Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
dies bereits im Erwartungshorizont der Leserin gelegen hat. Widmet man sich dagegen dem Gesellschaftsteil einer Zeitung und entdeckt die gleiche Schlagzeile dort, erwartet man eher, dass die Rede von Menschen ist, die andere Menschen zu deren Leidwesen mit Löchern versehen, und interpretiert die Schlagzeile entsprechend. Das Beispiel zeigt, dass Erwartungen, die leitend für die Interpretation einer Äußerung werden können, nicht nur durch die grammatischen Eigenschaften von Sprachen aufgebaut werden können, wie sie sich in konkreten Äußerungen und deren sprachlichem Begleittext zeigen, sondern auch von außerhalb der sprachlichen Struktur kommen können.
Je stärker sprachliche Äußerungen zur Erreichung praktischer (nichtsprachlicher oder sprachlicher) Zwecke eingesetzt werden, desto höher, so scheint es, ist die Wahrscheinlichkeit, dass falsche Interpretationen im Rückblick bemerkt werden. Nichtsprachliche HandlungenHandlung infolge von Kochrezepten, Bauanleitungen oder Wegbeschreibungen, die unmittelbare praktische Relevanz haben, sind gute Beispiele, um zu zeigen, wie Fehlinterpretationen, die aufgrund von Mehrdeutigkeiten entstanden sind, spürbare Folgen haben können und wie diese Folgen auf die Interpretation und die Äußerung zurückverweisen.
1.2 (Be-)deuten und Interpretieren
Anstatt interpretieren hätte ich bisher auch deuten schreiben können. Mit beidem bezeichne ich dieselbe Tätigkeit einer Person. Wenn wir statt der Verben die Substantive Interpretation oder Deutung verwenden, tritt der Tätigkeitsaspekt in den Hintergrund und der Resultatsaspekt in den Vordergrund, im Sinne einer abgeschlossenen Interpretation oder Deutung. Den Ausdruck etwas bedeuten im Sinne von ‚mit einer Deutung versehen‘ hätte ich ebenso verwenden können, er ist heute aber abseits von hermeneutischen Diskursen kaum noch gebräuchlich. Das agentive Verb bedeuten betont den konstruktiven Aspekt des Deutens stärker als die anderen beiden Verben. Damit meine ich, dass wir, wenn wir etwas deuten, die Deutung eher aus einem Phänomen herauslesen, während wir, wenn wir etwas bedeuten, sie in das Phänomen hineintragen. Beim Substantiv Bedeutung ist aber nicht nur die Tätigkeitslesart zugunsten einer Resultatslesart verloren gegangen. Die Substantivierung hat uns auch nachhaltig davon entbunden, den Handlungsträger des Bedeutens zu nennen. Niemand sagt, er habe dieses oder jenes so oder so bedeutet. Dadurch ist auch der – man muss es so sagen – Bedeutungsaspekt weitgehend verloren gegangen, dass Bedeuten eine individuelle konstruktive Tätigkeit ist. Stattdessen wird mit der Bedeutung eines Phänomens etwas Fertiges und Überindividuelles bezeichnet, das man nur abzupflücken braucht, das mit dem konstruktiven Deuten, das jede Interpretierende an einem Phänomen selbst vornehmen muss, kaum mehr etwas zu tun hat.
Vor dem Hintergrund eines konventionalisiertenKonvention Zeichen- und Zeichenverknüpfungssystems wie der hochalemannischen (und jeder anderen natürlichen) Sprache mag die Äußerung in (1) der Leserin relativ enge Grenzen dafür setzen, wie sie die Äußerung hinsichtlich ihres Gehalts konstruktiv bedeuten kann. Sie mag sich den Ort, die Personen und was sie tun auf individuelle Weise vorstellen, so dass diese Vorstellung mit keiner Vorstellung identisch ist, die jemand anderes vornimmt, wenn er dieselbe Äußerung interpretiert. Wir können uns VorstellungenVorstellungbildhaft durchaus bildhaft vorstellen, so wie WahrnehmungenWahrnehmungbildhaft, nur dass die äußeren ReizeReiz fehlen. Die Vagheit der Ausdrücke in der Äußerung erlaubt der Phantasie einigen Spielraum, aber diese Vagheit ist etwas anderes als Mehrdeutigkeitmehrdeutigvs. vage. Die Eckdaten der sprachlich vermittelten Vorstellung – grob gesprochen, wasWas steht womit in welcher Beziehung? wo wie und wann womit in welcher Beziehung steht – sind konventionalisiert.
Diese KonventionalitätKonvention setzt nicht nur der Ausdeutbarkeit der Äußerung enge Grenzen, also ihrem Bedeutungspotenzial, sondern sie ist auch konstitutiv für ihre Zweideutigkeit. Ohne die sprachlichen Konventionen wäre diese Äußerung als bloße Sequenz von Geräuschen beinahe beliebig bedeutbar. Unter Berücksichtigung der sprachlichen Konventionen wird die Ausdeutbarkeit der grammatisch mehrdeutigen Äußerung lediglich etwas offener, als es eine grammatisch eindeutigeeindeutig Äußerung wäre, nämlich zweideutig.
1.3 Mehrdeutigkeitmehrdeutig und Ausdeutbarkeitmehrdeutigund ausdeutbar
Der konstruktive Aspekt des Bedeutens wird vielleicht offensichtlicher, wenn man die Tätigkeit des Bedeutens jenseits der Sprache in den Blick nimmt. Mehrdeutigkeit – oder besser gesagt, unterschiedliche Ausdeutbarkeit – begegnet uns nicht nur in der Sprache. Vielmehr ist sie ein allgegenwärtiges Phänomen. Was immer wir wahrnehmenWahrnehmung – einen auf uns zulaufenden Hund, einen Geruch, ein Geräusch, ein Bild vor unserem inneren Auge – versehen wir automatischAutomatismusAktivitätsartAutomatismus oder routinemäßigRoutine, RoutinisierungAktivitätsartRoutine, Routinisierung mit einer Deutung, das heißt wir be-deuten es. Es gibt wohl kein Phänomen, das nicht verschiedenartig deutbar wäre. Phänomene zu deuten ist so basal, weil unsere menschliche Existenz ohne diese Tätigkeit nicht denkbar wäre. Es hält uns in der spezifisch menschlichen Weise reaktionsReaktion- und handlungsfähighandlungsfähig. Um nur die äußeren Extreme zu nennen: Es schützt uns vor Gefahren für LeibLeib und Leben, eröffnet uns HandlungsmöglichkeitenHandlung für selbstgesetzte Zwecke und erlaubt uns, unsere Gene in einer Weise weiterzugeben, die für die Reproduktion aussichtsreich ist. Wir deuten Phänomene in jedem wachen Moment. Diese lebenserhaltenden und lebensermöglichenden Funktionen des Bedeutens geben die Hinsichten vor, in denen wir Phänomene deuten. Als Annäherung an diese Hinsichten können uns die deutschen W-WörterW-Fragen dienen: Was oder wer ist es (zum Beispiel: Freund oder Feind)? Wo ist es (zum Beispiel: zu nah)? Woher kommt es (zum Beispiel: Ist da noch mehr davon)? Was oder wer hat es verursachtUrsache (zum Beispiel: Warum passiert es)? Wohin geht es (zum Beispiel: Hört es auf)? Zusammen:
WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung?
Die Antworten auf diese Fragen, das Deuten von Phänomenen, stehen im Dienst einer übergeordneten Frage:
Was kannWas kann ich tun? ich (jetzt) tun?
Unsere wachen Momente sind in der Regel nicht dadurch gekennzeichnet, dass wir interesselos dasitzen und Eindrücke auf uns einströmen lassen, obwohl so manches kognitionswissenschaftliche Laborexperiment unter dieser Prämisse durchgeführt zu werden scheint. Stattdessen bewegen wir uns die meiste Zeit aktiv durch unsere Umwelt und versuchen, unsere kleinen (Tasse nehmen) oder großen (Raketenwissenschaftlerin werden) Ziele zu erreichen. Daher verwundert es kaum, wenn die Antworten auf die obigen W-Fragen, die uns alle ständig betreffen, bei verschiedenen Personen in derselben Situation oder bei derselben Person in verschiedenen Situationen, unterschiedlich ausfallen.
Wie unsere Deutungen ausfallen, ist abhängig von unserer menschlichen Physis und Kognition, von sozialen NormenNorm und KonventionenKonvention, von der inneren und äußeren Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, und von dem, was ich die „-enz-enz-Faktoren“-Faktoren-enz-FaktorenSalienz von Phänomenen nenne: ihrer Salienz, PertinenzPertinenz, FrequenzFrequenz und RezenzRezenz.1 SalienzSalienz betrifft die Auffälligkeit von Phänomenen in der Wahrnehmung, noch bevor sie als etwas (Was ist es?) erkannt wurden. Auffällige Phänomene sind diejenigen, die überhaupt erst Gegenstand der W-Fragen werden, zum Beispiel ein Knall oder etwas, das sich in unser Sichtfeld bewegt und dadurch unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. PertinenzPertinenz betrifft die Relevanz von Phänomenen vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen Handlungsziele und -interessen. In verschiedenen Situationen kann das gleiche Phänomen (zum Beispiel das Schild Frische Kreppeln) aufgrund verschiedener Pertinenzen (durch Hunger gegenüber Magen-Darm-Grippe) in Hinsicht auf die FrageWas kann ich tun? Was kann ich tun? verschieden bedeutet werden. Was ich tun kann, verengt sich in Abhängigkeit von der Pertinenz eines Phänomens darauf, was ich tun will. FrequenzFrequenz betrifft die Auftretenshäufigkeit von Phänomenen in Beziehung zu anderen Phänomenen. Jemand, der schon mehrmals von einem Hund verletzt wurde, wird das Herannahen eines Hundes mit einer anderen Bedeutung versehen als ein durchschnittlicher deutscher Hundezüchter, dem gewöhnlich nur die Hand abgeschlabbert wird. Was oft zusammen in einem bestimmten Kontext auftritt, wird leichter zusammen erinnert und dafür liegt in entsprechenden Kontexten leichter ein Deutungsrezept samtDeutungsroutineRoutine,