Unsichtbare Architektur. Inge Podbrecky
im Ausland
PERSONEN, KÜNSTLERVEREINIGUNGEN, INSTITUTIONEN
„GIBT ES EINE AUSTROFASCHISTISCHE ARCHITEKTUR?“
Literatur- und Quellenverzeichnis
Liste der verwendeten Zeitungen und Zeitschriften
Einleitung
In der Tautenhayngasse 28 im 15. Bezirk steht ein recht wienerischer Wohnbau: Vier Trakte um einen geräumigen, begrünten Hof mit einem einzigen Zugang, an der Ecke ein flach gedeckter Turm (Abbildung 1).
Abbildung 1: Franz Wiesmann, Wien 17, Tautenhayngasse 28, 1936 (Foto Bundesdenkmalamt/Bettina Neubauer-Pregl)
Abbildung 2: Ludwig Davidoff, Elderschhof, Wien 2, 1930/1931 (Foto Bundesdenkmalamt/Bettina Neubauer-Pregl)
Die Fassaden sind schlicht, die Fenster einfach eingeschnitten, ohne Rahmungen. Ihr Rhythmus gliedert die Fassaden und zeigt Lage und Funktion der Räume dahinter an. Im Inneren liegen kleine Wohnungen mit Vorzimmer, Wohnküche, WC und Zimmer. Ein „Gemeindebau“ der 1920er Jahre, wie es scheint (Abbildung 2). Die Einordnung fällt leicht, denn die Wohnbauten des Roten Wien sind im Stadtbild so präsent, dass das Identifizieren sozialdemokratischer Gebäude mitsamt ihrer dahinter stehenden Ideologie geradezu reflexartig erfolgt: Die Geschlossenheit der Anlage gegen die umgebenden Straßen, die Enklave des abgeschirmten Hofs, die expressive Geste des Turms, die No-Nonsense-Fassaden, sogar die Inschrift „Erbaut von der Gemeinde Wien im Jahr 1936.“
Aber 1936? Mitten im Austrofaschismus erbaut, in einer Epoche, an deren Beginn die blutige Niederschlagung der Wiener Sozialdemokratie gestanden war, die zwischen 1919 und 1934 mehr als sechzigtausend Wohnungen in ihren städtischen Wohnbauten geschaffen hatte?
Wie ist das möglich? Der austrofaschistische Wohnbau sieht auf den ersten Blick aus wie jener seines politischen Gegners (Abbildung 2). Nach einer kurzen Verunsicherung sucht man nach Mitteln der Unterscheidung. Lassen sich am Gebäude Hinweise auf faschistische Inhalte finden? Und wenn ja, welchen Regeln folgen sie?
Die Architektur selbst bietet keinen einzigen Anhaltspunkt für eine Identifizierung als austrofaschistischer Bau. Allerdings war anstelle der heutigen Bauinschrift ursprünglich, wie ein historisches Foto zeigt, „Familienasyl St. Engelbert“ zu lesen (Abbildung 3). Diese Asyle waren ein Sondertyp des austrofaschistischen Wohnbaus, auf den später noch eingegangen wird.1 An der Turmfassade ist auch Kunst-am-Bau angebracht, eine Figur, wie das auch an sozialdemokratischen Gemeindebauten üblich war. Dargestellt ist hier aber ein Bischof, mit Mitra, Stab und einem Kind, eine sakrale Figur, wie sie im antiklerikalen sozialdemokratischen Wien nicht akzeptabel gewesen wäre (Abbildung 4):
Abbildung 3: Franz Wiesmann, Ehemaliges Familienasyl St. Engelbert (WIEN IM AUFBAU, Familienasyle)
Abbildung 4: Anton Endstorfer, Hl. Engelbert (Wien im Aufbau, Familienasyle, 21)
Es ist der heilige Engelbert, Namenspatron des 1934 ermordeten und im Austrofaschismus nahezu heiligmäßig verehrten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Diese Figur ist das einzige Distinktionsmerkmal, das heute noch einen eindeutigen ideologischen Hinweis gibt: Der Austrofaschismus war ein Klerikalfaschismus, und der Dollfuß-Personenkult war Staatskult, getragen von Regierung, Kirche und Institutionen.
Der Entwurf zum Gebäude Tautenhayngasse stammte von Architekt Franz Wiesmann, der von 1914 bis nach dem Zweiten Weltkrieg im Stadtbauamt arbeitete und der bis dahin bereits sieben Gemeindebauten für das Rote Wien entworfen hatte, die sich formal nur wenig von unserem Gebäude unterscheiden.2
Erst durch das Wissen um das Distinktionsmerkmal der Bischofsfigur wird das Gebäude in der Tautenhayngasse als Produkt einer autoritären Ideologie erkennbar. Ansonsten wurde es im Gewand des verhassten politischen Gegners, der Sozialdemokratie, gestaltet. Angesichts der unübersehbaren Präsenz der roten „Gemeindebauten“ im Stadtbild sah sich das neue Regime zur Fortsetzung der Wohnbauaktivität mit eigenen Projekten gezwungen, die auf der Basis einer ideologischen Gegenposition konzipiert werden mussten.3
Zunächst eine wichtige Klarstellung: Der Austrofaschismus, auch als „Ständestaat“ bezeichnet, also die Periode zwischen der Ausschaltung des Parlaments 1933 und dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland im März 1938, wird nicht selten als ein Vorspiel zur Nazidiktatur beziehungsweise als eine Art lokale Variante interpretiert. Dies trifft keineswegs zu, obwohl Merkmale wie Antiparlamentarismus, Ablehnung der Demokratie und Antimarxismus beiden Regimen gemeinsam waren. Der Austrofaschismus war aber im Unterschied zum Nazifaschismus ein katholischer, fortschrittsskeptischer, ständisch organisierter und zwar deutschnationaler, aber zugleich österreichpatriotischer Faschismus, im „Sinne einer Einbeziehung eines in welchem Grade auch immer autonomen oder souveränen Österreich in eine deutsche Nation.“4 Im Inneren kämpfte der Austrofaschismus daher gegen zwei Gegner, die Sozialdemokratie und den Konkurrenzfaschismus der Nationalsozialisten; 1933 wurden NSDAP und Kommunistische Partei in Österreich verboten, 1934 die SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei).
Nach 1945 verschwand der Austrofaschismus aus der öffentlichen Debatte, nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der seinerzeit erbittert verfeindeten „roten“ und „schwarzen“ politischen Lager. Die Zweite Republik „begann ihre Erfolgsgeschichte mit einer Amnesie“.5 Seit damals wurden auch die Architekturgeschichte und die Präsenz und Permanenz der Bauten jener Zeit ausgeblendet, obwohl die Architekten des Ständestaats kontinuierlich bis lang in die Nachkriegszeit hinein bauten und entwarfen. Die Devise scheint nicht „Aus den Augen, aus dem Sinn“ gewesen zu sein, sondern „Aus den Köpfen, aus dem Sinn“, denn mitsamt der austrofaschistischen Periode wurde auch der Entstehungszusammenhang ihrer erhaltenen