzt und waren ein paar Minuten ohnmächtig“, rede ich auf sie ein.

      „Wo ist er? Ist er noch hier?“ Ihre ängstlich aufgerissenen Augen zeigen deutlich: Hier muss etwas Schlimmes passiert sein.

      „Wen meinen Sie? Hier war niemand außer uns beiden. Und jetzt sind ein paar Helfer gekommen. Sie werden versuchen, die Tür zu öffnen.“

      „Bitte nicht. Er soll hier nicht reinkommen!“

      „Aber wir müssen Sie hier rausholen. Sie bluten und haben einen ordentlichen Schlag abbekommen. Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung!“

      „Nein. Bitte nicht. Sagen Sie den Männern, sie sollen rausgehen. Sagen Sie es ihnen! Jetzt! Sofort! Raus, raus, raus!“

      Ich nehme ihren Kopf in beide Hände und versuche, beruhigend, aber bestimmt, auf sie einzureden. „Frau … wie heißen Sie?“

      „Vera. Vera Lichtenthaler.“

      „Also gut, Frau Lichtenthaler – Vera. Ich schicke die Männer weg. Ich sage ihnen, sie sollen draußen warten. Okay?“

      Die Frau nickt stumm. Ihre Augen schauen mich immer noch voller Panik an und in mir macht sich ein furchtbarer Verdacht breit.

      „Vera. War da ein Mann bei Ihnen? Hier auf der Damentoilette?“, frage ich ernst und beobachte ihre Augen ganz genau. Sie sind immer noch angstvoll aufgerissen. So, als wollten sie mir eine schreckliche Geschichte erzählen – können es aber nicht. Weil Augen nur Geschichten erleben. Nicht erzählen.

      Sie nickt. Schlägt ihre Hände vors Gesicht und schluchzt laut auf. „Aber ich wollte das doch nicht. Ich habe Nein gesagt! Ich habe klar und eindeutig Nein gesagt.“

      „Ist er Ihnen auf die Toilette gefolgt?“ Sie schweigt. Versucht tonlos einen Weinkrampf zu unterdrücken. Ihre Augen sehen mich dabei hilfesuchend an. „Nein?“, frage ich. „Nicht gefolgt? Was dann?“

      „Es war doch nur eine Wette. Ein Spaß. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass mich ausgerechnet hier jemand …“ Sie bricht ab und schlägt wütend mit der Faust auf die Wand ein.

      „Kennen Sie den Mann?“, will ich wissen und ernte heftiges Kopfschütteln.

      „Das war mein erstes Spiel heute. Bin eingesprungen für eine kranke Kollegin. An der Kaffeebar. Wen sollte ich hier schon kennen. Nein. Er war groß. Sehr charmant. Nett. Blaue Augen. Und er hat nach Davidoff gerochen.“

      „Davidoff?“ Ich bin überrascht, dass sie sich an dieses Detail erinnert.

      „Ja. Davidoff. Das weiß ich genau. Mein Vater hat das auch benutzt: Davidoff Hot Water. Diesen Hauch von Patchouli würde ich immer erkennen.“

      Ich höre nur mit einem Ohr zu. Längst ist mein Job in meinem Kopf angekommen. Gedankenfetzen sausen durch mein Hirn. Kann das sein? Ein Übergriff auf eine Frau hier im VIP-Bereich. Von einem unserer Gäste. Während die Eintracht den FC Bayern demütigt. Im Kopf gehe ich die Gesichter durch, die mir auf Anhieb einfallen. Nein. Keinem, den ich kenne, würde ich so etwas Unfassbares zutrauen. Auch, wenn es immer wieder Berichte darüber gibt, dass die Hostessen übelst von den Männern angemacht werden. Ich muss mehr in Erfahrung bringen.

      „Was genau ist passiert? Erzählen Sie mir alles. Dann kriegen wir das Arschloch“, flüstere ich Vera ins Ohr, um ihr die Sicherheit zu geben, dass sie nicht allein ist. Ich erschrecke über meinen rüden Ton. Arschloch zählt ganz und gar nicht zu meinem alltäglichen Vokabular. Normalerweise. Jetzt schon.

      Für einen Moment scheint sie sich tatsächlich zu beruhigen. Ihre Hände entspannen sich leicht. Sieht ganz so aus, als hätte mir mein kurzzeitiger Ausritt in die Niederungen der deutschen Sprache ihr Vertrauen eingebracht.

      Irgendjemand klopft an die Tür.

      „Mein Name ist Klaus Hanner. Können Sie ein bisschen von der Tür wegrücken, dann schieben wir sie so weit auf, dass wir Sie rausholen können.“ Die Männerstimme auf der anderen Seite klingt vertrauenerweckend. Trotzdem zuckt Vera erneut zusammen und hebt ihre Hände wieder vors Gesicht. Ich bin überrascht über die heftige Reaktion auf die freundliche Stimme.

      „Ja, machen Sie und wenn ich es sage, verlassen Sie sofort den Raum. Verstanden?“ Ich lasse keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es mir bitter ernst ist mit meiner Anweisung.

      „Sie gehen raus und informieren Carlos, den Sicherheitschef. Er ist wahrscheinlich noch bei der Pressekonferenz. Suchen Sie ihn, finden Sie ihn und bringen Sie ihn auf schnellstem Weg her. Sagen Sie ihm, Lydia Heller, die stellvertretende Pressesprecherin, braucht ihn. Er kümmert sich dann um alles.“

      Ich überrasche mich doch immer wieder selbst. Wie klar meine Gedanken gerade in Ausnahmesituationen sind. Und wie sehr ich mit meinem Job verwachsen bin. Jeder andere hätte die Polizei und einen Notarzt angefordert. Ich aber will den Sicherheitschef. Weil ich weiß, er ist hier im Stadion am nächsten dran und kann ohne Verzögerung alles Erforderliche in die Wege leiten.

      Plötzlich ist die Erinnerung an den 19. Oktober vor einem Jahr wieder da. Die Toten in der Tiefgarage. Severin blutüberströmt. Die Bombe, die zum Glück nur eine Attrappe war. Kaschrek! Noch so ein Arschloch …

      Von draußen schiebt dieser Hanner mit der Tür unsere beiden Körper zentimeterweise Richtung Kloschüssel. Mit Erfolg. Sekunden später sehe ich für einen Moment in zwei braune Augen unter einem wuscheligen Blondschopf. Der Mann zur Stimme. Ich bitte ihn mit einem dankbaren Nicken in Richtung Tür, unsere Vereinbarung zu erfüllen.

      „Ich geh dann mal und suche … wie … Carlos. Okay. Das mache ich“, rappelt er sich hoch und verschwindet.

      Vera


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