Nachspielzeit. Dana Müller-Braun
verrückt. Weil ich es nicht leiden kann, wenn in meinem Kopf diese Nebel durchziehen. Ich möchte mich dann am liebsten schütteln und mir so lange mit der flachen Hand auf die Stirn klopfen, bis ich wieder klarsehe. Wobei: Es könnte ja auch sein, dass sie sich einfach nur vertan hat, als sie sagte, sie habe das Gleichgewicht verloren und sei wohl beim Fallen auf die Kloschüssel geknallt. Bei dem, was ihr passiert ist, gut denkbar.
„Die sitzen bei deinem Papa in Zeilsheim und erzählen sich alte Geschichten. Lass sie. Etwas Besseres können sie nach so langer Zeit nicht tun. Sie waren gute Freunde und gute Freunde müssen vor allem eins: reden.“
Max ist offenkundig bei weitem nicht so betrunken, wie seine allzu stürmische Begrüßung es hatte vermuten lassen. „Kann schon sein, dass du recht hast, aber wir beide werden das traute Glück jetzt ein bisschen unterbrechen!“
„Nö. Tun wir nicht!“, grummelt Max und zieht dabei eine Grimasse.
„Doch!“, antworte ich ruhig und schiebe ihn zur Tür hinaus.
„Es könnte sein, dass wir ein ziemlich großes Problem bekommen“, versuche ich besonders ernst zu klingen. Mit wenig Erfolg.
„Ein Problem, Ly?“, lacht Max. „Wir haben die Bayern mit 5:1 aus dem Stadion geschossen. Die haben ein Problem. Ich fürchte, Nico hat ein Problem. Wir nicht. Heute jedenfalls nicht!“
Er ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es keinen Alkohol braucht, um besoffen vor Glück zu sein.
„Max. Im Ernst. Ich weiß ja, dass heute wie Weihnachten und Ostern an einem Tag ist, aber wir müssen reden. Wir beide und am besten du, Eric und ich!“
Max sieht so aus, als würde ihm gerade alles aus dem Gesicht fallen. Offenbar hat er an meinem Ton erkannt, dass der Spaß jetzt erst einmal für ein paar Stunden vorbei sein wird.
„Okay. Dann lass uns mal fahren. Und vielleicht bist du so nett und klärst mich auf dem Weg nach Zeilsheim schon mal auf. Ich habe nämlich keine Ahnung, ob wir von Eric und deinem Vater überhaupt noch ein klares Wort zu hören bekommen.“
Eigentlich müsste ich mir bei dieser Ankündigung Gedanken um meinen Vater machen. Der Mann hatte schließlich vor 15 Jahren einen Schlaganfall, an dessen Folgen er bis heute laboriert. Sein Kopf ist klar und er hat gelernt, wieder ohne zu holpern zu sprechen. Nur das linke Bein versagt nahezu komplett seinen Dienst. Weshalb er im Rollstuhl durch sein kleines Häuschen kurvt und sieben Jahre Überredungskünste nötig waren, ihn von einem Treppenlift zu überzeugen. Sieben Jahre, in denen er das Gäste-WC mit Minidusche dem geräumigen Bad im ersten Stock vorgezogen hat. Meistens mit den Worten „Geht schon!“.
Und nun hockt er offenbar mit seinem ältesten und gerade wiedergewonnenen Freund in seiner verstaubten Kamorke und ist wahrscheinlich schon längst nicht mehr zurechnungsfähig. Natürlich mache ich mir Sorgen!
Max mustert mich eindringlich. „Ly, mach dir nicht so viele Gedanken. Die beiden sind keine kleinen Jungs mehr. Und Eric weiß, was er tut. Auf jeden Fall nichts, was deinem Vater schaden würde. Da bin ich sicher“, versucht er mich zu beruhigen. „Und jetzt erklär mir doch mal in drei Sätzen, warum wir überhaupt zu diesen beiden Oldies fahren, statt beim Griechen auf unseren Sieg anzustoßen.“
„Ich habe einfach ein blödes Gefühl in der Magengegend und will vermeiden, dass wir in etwas hineinschliddern.“
„Hineinschliddern“, wiederholt Max amüsiert.
„Ich habe auf der Toilette im VIP-Bereich eine Frau gefunden. Diese Vera Lichtenthaler ist offenbar von einem unserer VIP-Gäste attackiert worden. Jedenfalls hat sie eine Platzwunde am Kopf. Und jetzt ist sie bei der Polizei und macht eine Aussage. Und ich weiß nicht genau, was sie erzählt.“
Max nickt, aber wirklich überzeugt ist er ganz offenkundig nicht, dass die Geschichte auf uns zurückfallen könnte. Es kommt mir eher so vor, als sei er vor allem darauf gespannt, was uns bei meinem Vater erwartet.
„Dritte links und brems bitte rechtzeitig vor der Haustür“, höre ich mich sagen. Und schüttele ungläubig den Kopf. Das kann doch nicht sein, dass man manche Sachen einfach nicht los wird. Ich erkläre Max, der nebenbei erwähnt schon oft hier war, wie er fahren muss. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmele ich.
„Dass du mir den Weg zu euch erklärst, wie es deine Mutter immer getan hat?“
„Ja“, antworte ich, ohne zu zögern. Warum auch. Max und ich kennen uns schon so lange. Lange, bevor er in den Vorstand der Eintracht berufen wurde. Wenn er nicht mein Chef und ich seine Mitarbeiterin wäre, würde ich sagen, wir sind eine Familie. Freunde auf jeden Fall.
„Mach dir nichts draus. Hat dein Papa auch immer so gemacht. Sogar, als sie euch schon lange verlassen hatte.“
Das Haus liegt in einem schummrigen Dunkel. So wie die ganze Straße. Künstlich durch ein paar Laternen und die Scheinwerfer unseres Wagens erleuchtet. Kein Licht von innen.
„Bist du sicher, dass sie da sind?“, frage ich halblaut.
„Ja!“, Max deutet auf einen Wagen in der Einfahrt. „Soweit ich weiß, fährt dein alter Herr nicht mehr. Und das da sieht eher nach Erics Karre aus.“
Mein Puls sinkt spürbar. Sie sind zu Hause. Mehr als eine Alkoholvergiftung und Wahnvorstellungen sind nicht zu befürchten. Gut so.
„Hast du einen Schlüssel?“, will Max wissen, nachdem er zweimal vergeblich auf den Knopf gedrückt hat. „Fürchte, die Klingel ist abgestellt.“
Als ob Papa mir einen Schlüssel überlassen hätte.
Ich bollere mit beiden Fäusten an die Tür. Mit einer Mischung aus Wut, Angst und Sorge. Nicht nur um Papa. „Hallo? Macht auf, bitte. Wir haben ein Problem!“
Max neben mir grinst. „War das nicht Houston mit dem Problem?“
Dann legt er den Finger auf seine Lippen.
„Psst!“
Und tatsächlich: Von drinnen hören wir Geräusche.
„Wer da?“, kommt es schroff.
„Ich bin es, Papa. Und Max. Wir müssen etwas mit Eric besprechen. Mach bitte auf“, rufe ich und hänge ein „Geht es euch gut?“ dran.
„Was ist das denn für eine Frage?“
Die Tür öffnet sich und Papa steht vor mir.
„Wo ist dein Rollstuhl?“, stottere ich fassungslos.
„Da“, deutet Papa mit dem Daumen hinter sich. „Eric hat gemeint, ich soll mal hier nicht das Mädchen geben.“
Ich starre ihn an. „Das Mädchen geben?!“
„Ja. Der Präsi findet: Schlaganfall hin oder her. Ich soll mich nicht so hängen lassen.“
„Aha“, sage ich und muss ernsthaft darüber nachdenken, was ich in den vergangenen 15 Jahren bei der Betreuung falsch gemacht habe. Mein Blick spricht Bände.
„Du bist eben nur meine Tochter und nicht der Präsi“, doziert Papa mit einem Grinsen. Dann wird er ernst.
„Wir haben noch gute zehn Jahre Vergangenheit aufzuholen. Also: Was müsst ihr so Wichtiges mit uns besprechen?“
Ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu sammeln. Eigentlich ist in den letzten vier Stunden viel zu viel passiert, um dies in annehmbarer Form zu präsentieren.
„Eine der Catering-Aushilfen im VIP-Bereich ist offenbar sexuell und körperlich attackiert worden. Ich habe sie auf der Damentoilette gefunden. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf.“
„Im VIP-Bereich?“
„Ja, Papa. Im VIP-Bereich. Als ihr losgezogen seid, bin ich auf die Toilette und habe sie gefunden.“
„Und die Polizei gerufen, nehme ich an?“, steckt Eric den Kopf aus Papas Kammer und mischt sich unvermittelt in das Gespräch ein.
„Ja.