Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper


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gib am Satzanfang wahrgenommen hat und (erfolgreich) als Befehl, etwas zu geben interpretiert hat, wird sie die Form auch beim nächsten Auftreten so interpretieren. Tatsächlich scheint der Frequenz eine große Bedeutung in der Sprache zuzukommen. Ähnliches wie für frequente Phänomene gilt auch für rezenteRezenz Phänomene, also solche, die kurz vor dem Wahrnehmungsereignis schon einmal wahrgenommenWahrnehmung und gedeutet wurden. Die früher vorgenommene Deutung ist leichter wieder zu aktualisieren als eine davon abweichende.

      Die Grenzen hinsichtlich der Möglichkeit, einem Phänomen Bedeutung zuzumessen – und damit seiner Ausdeutbarkeit – sind prinzipiell nur durch die kognitiven und physischen Schranken des Menschen gezogen. Die Breite der faktischen Bedeutungszuweisungen dürfte aber nicht viel geringer als die der möglichen sein. Kulturelle Variation besteht nicht nur hinsichtlich gravierender Unterschiede in den typischen Situationen, in denen Menschen sich befinden – im Kaffeehaus in Marokko, im Giraffengehege in Frankfurt, bis zum Hals im Sumpf bei den Pirahã – und damit hinsichtlich der salientenSalienz, frequenten und rezenten Phänomene, mit denen Menschen konfrontiert sind, sondern auch in der Ausprägung der PertinenzPertinenz-Systeme sowie in normativenNorm Beschränkungen der Frage WasWas kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? auf die Frage Was darf, soll oder muss ich (jetzt) tun?.

      Ähnlich wie sprachliche Phänomene sind nichtsprachliche Phänomene nämlich ebenfalls nicht beliebig ausdeutbar. Auch ihre Deutungen sind durch soziale KonventionenKonvention begrenzt und unstatthafte Interpretationen führen zu Misserfolg. Das gilt beispielsweise für die Zuschreibung von VerantwortlichkeitVerantwortlichkeit. Im Zusammenleben von Menschen ist die Frage, ob jemand etwas verantwortlich – also geplant, kontrolliert, willentlich, bewusst – tut, tun kann oder getan hat, oder eben nicht, von überragender Bedeutung. Wir können aber mit unseren Sinnesorganen gar nicht erfassen, ob jemand etwas verantwortlich tut oder ob es ihm bloß passiert. Wenn Opa Willi jetzt noch ein Glas in der Hand hat, sich dann der Griff etwas lockert und das Glas zu Boden fällt, nehmen wir nicht wahr, ob er aus zweckrationalen Erwägungen den Griff gelockert hat, damit das Glas herunterfällt, oder ob ihm die Lockerung des Griffs aus Versehen widerfahren ist. Wir unterlassen in solchen Fällen die Interpretation aber nicht. Wir interpretieren jemandes Tun in solchen Situationen trotzdem hinsichtlich Verantwortlichkeit, aber eben nicht beliebig. Wenn sich jemand konsequent jedes auch noch so zufällige oder glückliche WiderfahrnisWiderfahrnis öffentlich als Verdienst zurechnet und gleichzeitig jemand anderem für jedes versehentliche Missgeschick ebenfalls öffentlich Verantwortlichkeit zuschreibt, dann wird dies sehr wahrscheinlich sozial sanktioniert werden. So können soziale NormenNorm oder KonventionenKonvention der Ausdeutung von nichtsprachlichen Phänomenen Grenzen setzen.

      Eine sprachliche Äußerung ist nicht nur Anlass einer Deutungstätigkeit, wie derjenigen unserer Leserin des Beispiels in (1), sondern aus anderer Perspektive auch das Resultat einer solchen Deutungstätigkeit. EmilS Nöi Teschtamänt Weber hat mit der Äußerung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa für die Leserinnen der Evangelien schon vieles verschieden Ausdeutbare in der berichteten nichtsprachlichen Situation ausgedeutet. Dabei hat er die Ausdeutung des Evangelisten Johannes in dessen griechischem Text vermittelt. Weber hat unter anderem das Geschehen in der Vergangenheit situiert (hät … gnaa), es in den Kontext früheren Geschehens gestellt (Und …), es innerhalb der Vergangenheit nochmals zeitlich verortet (vo säbere Stund aa) und er hat eine Aktivität des zu-sich-Nehmens (… zue sich gnaa) identifiziert. Johannes (und Emil Weber als Vermittler) hat all diese Deutungen anstatt unzähliger anderer möglicher Deutungen vorgenommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Er hat etwas als ‚zu sich nehmen‘ gedeutet und es entsprechend sprachlich mitgeteilt. Das Phänomen, das der Deutung zugrunde lag, ist verschiedenartig ausdeutbar, etwa als ‚zufällig gemeinsam irgendwohin gehen‘, ‚zufällig hintereinander in die gleiche Richtung bewegen‘ oder ‚entführen‘, um nur einige naheliegende Deutungen zu nennen. Diese normenNorm- und durch die „-enz-enz-Faktoren“-FaktorenFilter gefilterteFilter-enz-Faktoren DeutungsarbeitDeutungsarbeitArbeitArbeit hat bereits Johannes (vermittelt durch Emil Weber) der Leserin abgenommen. Mit seiner Äußerung unterbreitet Emil Weber nun wiederum der Leserin ein Deutungsangebot, das sie zunächst einmal nachvollziehen muss, noch bevor sie es als angemessen anerkennen oder ablehnen kann. Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa ist also Emil Webers sprachkonventionengefilterterKonvention Ausdruck dieses Geschehens und er dient der Leserin als eine Anleitung zum Nachvollzug einer hinreichend ähnlichen Vorstellung dieses Geschehens. Der im gegenwärtigen Zusammenhang wichtigste Aspekt dieser Ähnlichkeit ist die Frage, was womit inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung steht. Und da ist Emil Webers sprachlich vermitteltes Deutungsangebot, anders als dasjenige Johannes’, wie wir sehen werden, mehrdeutig. Es sollte beinhalten, wer wen zu sich nimmt, und die Äußerung bietet der Leserin diesbezüglich si de Jünger an.

      1.4 Verstehenverstehen

      Wenn sie sich anstrengt, kann sich unsere hochalemannische Leserin natürlich über alle Konventionen hinwegsetzen und die Äußerung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa so individuell und konstruktiv bedeuten, wie sie möchte. Dabei sind ihr keine Grenzen gesetzt. Es sind durchaus Zwecke denkbar, vor deren Hintergrund solche unkonventionellen Interpretationen motiviert, also pertinentPertinenz hinsichtlich eines Zweckes sind. Ob eine solche Praxis aber alltäglicher gelungener Kommunikation zuträglich ist, ist eine andere Frage. Weite Teile unserer sprachlichen Interaktion koordinieren und organisieren andere sprachliche und nichtsprachliche HandlungenHandlung. Damit diese wiederum erfolgreich sind, ist es nötig, dass wechselseitige sprachliche Äußerungen von den Beteiligten nicht willkürlich interpretiert werden. Aber unter welchen Umständen können wir jetzt sagen, dass die Leserin Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa nicht nur interpretiert, sondern auch verstanden hat?

      Anders als fast alle anderen menschlichen Tätigkeiten scheint Deuten oder Interpretieren nicht misslingen zu können. Dabei kommt immer etwas heraus, was den Namen Deutung oder Interpretation verdient. Aber man kann erfolgreich oder erfolglos interpretieren, je nachdem, ob die Interpretation ihre Funktion erfüllt beziehungsweise zur Realisierung des Zweckes führt, für den sie das Mittel gewesen ist.

      Wenn ich im besten Wissen Diesel in mein Benzinfahrzeug fülle, um weiterfahren zu können, dann habe ich offenbar bestimmte Phänomene, unter anderem den Zapfhahn und das Fahrzeug, in irgendeiner Weise gedeutet, die sie mir zu Handlungsgegenständen macht, aber eben in einer Weise, die meinem Handlungserfolg nicht zuträglich ist. In diesem Moment habe ich vor dem Hintergrund meiner Ziele den Zusammenhang zwischen dem Zapfhahn, meinem Fahrzeug und der Möglichkeit des Weiterfahrens zwar gedeutet, aber nicht verstanden.

      Ähnlich verhält es sich zunächst mit sprachlichen Äußerungen. Eine Wegbeschreibung wird ein Umherirrender üblicherweise mit dem Zweck interpretieren, dass sie ihn über kurz oder lang zum gewünschten Ort bringt. Die Ankunft am Zielort ist ein Erfolgskriterium für die Interpretation beziehungsweise für das Verstehen der Wegbeschreibung. Aber anders als beim nichtsprachlichen Tankbeispiel ist hier noch eine andere Person involviert, die den Weg beschreibt und die – anders als der Zapfhahn – eigene Ziele verfolgt. Diese Person kann unterschiedliche Einstellungen zu dem einnehmen, was sie sagt. Sie kann den Zweck des Fragenden zu einem gemeinsamen machen und ihm nach bestem Wissen und Gewissen den Weg mitteilen. Sie kann aber auch einen anderen Zweck verfolgen, zum Beispiel den Fragenden zu belügen, damit er an einem anderen Ort als dem Gewünschten herauskommt.

      Ein sprachliches Ereignis ist also (mindestens) ein zweischichtiges Ereignis und muss daher auch auf jeder Schicht einzeln gedeutet werden. Meine obigen W-FragenW-Fragen stellen sich einerseits für das Ereignis, in dem jemand Geräusche, Gesten oder Graphisches hervorbringt, also grob gesprochen für die HandlungHandlung des Äußerns. Sie stellen sich andererseits für das vokalisch, gestisch oder graphisch Geäußerte, also für das konventionellKonvention sprachlich Ausgedrückte. Beides muss interpretiert werden. Unser Umherirrender kann sowohl das, was die Auskunftgeberin tut, indem sie ihm den Weg beschreibt – zum Beispiel helfen oder belügen – als auch das, was sie in ihrer Äußerung mitteilt – den Weg zu einem Ort – verstehen oder missverstehen. Der Fragende kann also gleichzeitig den Äußerungsinhalt verstehen und trotzdem nicht


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