Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper


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The psychology of interpersonal relations, S. 47)

      Das Ziel dieses Großkapitels wird es sein, nachzuweisen, dass Leserinnen unserer neutestamentlichen Kapitel es mit grammatisch mehrdeutigenmehrdeutig Sätzen zu tun bekommen. Und wenn wir verstehenverstehen möchten, wie mehrdeutige sprachliche Äußerungen verstanden werden können, müssen wir zunächst einmal klären, wie es dazu kommt, dass sprachliche Äußerungen für Leserinnen anscheinend eindeutigeindeutig sein können. Die Natur der Mittel, mit denen die Ausdeutbarkeit von sprachlichen Äußerungen eingeschränkt werden kann, ist das Thema von Abschnitt 2.1. Welche Mittel dies konkret sind und welche Leistungen sie für die Interpretation erbringen können, werde ich in Abschnitt 2.2 illustrieren. In Abschnitt 2.3 werden wir sehen, wie Mehrdeutigkeit daraus resultiert, dass diese Mittel in der Interpretation nicht zur Verfügung stehen oder nicht genutzt werden. In Abschnitt 2.4 wird es dann darum gehen, wie sich diese Mittel den Lehrmeinungen zufolge zueinander verhalten. Die Abschnitte 2.5 bis 2.7 werden dann die Korpusuntersuchung vorbereiten, indem sie die Fragen behandeln, wie wir mit den historisch bedingten unterschiedlichen Übersetzungsstilen umgehen werden, wie wir die Übersetzungen auf einen gemeinsamen erkenntnistheoretischen Nenner bringen können und welche Rolle eine möglicherweise stille ProsodieProsodie als weiteres sprachliches Mittel spielen könnte. Im letzten Abschnitt 2.8 folgt der Korpusanalyse erster Teil.

      2.1 Sprachliche KonventionenKonvention und Verstehenverstehen

      2.1.1 Vom Privaten zum Öffentlichen

      Wir verwenden Sprache nicht nur, um uns gegenseitig das Neue Testament zu übersetzen, sondern auch dazu, einander über alles Mögliche zu informieren, einander aufzufordern, etwas zu tun, Gefühle und Einstellungen miteinander zu teilen, Kontakt untereinander zu organisieren, uns zu verfluchen, zu dichten, zu beten und zu beschwören. Einige Philosophen verstehen auch das Denken – hier zu unterscheiden vom WahrnehmenWahrnehmung, VorstellenVorstellung, Erinnern und Fühlen – als sprachliche Aktivität, also als so etwas wie simuliertes Sprechen. Die meisten dieser Aktivitäten sind solche, die zwischen zwei oder mehr Interaktionspartnern stattfinden. Selbst die Dichterin, Denkerin und Tagebuchschreiberin übernimmt mindestens zwei Rollen, die der Sprachproduzentin und die der Interpretin des eigenen (simulierten) Sprechens oder Schreibens. Sie kann sich sogar durch die Mehrdeutigkeit ihrer eigenen Äußerungen selbst täuschen oder an ihr Misserfolge erleben. Auch beim Beten und Beschwören wird ein Gegenüber, ob personhaft oder nicht, vorgestellt. Um diese interaktiven Funktionen zu erfüllen, müssen sprachliche Äußerungen eine wesentliche Eigenschaft aufweisen, die man als funktionales Universal bezeichnen könnte: Sie müssen regelmäßig erfolgreich interpretierbar hinsichtlich der Frage sein, was womit inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung steht. Dass dies keine triviale Leistung ist, soll einmal mehr an unserem Satz aus Johannes 19, 27 demonstriert werden, aber diesmal an der neuhochdeutschen Neuen Genfer Bibelübersetzung. Dort lautet er folgendermaßen:

      Zu Illustrationszwecken möchte ich diesmal davon ausgehen, dass der Schreiber das Ereignis, das dieser Äußerung zugrunde liegt, selbst wahrgenommenWahrnehmung und als bestimmtes Ereignis erkannt habe und es ihm nicht bereits sprachlich vermittelt worden sei. Wir können dann sagen, dass der Schreiber in Bezug auf dieses Ereignis eine für ihn bestimmte, komplexe Vorstellung erwarb; bestimmt, was die Zeit des Ereignisses (Vergangenheit relativ zum Zeitpunkt der Niederschrift), den Beginn des Ereignisses (ab dem Zeitpunkt von Jesu Erklärung), den Jünger, Jesus, die Mutter und etwa die Heimstatt des Jüngers betrifft; bestimmt auch dahingehend, dass der Jünger der Nehmer und die Mutter die Genommene war und die Bewegung des Nehmens auf den Jünger (beziehungsweise seine Heimstatt) gerichtet war; bestimmt möglicherweise auch darin, wie es dort roch, wie sich die Beteiligten fühlten, wie Jesus litt, welche Farbe der Himmel hatte, welches Material die Kleider der Beteiligten hatten, welche Frisuren sie trugen, wie der Weg beschaffen war, auf welchem Weg sie zur Heimstatt des Jüngers gelangten und so weiter. Dabei ist zu beachten, dass dies bereits eine normenNorm-, konventionenKonvention- und durch die „-enz-enz-Faktoren“-Faktoren gefilterteFilter Deutung des Ereignisses ist. (Streng genommen bringt die Deutung das Ereignis als solches erst hervor.) Ihre Bestimmtheit in Bezug auf die darin vorkommenden Gegenstände, ihre Beziehungen zueinander, ihre phänomenalen QualitätenPhänomenqualitäten undPhänomenqualitätenBedeutsamkeit ihre Wirklichkeit besitzt sie auf Kosten anderer möglicher Bestimmungen. Auf die übergeordnete W-FrageW-Fragen WasWas kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? mag eine spätere Antwort des Schreibers gewesen sein, denen davon berichten zu wollen, die es noch nicht erfahren haben.

      VorstellungenVorstellung sind wie alle mentalen Vorgänge aber privat, das heißt nur derjenige, der sich etwas vorstellt, weiß auch, was er sich vorstellt. Daher war der Schreiber darauf angewiesen, seine Vorstellung auf irgendeine Art zugänglich zu machen. Kopieren und Einfügen waren und sind dabei auf absehbare Zeit keine realistischen Optionen. Der einzig mögliche Weg ist, etwas wahrnehmbarWahrnehmung zu machen, indem man es entäußert. Dadurch wird es öffentlich.

      2.1.2 Öffentlichkeit und sprachliche Konventionen

      Im ersten Kapitel hatten wir gesehen, dass unter Beachtung der Konventionen einer Sprache die Ausdeutbarkeit einer Äußerung engen Grenzen unterliegt und dass dies zu den Eigenschaften gehört, die Sprache zu einem praktisch erfolgreichen Kommunikationsmittel machen. Ich möchte nun die Frage diskutieren, wie wir dieses Konventionalisierte im Sprachgebrauch besser fassen können. Denn wenn unser Schreiber etwas von seiner Vorstellung dadurch kommunizieren möchte, dass er vokalisch, manuell oder graphisch Erzeugtes öffentlich wahrnehmbar macht, sind diese Erzeugnisse ohne Konventionen nahezu beliebig ausdeutbar, wie wir gesehen haben.

      Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass unter Konvention nicht eine Übereinkunft in dem Sinne verstanden werden kann, dass eine Gruppe von Menschen sich darüber einigt, welche Regeln künftig für ihr kommunikatives Miteinander gelten sollen, denn wie sollte man sich über etwas einigen, ohne dass bereits Konventionen bestünden, die eine solche Einigung ermöglichten? Plausibler erscheint, dass die Entstehung und Fortentwicklung des Kommunikationsmittels Sprache durch unzählige Zyklen aus Variation (vielfältiges Ausprobieren), Selektion (Weiterverwendung des Erfolgreichen) und Reproduktion (Weitergabe beziehungsweise Übernahme des Bewährten) zwischen Menschen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen gekennzeichnet sind, die sich über Lebzeiten und Generationen hinweg erstrecken. Mit ihren jeweiligen kognitiven und physischen Fähigkeiten versuchen Menschen, auf vielfältige Weise mit bestimmten vokalischen oder manuellen Gesten ihre Vorstellungen zu gemeinsamen Vorstellungen zu machen.1 Sie verwenden solche Gesten weiter, die sich dabei in der gemeinsamen Praxis als erfolgreicher erweisen als andere, und geben sie im Rahmen der Kultur einander und an nachfolgende Generationen weiter. Diese wiederum übernehmen die bewährten sprachlichen Praktiken, verändern sie dabei aber, indem sie neue Gesten ausprobieren, praktisch bewährte auf Kosten anderer weiterverwenden, übernommene Gesten enger oder weiter gebrauchen, die Gestalt der Gesten verändern und so weiter.2 Aus diesem kumulativen Zyklus aus Versuch und (Miss-)Erfolg, aus dem immer Mittel weiterverwendet werden, die sich als praktisch erfolgreich erwiesen haben, kann durch zunehmende Ausdifferenzierung des Gesteninventars und ihrer Funktionen schließlich das entstehen, was wir heute als natürliche Sprachen kennen.3 Dafür ist keine metasprachliche Einigung darüber nötig, welche Ausdrucksmittel zu gebrauchen sind und welche nicht. Die Konventionen kommen mit dem Gebrauch. Sie beruhen wesentlich auf dem öffentlichen Charakter des Kommunikationsmittels und bilden sich in der Interaktion heraus. Dass alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft eine Konvention befolgen, ist dabei in der Regel nicht das geplante oder planbare Resultat der Sprecherin, die sie eingeführt hat, sondern meistens eine Folge davon, dass eine hinreichende Menge anderer Sprachbenutzerinnen sie, ob bewusst oder unbewusst, übernimmt. Konventionen sind nicht als Regelwerke verfügbar, in denen expliziert wäre, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Für unsere Interpretin haben sie den Charakter eines positiven Know-hows: Sie verfügt über die Fertigkeit, physische und kognitive Aktivitäten gelungen und erfolgreich ausführen, oft in routinisierterRoutine, Routinisierung oder gar automatisierterAutomatismus Weise. Dieses Know-howKnow-how ist scharf von einem


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