Hoch Hinaus. Raphael Röttgen
SLS (Space Launch System) der NASA, laut einem Brief vom Weißen Haus an den US-Senat im November 201913. Die NASA hat diesen Betrag weder bestätigt noch dementiert. Zu dieser Summe allein für die Rakete fallen Kosten für die zugehörige Orion-Kapsel an, in welcher sie die Astronauten zum Beispiel zum Mond bringen soll. Die Mittel, die für die Entwicklung benötigt werden, lassen sich schon jetzt mit einem weiteren zweistelligen Milliardenbetrag veranschlagen14. Zum Glück war und ist die NASA – und fairerweise muss man sagen: Weltraumagenturen überall – in der Lage, in diesen finanziellen Dimensionen zu operieren. Das Apollo-Programm der Sechzigerjahre würde heute (inflationsbereinigt) über 150 Milliarden Dollar kosten15. Forschungssonden-Missionen wie der neue Mars-Rover Perseverance oder der geplante Europa Clipper (zum Jupiter-Mond Europa) kosten beide schätzungsweise jeweils um die drei Milliarden Dollar16. Selbst ein einzelner Start der europäischen Ariane-5-Rakete, unbemannt und nicht weiter als in eine niedrige Erdumlaufbahn, kann über 200 Millionen Euro kosten17. Warum nur ist der Weltraum derart teuer?
Das obige Zitat von Elon Musk gibt einen wichtigen Hinweis: In der Vergangenheit wurden die allermeisten Raketen nur ein einziges Mal benutzt. Die ersten Stufen der Raketen fielen zurück zur Erde, kamen zum Beispiel als Bruchlandungen in den Weiten Kasachstans und Russlands nach Starts vom Weltraumbahnhof in Baikonur runter, oder sie versanken im Atlantischen Ozean nach Starts vom Cape Canaveral in Florida. In den Tiefen des Atlantiks liegen zum Beispiel bis heute noch alle ersten Stufen der gigantischen Saturn-Raketen – bis auf einige Teile der Apollo-11-Raketenmotoren, welche ein Team in einer geheim gehaltenen Bergungsaktion, ausgedacht und finanziert vom amerikanischen Milliardär Jeff Bezos, zurück an die Oberfläche brachte18. Die oberen Stufen der Raketen wurden, und werden bis heute, auch nicht wieder eingesetzt. Wenn ihre letzte Umlaufbahn niedrig genug ist, werden sie zurück Richtung Erdatmosphäre gesteuert, wo sie verglühen. Waren die Raketen auf höheren Umlaufbahnen, dann werden sie heutzutage in sogenannte Friedhofsumlaufbahnen (Graveyard Orbit) manövriert, wo sie (hoffentlich) keine Kollisionsgefahr darstellen. In der früheren Weltraumfahrt kümmerte man sich weniger um den Verbleib der oberen Raketenstufen und ließ sie einfach dort, wo immer sie sich am Ende ihrer Mission befanden. Deswegen sind solche alten oberen Raketenstufen heute potenziell gefährlicher Weltraummüll – ein Thema, dem ich in diesem Buch ein eigenes Kapitel widme. Bei der Frage nach dem Kostentreiber bleibt vor allem aber festzuhalten, dass in der Vergangenheit – und in den meisten Fällen noch heute – kein einziges Teil von Trägerraketen wiederverwendet wurde. Die einzigen Ausnahmen sind die Raumkapseln – aber ohne die kämen die Astronautinnen und Astronauten ja auch nicht zurück zur Erde.
Während der Apollo-Jahre dachte man offenbar in den USA (genauso wenig wie in der damaligen Sowjetunion) daran, wiederverwendbare Raketen zu konstruieren. Wiederverwendbarkeit bedeutet höheren technologischen Aufwand und zusätzliches Gewicht für die notwendigen Systeme, zum Beispiel für zusätzlichen Treibstoff oder für Fallschirme. Dieses Gewicht kann dann nicht für die Nutzlast verwendet werden, für die die Rakete ja im Einsatz ist und für die im Normalfall trotzdem nur ein paar Prozent des Gesamtgewichts der Rakete zur Verfügung stehen (der Rest ist Treibstoff). Die zusätzlichen Entwicklungskosten für die Wiederverwendbarkeit sind auch nur dann zu rechtfertigen, wenn sie sich über viele Raketenflüge amortisieren (das war bei Apollo, mit zwanzig geplanten Missionen, von vornherein nicht der Fall19). Damit geriet man schnell in eine Zwickmühle: Auf der einen Seite war die Entwicklung wiederverwendbarer Raketen nur mit der Aussicht auf Nachfrage nach vielen Flügen sinnvoll, auf der anderen Seite würde eine solche Nachfrage, zumindest von kommerziellen Kunden, wahrscheinlich nur durch wesentlich billigere Raketen entstehen. Jemand musste den ersten Schritt wagen, und das war, wie meist bei gewagten Projekten in der Weltraumgeschichte, der Staat. Anfang der Siebzigerjahre erhielt die amerikanische Raumfahrtagentur NASA die Bewilligung des US-Kongresses, ein wiederverwendbares Raumschiff zu entwickeln, das Space Shuttle.
Das Shuttle war tatsächlich weitgehend wiederverwendbar. Allein der optische Eindruck war schon vollkommen anders als bei den vorherigen Raketen, obwohl es immer noch genauso senkrecht startete. Auf der Startrampe sah das Shuttle wie ein dickes Flugzeug aus, an das links und rechts zwei mächtige, traditionelle Feststoffraketen geschnallt waren sowie ein riesiger orangefarbener Tank unter dem Bauch, der Treibstoff für die Haupttriebwerke enthielt. Die Feststoffraketen halfen mit erheblichem Schub in der ersten Flugphase, wurden dann vom Shuttle abgestoßen und landeten mit Fallschirmen. Das Space Shuttle selbst landete am Ende jeder Mission horizontal gleitend wie ein Flugzeug – dazu hatte es seine kleinen Flügel, die im Vakuum des Weltraums vollkommen nutzlos sind. Der einzige Teil des Shuttles, der bei jedem Flug verloren ging, war der große orangefarbene Tank.
Die Pläne für das Space Shuttle waren ehrgeizig20. Anfang der Siebziger dachte man, der Preis könnte eventuell bis auf fünf Millionen Dollar pro Flug zu drücken sein. In heutigen Dollar (also inflationsbereinigt) sind das ungefähr dreißig Millionen. Aber bei einer Nutzlast von fast 30.000 Kilo hätte das trotzdem nur einen Preis von tausend Dollar pro Kilogramm Nutzlast bedeutet – was selbst heutzutage noch weit unter jeglichem Raketenpreis läge. Der kritische Punkt war aber, dass man zwischen hundert und hundertfünfzig Space-Shuttle-Flüge pro Jahr durchführen müsste, um auf diesen Preis zu kommen. Man sah viele potenzielle Einsatzmöglichkeiten für das Shuttle, zum Beispiel für Satellitenstarts, schnelle Militäreinsätze, Weltraumtourismus und sogar für die Entsorgung von Atommüll. Am Ende flog die gesamte Flotte von fünf Space Shuttles zwischen 1981 und 2011 aber nur insgesamt 135 Mal. Damit befand man sich gleich wieder im Teufelskreis von niedriger Nachfrage und damit höheren Kosten pro Flug. Darüber hinaus waren zudem einige Kosten des Space Shuttles ohnehin viel höher als erwartet, da die Technologie am Ende nicht so simpel war, wie man es sich am Anfang vorgestellt hatte. Die besten Beispiele dafür sind die Haupttriebwerke des Shuttles und der Hitzeschild, welcher das Raumschiff vor den hohen Temperaturen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre schützt. Die mächtigen Triebwerke waren damals (und sind es vielleicht noch heute) die kompliziertesten, die jemals gebaut worden waren. Eigentlich war beabsichtigt, dass das Shuttle sehr schnell wieder einsetzbar war, mit einer nur kurzen Inspektion zwischen den Flügen – ähnlich wie bei Flugzeugen. Deswegen wollte man die Triebwerke definitiv nicht nach jedem Flug auseinandernehmen – aber genau das musste man am Ende aus Sicherheitsgründen immer machen, unter erheblichem Zeit-, Arbeits- und Kostenaufwand. Ähnliches galt für die 3.000 Keramikkacheln des Hitzeschilds, die man zwischen Flügen genauestens inspizieren musste. Am Ende lag der Preis eines Shuttle Starts im Schnitt eher um die 500 Millionen Dollar. Eine solche Summe war vielleicht für kompliziertere Missionen wie das Hubble-Weltraum-Teleskop und den Zusammenbau der Internationalen Raumstation (ISS) zu rechtfertigen, aber nicht für die Platzierung von normalen Satelliten in Erdumlaufbahnen – hierfür reichten billigere und bewährte Einweg-Raketen aus. Einen neuen Versuch mit tatsächlich wiederverwertbaren Raketen sollten wir erst wieder in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des neuen Millenniums sehen.
Ein weiterer Grund für hohe Kosten im Raketenbau lag in den niedrigen Stückzahlen. Wie bereits erwähnt, wurden jemals nur fünf Space Shuttles gebaut. Die amerikanische Delta IV flog insgesamt nur vierzig Mal zwischen 2002 und 201921. Die ebenfalls amerikanische Atlas V hatte bis heute, seit 2002, dreiundachtzig Missionen. Die europäische Ariane 5 startete, in verschiedenen Versionen, 108 Mal zwischen 2002 und 2018. Selbst die am meisten verwendete Rakete der Welt, die russische Sojus, wurde auf ihrem Zenit in den Achtzigerjahren angeblich sechzig Mal pro Jahr produziert22. Zum Vergleich: Airbus produziert seinen Airbus-320-Jet sechzig Mal pro Monat23. All die obigen Raketen sind, nebenbei gesagt, in keiner Form wiederverwendbar. Das gilt selbst für die Sojus-Raumkapseln, die ja zumindest zur Erde zurückkommen – nach der einmaligen Nutzung werden sie aber in großen Lagern irgendwo in Russland oder Kasachstan zur ewigen Ruhe gebettet. Das Problem mit den niedrigen Stückzahlen gibt es nicht nur bei Raketen, sondern auch bei Satelliten. Diese wurden in der Vergangenheit, mit wenigen Ausnahmen, zumeist nur ein einziges Mal „nach Maß“ für eine spezifische Mission entwickelt und gefertigt. Mit solch niedrigen Produktionszahlen lassen sich natürlich keine Skaleneffekte erreichen – Autos wurden ja auch erst deutlich billiger, als Henry Ford sein Modell T am Fließband massenproduzierte.
Ein weiterer Grund für die hohen Produktionskosten liegt sicher in der Art und Weise, wie Regierungsaufträge an die Privatwirtschaft oft strukturiert waren. Bei sogenannten Cost-Plus-Verträgen