Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper


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INDEF Indefinitpronomen IMP Imperativ IO indirektes Objekt K Kasus KONJ Konjunktion KONJ Konjunktiv M / m Maskulinum MD Modus N [im Strukturschema] Numerus N / n Neutrum N Nomen NOM / Nom Nominativ O Objekt P Person PL / Pl Plural POSS Possessivrelator PPP Partizip Perfekt Passiv PRÄS Präsens PRÄT Präteritum PRO Pronomen PTZII Partizip II REL Relativierer TP Tempus S Subjekt SG / Sg Singular SUBJ / Subj Subjunktiv V (finites) Verb X Satzglied

      1 Einleitung: Verstehenverstehen als Leistung

      Man könnte (und, wie ich denke, mit gutem Recht) behaupten, die Unfähigkeit, sich bei der Suche nach einer Sicherheit, wie sie Menschen möglich ist, auf das Handeln zu konzentrieren, sei ein Überbleibsel der Unfähigkeit der Menschen auf jenen Stufen der Zivilisation, auf denen sie erst wenige Mittel besaßen, um die Bedingungen zu regulieren und nutzbar zu machen, von denen das Eintreten der Folgen abhängt. Solange der Mensch unfähig war, mit Hilfe der Künste der Praxis den Lauf der Ereignisse zu lenken, war es für ihn natürlich, einen emotionalen Ersatz zu suchen; mangels wirklicher Gewißheit inmitten einer prekären und vom Zufall bestimmten Welt kultivierten die Menschen alle Arten von Dingen, die ihnen das Gefühl der Sicherheit gaben. Und es ist möglich, daß die Kultivierung des Gefühls, wenn sie nicht bis zu einem illusorischen Punkt getrieben wurde, dem Menschen Mut und Vertrauen gab und ihn befähigte, die Last des Lebens leichter zu ertragen.

      (Dewey, Die Suche nach Gewißheit, S. 37)

      1.1 Ein Alltagsphänomenmehrdeutigalltägliches Phänomen

      Kurz nachdem Jesus von den römischen Soldaten ans Kreuz geschlagen worden war, traten seine Mutter Maria und der Lieblingsjünger Jesu vor das Kreuz. Im Bewusstsein, dass mit seinem Tod sowohl der Jünger als auch Maria den wichtigsten Menschen in ihrer beider Leben verlieren würden, erklärte Jesus, vom Kreuz herabsprechend, Maria und seinen Lieblingsjünger zu Mutter und Sohn. In Emil Webers hochalemannischerHochalemannisch BibelübertragungS Nöi Teschtamänt berichtet uns der Evangelist Johannes im anschließenden 27. Vers des 19. Kapitels Folgendes:

      Eine Leserin, die die Bibel in ihrer eigenen Muttersprache lesen möchte und die Geschichte noch nicht in allen Details kennt, liest vielleicht einfach über diese Stelle hinweg und geht nun davon aus, dass Maria, Jesu Wunsch entsprechend, den Jünger bei sich aufgenommen hat. Möglicherweise wird sie überrascht sein, wenn diese Stelle in einem Gespräch mit einem Zürcher Zeitgenossen zur Sprache kommt und dieser den Glauben äußert, nicht Maria habe den Jünger, sondern umgekehrt der Jünger Maria zu sich genommen. Der Zeitgenosse mag seinerseits überrascht von der Annahme sein, dass es anders sein könnte. Wenn sie gemeinsam die entsprechende Stelle nachschlagen, um zu überprüfen, wie es nun tatsächlich erzählt wird, werden sie feststellen, dass es nicht entscheidbar ist: Das Pronomen si, mit dem hier auf Maria referiert wird, und die Form de Jünger können beide sowohl den Nominativ als auch den Akkusativ darstellen und beide kongruierenKongruenz in Person und Numerus mit dem Auxiliar hät. Da Satzsubjekte im zürichdeutschen HochalemannischenHochalemannisch im Nominativ stehen und mit dem finiten Verb kongruieren und da (direkte) Objekte von nèè ‚nehmen‘ im Akkusativ stehen, können hier beide Ausdrücke, morphologischMorphologie gesehen, sowohl als Subjekt als auch als Objekt fungieren. Auch sind die Funktionen der beiden Ausdrücke nicht über ihre Position im Satz unterscheidbar. Die Form der Äußerung gibt Leserinnen also keinen Aufschluss darüber, wer hier wen zu sich nahm. Plausibilitätserwägungen, also inhaltliche Erwägungen auf Basis durchschnittlichen Weltwissens, könnten ergeben, dass Maria durch ihre Mutterrolle legitimiert gewesen wäre, den Jünger, und der Jünger qua Gender, die Frau zu sich zu nehmen. Für hochalemannische Leserinnen ist dieser Satz also grammatisch mehrdeutigmehrdeutiggrammatisch und sie werden weder in diesem Satz noch in einem vorangehenden oder nachfolgenden Satz einen zuverlässigenzuverlässigzuverlässig HinweisHinweis darauf finden, wie er denn nun richtig zu interpretieren ist.

      Äußerungen, die anders interpretierbar sind, als ein Sprecher oder Schreiber es beabsichtigt hat, sind schnell produziert und die Mehrdeutigkeit bleibt auch leicht unbemerkt, sowohl für den Urheber der Äußerung als auch für die Interpretierende, die sie verstehen möchte. (Wer hat beispielsweise bemerkt, dass der vorangehende Relativsatz der Form nach mehrdeutigmehrdeutig ist?) Dass sprachliche Äußerungen bisweilen mehrdeutig sind, gehört zu den Alltagsbeobachtungen der meisten Menschen. Dabei werden die Mehrdeutigkeiten sehr häufig aber deswegen gar nicht bemerkt, weil sie folgenlos bleiben. Sie können einerseits folgenlos bleiben, weil sie für die Lebenspraxis irrelevante Bedeutungsnuancen betreffen. Dass wir etwas falsch interpretiert haben, bemerken wir nur, wenn in der Folge der Interpretation etwas schiefgeht, was mit der Interpretation zu tun hat. Eine Interpretation aufgrund unsicherer Indizienlage ist eine bloße Annahme, auf deren Basis wir weiter handelnHandlung und die von unserer nichtsprachlichen Praxis oder kommunikativ von anderen Personen als falsch erwiesen werden kann, aber nicht muss. Die Annahme wird dann entweder modifiziert und eventuell als besser gesicherte Annahme beibehalten oder sie bleibt unverändert bestehen. Es ist gut möglich, dass unsere fiktive hochalemannische Leserin den Satz in Johannes 19, 27 falsch interpretiert hat, er aber nie wieder zur Sprache kommt und sie bis an ihr Lebensende davon ausgeht, dass Maria den Jünger zu sich genommen hat. Oder sie vergisst das Ganze.

      Unbemerkte Mehrdeutigkeiten können andererseits auch deswegen folgenlos bleiben, weil sie trotz der formalen Mehrdeutigkeit richtig, das heißt im Sinne des Urhebers, interpretiert werden, wie im Falle des Relativsatzes oben.

      Ob diese (kolportierte1) Schlagzeile in dem Bewusstsein formuliert wurde, dass sie mehrdeutig ist, und wie viele Leserinnen sie nur auf eine Art interpretiert haben, wissen wir nicht. Aber wer sich den Sportteil einer Zeitung vornimmt, geht mit bestimmten ErwartungenErwartung an die entsprechenden Schlagzeilen und Artikel. Wenn dort dann die Rede von einem Hole in One ist, wird dies sehr wahrscheinlich


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