Nachspielzeit. Dana Müller-Braun
Und dann ist die Sache wohl eskaliert ...“
„Lydia. Hat sie bei der Polizei eine Anzeige erstattet?“
„Ich denke ja, aber ich weiß es nicht so genau. Wir haben mit ihr gesprochen und dann ist sie weg.“
„Wir?“
„Ja. Carlos und ich und äh … Severin.“
„Severin Klemm? Was hat der denn damit zu tun? Als ob die Geschichte aus der Türkei nicht genug Wellen geschlagen hat!“
Erics Blick ist plötzlich seltsam ungehalten. Na klar: Er hat sich auf meine Bitte hin bei Galatasaray dafür eingesetzt, dass Severin bis zu seiner Verhandlung erst einmal nach Deutschland ausreisen darf. Begeistert war er nicht. Im Gegenteil.
„Du weißt schon, dass die Türken jetzt etwas bei mir gut haben, Lydia. Das gefällt mir nicht. Ich habe nicht gerne Schulden!“
Hätte ich mir eigentlich denken können, dass dieses Gespräch eher unangenehm wird.
„Ja, aber das Ganze hörte sich so an, als ob die Wett-App damit zu tun haben könnte. Ich wollte erst abklären, ob es nur um ein blödes Spiel ging.“
„Und?“ Max Augen sind leicht aufgerissen. Den Teil hatte ich im Auto nicht erwähnt.
„Er sagt Nein“, antworte ich schnell und bete heimlich dafür, dass sich der Boden unter meinen Füßen auftut und ich in einem großen schwarzen Loch verschwinden kann. Was habe ich mir nur dabei gedacht, solch einen Aufstand zu machen. Es ist doch gar nicht meine Angelegenheit, zu klären, was da zwischen Vera und dem Kerl abgelaufen ist. Das soll die Polizei machen. Warum habe ich nicht einfach die Polizei gerufen?
„Hat sie nun eine Anzeige gemacht oder nicht?“, fragt Eric noch immer mit diesem leicht genervten Unterton.
So, als würde er gleich losbrüllen: „Verdammt, Lydia. Dein Vater und ich sind erwachsene Männer. Du solltest aufhören, dich als Kindermädchen aufzuspielen. Das hast du bei deinem alten Herrn ohnehin viel zu lange getan. Werd endlich selbst erwachsen! Und vor allem hör auf, dir irgendwelche abstrusen Geschichten auszudenken, um uns hier auszuspionieren.“
Recht hätte er und ich bin froh, dass er es bei einem genervten Blick zur Decke belässt.
Ich nicke. „Ich glaube schon. Sie war ziemlich angenervt von Sev.“ Ich mache eine kurze Pause und nehme dann meinen ganzen Mut zusammen. „Und wenn die Polizei morgen im Stadion auftaucht, um Spuren zu sichern oder die Überwachungsbänder zu konfiszieren?“
„Dann wird Carlos das regeln!“, knurrt Eric und schenkt Papa von dem Rotwein nach.
„Und die Presse?“
„Die sind Sonntag zum Auslaufen eh da. Und nach unserem gigantischen Sieg gegen die Bayern wahrscheinlich in doppelter Stärke. Aber: Wir haben einen Pressesprecher. Hallo! Vergessen? Informiere ihn gleich morgen früh … Ach nein. Besser, ich schicke ihm eine WhatsApp – wir können ja nichts dafür, wenn irgendein Zuschauer so ’ne Scheiße macht.“
Ich nicke stumm. Wahrscheinlich haben Max und Eric recht. Vermutlich wird die ganze Geschichte sowieso im Sande verlaufen. Wer weiß, ob Vera überhaupt eine Anzeige erstattet hat. Nur mit einer Wunde am Kopf lässt sich doch eh nichts beweisen. Das kennt man doch, versuche ich mich zu beruhigen und mir den Gedanken daran, dass irgendetwas an ihrer Geschichte nicht zusammenpasst, aus dem Kopf zu schlagen. Betonung auf versuchen. Ich kenne mich zu gut, um ernsthaft davon auszugehen, dass das klappt.
Plötzlich dreht sich Papa um, hält mit Mühe das Gleichgewicht und wischt mit einer ausholenden Handbewegung jeden Widerspruch von vornherein weg.
„Also. Freunde der Nacht. Können wir dann mal zum Wesentlichen zurückkommen. 5:1 haben wir die Bayern weggeballert. 5:1. Da werden wir uns doch nicht von irgendwelchen kri … krinima … listischen Ungereimtheiten die gute Laune verderben lassen, oder?“, zeigt die zweite Flasche Burgunder, die Eric und er geköpft haben, Wirkung.
„Lydia Heller. Meine Lydia. Ich sage es äußerst ungern, aber hier ist jetzt eine reine Herrenrunde angesagt. Kein Platz mehr für das schwache Geschlecht“, prostet er mir mit einem Zwinkern zu.
Ich schaue kurz zu Max. Er ist schließlich mit mir hergekommen. Aber seine Handbewegung zeigt mir deutlich, dass er nicht daran interessiert ist, mit mir zurückzufahren. Mit sicherem Blick hat er festgestellt, dass es an Rotwein-Nachschub in dieser Nacht nicht fehlen wird. Und an alten Eintracht-Geschichten ohnehin nicht. Mit einem Grinsen hält er mir seinen Autoschlüssel vor die Nase.
„Nimm meinen Wagen. Es dürfte ohnehin besser sein, wenn der nicht hier in der Nähe auf mich wartet.“
Ich rappele mich langsam auf. Bin aber über die Entwicklung noch ein wenig verwirrt und fühle mich an den Film Drei Männer im Schnee erinnert.
„Okay. Papa. Eric. Max. Habt einen schönen Abend. Und … äh … macht keinen Scheiß! Ich brauche euch morgen früh.“
KAPITEL 4
DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019, 19:45 UHR
SEVERIN
Es gibt zwei Arten von Menschen“, nuschle ich und nippe an meinem Bier. „Lydia Heller und Severin Klemm.“
Tim und Achim werfen mir irritierte Blicke zu.
„Was?“, blaffe ich und verdrehe die Augen. „Sie versteht einfach nicht …“
„Sev. Sie hat dir wirklich geholfen. Du bist ihr was schuldig“, mischt sich Tim ein.
„Trotzdem hat sie keinen Grund, mich um Hilfe zu bitten, nur um mich dann wieder abzuservieren.“
Ich trinke weiter. Wahrscheinlich habe ich längst genug. Aber die letzten Tage haben so einiges aufgewühlt. Lydia, das Stadion … aber vor allem der tote Junge.
„Das war am Samstag. Heute ist Dienstag. Komm drüber weg.“
„Ich verstehe nicht, warum sie diese App weiterlaufen lassen“, weiche ich vom Thema ab und hebe meine Hand, damit die Bedienung, die hinter den Glasfenstern am Börsenplatz gerade ihre Zigarette ausmacht, zu mir kommt, bevor sie zur Bar geht.
„Was genau macht man da eigentlich? Ging es nicht nur um Eintracht-Fragen?“ Achim legt nachdenklich einen Finger auf die Oberlippe und streicht über seinen Schnauzer. Irgendein neuer Trend, den ich Gott sei Dank nicht mitmache.
„Erst waren es nur Fragen … Erst sind es nur Fragen“, sage ich und deute der Bedienung, dass sie noch drei Bier bringen soll. „Wenn man das hinbekommt, kommt man irgendwann in Runde zwei und wird zum Silber-Spieler. Da muss man dann die Orte aufsuchen, an denen die Geschichte zur Frage passiert ist. Also das Stadion oder den Römer oder was weiß ich.“
Tim wird unruhig. Beinahe so, als würde er hier jemanden von den App-Betreibern erwarten, der mich wieder in einen Hinterhalt locken und bedrohen will.
„Dann wirst du Gold-Spieler und hast die Chance auf einen Jackpot. Dafür musst du an Orte, die dir die App sagt, und die Antwort von dort herausbrüllen.“
„Klingt wie ein harmloses Spiel“, quittiert Achim meine Ausführungen.
Ein Lachen entfährt mir. Eins, das so freudlos klingt, dass es mich selbst erschreckt. Ich verenge meinen Blick und beuge mich vor. „Es ist tödlich. Die Orte sind gefährlich, Achim.“
„Wie das Fenster einer Uni?“ Er kann sich ein blödes Grinsen nicht verkneifen.
„Genau“, brumme ich im Gleichtakt mit meinem Handy. Ich werfe kurz einen Blick darauf und fluche innerlich.
Wo bist du? Bin in deiner Wohnung.
„Ladies, ich muss euch verlassen“, sage ich genervt, krame einen Zehner aus meiner Tasche und lasse ihn auf den Tisch segeln. „Genießt das Bier.“
„Und wer fährt dich?“ Tim schüttelt genervt den Kopf, legt dann ebenfalls Geld dazu und entschuldigt sich bei Achim, der nur abwinkt.