Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
ihnen die Reihenfolge für solche Zwecke eingesetzt wird und ob beziehungsweise wie viele mehrdeutige morphologischeMorphologie Formen sie aufweisen. Aus Gründen, die ich noch ausführlicher darlegen werde, möchte ich die Stichhaltigkeit der obigen Annahme anhand von wortlauttreueren und freieren BibelübersetzungenÜbersetzung ins AltenglischeAltenglisch, MittelenglischeMittelenglisch, AlthochdeutscheAlthochdeutsch, MittelhochdeutscheMittelhochdeutsch, FrühneuhochdeutscheFrühneuhochdeutsch, NeuhochdeutscheNeuhochdeutsch und in die modernen deutschen Dialekte des HochalemannischenNeuhochdeutsch und NordniederdeutschenNordniederdeutsch überprüfen.2 Einer der gewichtigsten Gründe, Bibeltexte dafür zu wählen, ist, dass wir – anders als bei anderen Quellen – für die darin vorkommenden Äußerungen sicher angeben können, welche Interpretation die richtige ist, auch wenn sie in einer Übertragung mehrdeutig sind. Für die Überprüfung der Hypothese ist dies unabdingbar, da wir andernfalls über kein Erfolgskriterium für die Interpretation mehrdeutiger Äußerungen verfügen würden, und dass man Erfolg bei ihrer Interpretation haben kann, möchte ich ja gerade zeigen. Ein weiterer Grund ist, dass alle untersuchten SprachSprach(stuf)eAltenglisch(stuf)en – die richtige Übersetzung vorausgesetzt – dieselben Inhalte ausdrücken, dazu aber jeweils ihre eigenen sprachlichen Mittel zur Verfügung haben und dabei unter dem Druck stehen, verstehbar zu sein. Damit wird vergleichbar, wie mit den vorhandenen sprachlichen Mitteln ausgedrückt wird, was womit in welcher Beziehung steht und wie sie von Äußerung zu Äußerung eingesetzt werden. Dabei ist nicht nur ein synchronischer Quervergleich zwischen den Sprachen und Dialekten möglich, sondern auch ein diachronischer Längsvergleich, der uns mit der gebotenen Vorsicht erlaubt nachzuverfolgen, wie diese grammatischen Mittel sich historisch im Deutschen und Englischen verändern und welche Anforderungen dies an unser Verstehenverstehen stellt. Ein Grund, Englisch und Deutsch zu wählen, ist die Tatsache, dass für diese Sprachen in der Forschung bereits viele Annahmen darüber geäußert worden sind, wie die sprachlichen Mittel sich zueinander verhalten und wie sie sich historisch entwickelt und verändert haben sollen. Dass diese Entwicklungen fürs Deutsche und Englische jeweils verschiedene gewesen sind, obwohl sie einen gemeinsamen historischen Ursprung haben, ist dabei ebenfalls von theoretischem und historischem Interesse. Primär von theoretischem Interesse ist, dass auch zwei moderne deutsche Dialekte analysiert werden sollen. Interessant sind sie deshalb, weil sie im Vergleich zum standarddeutschen System mit drei KasusKasus jeweils nur zwei Kasus aufweisen, dabei aber mutmaßlich ähnliche SatzgliedreihenfolgenReihenfolge zulassen. Die Dialekte versprechen somit größeres Mehrdeutigkeitspotenzial.3
Woher kommt das Phänomen? Was hat es verursacht? Wohin geht es? Vieles – und darüber wird noch sehr viel mehr zu sagen sein – spricht dafür, dass Sprachen sich grammatische Mehrdeutigkeit leisten können, eben weil Sprachbenutzerinnen erfolgreich damit umgehen können. Dennoch unterscheiden sich Sprachen in dem Grad, in dem sie Mehrdeutigkeit tatsächlich aufweisen, gravierend, aber nicht zufällig. Neben Sprachen, die wenige oder gar keine Äußerungen aufweisen, in denen grammatisch nicht geregelt ist, was womit in welcher Beziehung steht – Althethitisch dürfte dem nahekommen –, finden sich, wie ich zeigen werde, auch Sprachen, in denen jede vierte für die Fragestellung relevante Äußerung grammatisch mehrdeutig ist. Dies zeigt, dass Sprachen sich bisweilen des in ihnen vorkommenden lautlichen, gestischen oder graphischen Materials viel mehr als grammatische Mittel bedienen, als es nötig wäre, um als erfolgreiche Kommunikationsmittel zu dienen. Man könnte nun vermuten, dass das Material, das dafür verwendet wird, anzuzeigen, was womit in welcher BeziehungWas steht womit in welcher Beziehung? steht – zum Beispiel KasusKasus- und KongruenzmorphemeKongruenz –, sich in einer Sprache unabhängig von der Kommunikationsfunktion und unabhängig von menschlichen Zwecken entwickelt und nur für diese Funktion verwendet wird, weil es eben unbeabsichtigt entstanden ist, deshalb nun einmal da ist und, weil es da ist, wiederum interpretiert werden muss und mit einer nützlichen Funktion besetzt werden kann. Wie bereits gesagt, können wir die Interpretation von bestimmten Phänomenen nicht einfach unterlassen, und lautliches, gestisches oder graphisches Material scheint dazuzugehören. Ganz unabhängig können die Entstehung dieses Materials durch verstehensunabhängige UrsachenUrsachefür Sprachwandel und seine nachträgliche verstehensabhängige Funktionalisierung aber nicht voneinander sein, denn – so werde ich berichten – es scheint so etwas wie Obergrenzen von Mehrdeutigkeit zu geben, jenseits derer die Funktionalität der Sprache als Kommunikationsmittel gefährdet zu sein scheint.
Was steht womit in welcher Beziehung? Dies ist also nicht nur die zentrale Frage, vor der Sprachbenutzerinnen bei der automatischenAutomatismus und routinisiertenRoutine, Routinisierung Interpretation von sprachlichen Äußerungen stehen, seien sie grammatisch eindeutig oder mehrdeutig, sondern auch wir. Ich möchte detailliert herausarbeiten, welche Informationstypen bei der Interpretation sprachlicher Äußerungen herangezogen werden (können), in welcher Beziehung diese Informationstypen zueinander stehen, warum sie verfügbarHinweisverfügbar sind, zu welchem Grad sie in verschiedenen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en herangezogen werden und ob beziehungsweise wie sich diese Heranziehung historisch verändert.
Kapitel 2 widmet sich zunächst detailliert der Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass Äußerungen eindeutigeindeutig sein können, um zu erklären, wie es zu mehrdeutigenmehrdeutig Äußerungen kommt. Sodann werde ich mittels einer historischen Korpusstudie nachweisen, dass es grammatisch mehrdeutige Äußerungen gibt und wie sie sich historisch entwickelt haben. Darauf aufbauend werde ich in Kapitel 3 die Hypothese immer weiter präzisieren, indem ich Kandidaten von Informationstypen diskutiere, die von Interpretinnen zum richtigen Verstehenverstehen mehrdeutiger Äußerungen herangezogen werden könnten. Anschließend werde ich in einem zweiten Auswertungsteil die Hypothese überprüfen. Im abschließenden Kapitel 4 werde ich eine anthropologische Skizze zeichnen, mit der ich die Resultate der Korpusstudie erklären und in einen weiteren als nur einen sprachwissenschaftlichen Kontext stellen möchteeindeutigmehrdeutig. Ich werde dafür argumentieren, dass wir grammatisch mehrdeutige Äußerungen erfolgreich interpretieren können, weil wir sie in wichtigen Aspekten auf die gleiche Weise wie andere, nichtsprachliche Ereignisse auch interpretieren. Grammatisch eindeutige Äußerungen sind insofern speziell, als sie uns sowohl effektiv daran hindern als auch bestärken können, bestimmte Interpretationen vorzunehmen. Aus einer engeren, philologisch-sprachwissenschaftlichen Perspektive ist es daher in gewissem Maß unnötig, die Verstehbarkeit sprachlicher Äußerungen auf sprachliche KonventionenKonvention zurückzuführen. Aus der weiteren Perspektive anderer mit dem Menschen befassten Wissenschaften ist dies sogar unplausibel. Was ich tun möchte, ist also, die Strukturlinguistik (wieder) mit anderen Wissenschaften vom Menschen ins Gespräch zu bringen. Dieses war abgebrochen, nachdem sich die Versprechungen einer grammatischen Tiefenstruktur nicht erfüllt hatten.4 Was ich über den anthropologischen Unterbau unserer Verstehensleistungen zu sagen haben werde, lässt sich auch so interpretieren: Unser leiblichesLeib In-der-Welt-Sein liefert der Grammatik und unserem Verstehenverstehen die Tiefenstruktur.
1.7 Das Korpus und die verwendeten BibelübersetzungenÜbersetzung
Die Untersuchung wird in allen Sprachstufen an den Kapiteln 26 und 27 des Matthäusevangeliums und den Kapiteln 18 und 19 des Johannesevangeliums erfolgen. (Für den althochdeutschen „TatianTatianalthochdeutscher“ verhält es sich ein wenig anders. Siehe dazu unten.) Hinter diesen Kapiteln verbergen sich zentrale Teile der Passionsgeschichte Jesu. Die Passionsgeschichte, so die Erwägung bei der Textauswahl, ist inhaltlich in besonderer Weise für die Analyse geeignet. Die (Teil-)Sätze, aus denen sich die genannten Kapitel zusammensetzen, sind nämlich wenig überraschend dadurch gekennzeichnet, dass darin viel erlitten wird, und wo viel erlitten wird, ist der Urheber des Leids nicht weit, sowohl wirklich als auch in der sprachlichen Vermittlung. Wir haben es also häufigHäufigkeitFrequenz mit semantisch transitiven Beziehungen zwischen eher agentivenAgens und eher patientivenPatiens Personen oder Gegenständen zu tun. In den hier untersuchten Sprachen werden solche Beziehungen grammatisch häufigFrequenz so strukturiert, dass sie zum einen innerhalb der Grenzen von (Teil-)Sätzen ausgedrückt werden und diese (Teil-)Sätze zum anderen eine Binnenstruktur aufweisen, die besonders anfällig für grammatische Mehrdeutigkeitmehrdeutig hinsichtlich der Frage ist, was womit in welcher Beziehung steht. Das sind (Teil-)Sätze dann, wenn, wie in unserem Beispiel (1) oben, zwei oder mehr Satzglieder für die syntaktische Funktion des jeweils anderen in Frage kommen. Die betreffenden Satzglieder