Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
Verstehen der ÄußerungshandlungÄußerungshandlung prinzipiell praktische Kriterien angeben, nämlich praktischer Erfolg oder Misserfolg hinsichtlich des eigenen Ziels infolge der Interpretation. Kommt unser Umherirrender am Brauhaus statt am Bahnhof heraus und hat er den Äußerungsinhalt richtig interpretiert und ansonsten alles richtig gemacht (was ich hier voraussetzen möchte), kann er davon ausgehen, dass er die HandlungHandlung seiner Gewährsperson falsch gedeutet hat, beziehungsweise nicht verstanden hat, dass sie ihn also getäuscht hat. Unser Umherirrender könnte, am Brauhaus statt am Bahnhof angekommen, wohin er eigentlich wollte, einer kompetenten und kooperativeren Zeitgenossin die Wegbeschreibung nacherzählen, die er befolgt hat. Wenn sie ihm sagt, dass die Wegbeschreibung den Weg zum Brauhaus, aber nicht zum Bahnhof richtig wiedergibt, weiß er, dass er die Wegbeschreibung verstanden, aber die Motive der Gewährsperson falsch verstanden hat. Auf diese Weise ist prinzipiell unterscheidbar, ob etwas oder jemand missverstanden wurde. Im Einzelfall wird aber bisweilen nicht mehr zu klären sein, ob die Äußerung oder die Handlung der Interaktionspartnerin oder beide missverstanden wurden, weil beide nicht mehr verfügbar sind.
Im Falle unserer hochalemannischen Bibelleserin ist die Äußerung verfügbar, der Interaktionspartner, der Urheber der Äußerung, dagegen nicht, weder EmilS Nöi Teschtamänt Weber noch Johannes, der Evangelist. Die Interpretation der Leserin, ihre Antwort auf die Frage WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung? war ja, wie ich zu Anfang angenommen hatte, dass in Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa Maria den Jünger zu sich nahm. Ob sie damit die Äußerung auch verstanden hat, wird sie vielleicht nie erfahren, weil ihre Interpretation keine praktischen Folgen zeitigt, wie dies im Tankbeispiel und bei der Wegbeschreibung möglich wäre. Aber wir, die wir die Deutungen unserer Leserin deuten, können, möglicherweise im Unterschied zu ihr, trotzdem angeben, ob sie die Äußerung richtig oder falsch verstanden hat. Wir können dem Urheber der Äußerung aufgrund der Äußerung, die allen Konventionen der hochalemannischen Sprache folgt, zuschreiben, welche Vorstellung er davon gehabt haben muss, was in der berichteten Situation was ist, wo was ist und was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht. Für grammatisch eindeutigeeindeutig Äußerungen ist es ohnehin möglich anzugeben, wie sie hinsichtlich der Frage zu verstehen sind, was in ihnen womit in welcher Beziehung steht. Für grammatisch mehrdeutige Äußerungen wie Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa kann man sich, zumindest im Falle der Bibel, mit der Textsorte behelfen. Das Neue TestamentNeues Testament ist in ca. 1900 Sprachen übertragen und was in einer Bibel grammatisch mehrdeutig ist, ist in vielen anderen grammatisch eindeutigeindeutig.1 Das wird für die spätere Untersuchung von großem Nutzen sein. Wir können dagegen nicht viel Zuverlässiges darüber sagen, welche Ziele Weber und Johannes verfolgt haben, indem sie uns ihre neutestamentlichen Äußerungen vorgelegt haben. Nach eigener Aussage wollte Weber aber genau übertragen.2 Damit verschöbe sich die Frage nach den Motiven und Zwecken zurück zu Johannes und würde zu einer theologischen. Aber beide haben sich schon in notwendiger Weise kommunikativ kooperativ gezeigt, indem sie uns Texte vorgelegt haben, die den KonventionenKonvention ihrer jeweiligen Sprache entsprechen. Wir können davon ausgehen, dass der Evangelist Johannes – der sich möglicherweise in der Rolle des Lieblingsjüngers Jesu selbst in der Frohen Botschaft untergebracht hat – seine Deutungen, mit welchen Motiven auch immer, mit seinen Äußerungen unmissverständlich kundtun wollte. In der altgriechischen Version der Evangelien, die Emil Weber seiner Übertragung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa zugrunde gelegt hat, ist unser Beispielsatz nun auch grammatisch eindeutigeindeutig. Dort repräsentiert ὁ μαθητὴς (ho mathētēs) ‚der Jünger‘ eindeutig einen Nominativ und αὐτὴν (autēn) ‚sie‘ eindeutig einen Akkusativ. Der Jünger nahm also die Frau mit sich. Eine andere Interpretation ist hier vor dem Hintergrund der entsprechenden sprachlichen Konventionen ausgeschlossen. Wir können auch davon ausgehen, dass Emil Weber seinen Leserinnen diese Informationen nicht vorenthalten wollte. Er hatte aufgrund der eindeutigen altgriechischen Äußerung eine klare Vorstellung davon, wer wen mitnahm und er verwendete die sprachlichen Ausdrucksformen, die ihm in seiner zürichdeutschenHochalemannisch Muttersprache zur Verfügung standen und gleichzeitig nah an der griechischen Vorlage lagen. Die Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ, die an den altgriechischen Formen erkennbar ist, stand ihm in der hochalemannischen Übertragung nicht zur Verfügung und die ReihenfolgeReihenfolge zwischen beiden Ausdrücken hat er umgedreht. Dass dies bei seinen Leserinnen zu einer von ihm nicht beabsichtigten Deutung davon führen kann, wer wen mitnahm, hat er wahrscheinlich gar nicht bemerkt.
1.5 DeutungsautomatismenAutomatismus, DeutungsroutinenRoutine, Routinisierung und DeutungsarbeitArbeit
Wenn wir hier darüber reflektieren, wie Sprachbenutzerinnen sprachliche Äußerungen interpretieren, deuten wir ihre Deutungsaktivitäten. Dass wir unsere und ihre Tätigkeiten mit dem gleichen Ausdruck deuten bezeichnen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aktivität des Deutens ganz unterschiedliche Qualitäten annehmen kann; deuten ist ein vager Ausdruck.
Die hochalemannische Leserin, hier wieder stellvertretend für alle Sprachbenutzerinnen, kann in Windeseile einfach über unseren Beispielsatz aus dem Johannesevangelium hinweglesen und dabei wird in Sekundenbruchteilen die komplexe VorstellungVorstellung in ihr hervorgerufen, dass die Frau den Jünger zu sich genommen hat. In gleicher Weise lesen Sie die meisten Sätze in diesem Buch. Deuten in dieser Weise ist zwar komplex und besteht aus vielen Teilprozessen und -aktivitäten, die von basalen WahrnehmungsprozessenWahrnehmung bis hin zu Antworten auf die Frage WasWas kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? reichen, aber zugleich vollziehen wir es hochgradig automatisiert und routinisiert. Automatisch laufen dabei Prozesse ab, die immer ablaufen, wenn bestimmte Phänomene wahrgenommen werden und die nicht unterbrochen werden können, wie zum Beispiel die AssoziationAssoziation der Buchstabenfolge Jünger und der Vorstellung eines Jüngers. Routinen umfassen dagegen HandlungenHandlung, die so oft ausgeführt worden sind, dass sie nicht mehr aufmerksam ausgeführt werden müssen. Sie können allerdings, anders als die Automatismen, unterbrochen werden, wenn es nötig ist. Ohne die entsprechenden Experimente, und das heißt im alltäglichen Einzelfall, sind RoutinehandlungenHandlung und automatisches VerhaltenVerhalten oft nicht zu unterscheiden. Das Deuten im automatischen und routinisierten Modus erfolgt schnell und effektiv, aber alternative Deutungen werden dabei übersehen. Haben Sie bemerkt, dass weiter oben in diesem Absatz der Satz In gleicher Weise lesen Sie die meisten Sätze in diesem Buch grammatisch mehrdeutig ist?1 Wenn wir in diesem Modus des Deutens sind, ist die Form einer Äußerung äußerst flüchtig und sie ist uns nur so lange präsent, bis sie sich in unserem Kopf in Vorstellungen verwandelt hat.
Von diesem automatisierten und routinisierten Deuten ist das Deuten zu unterscheiden, das wir vollziehen, wenn wir uns die Ausdeutbarkeit einer Äußerung vergegenwärtigen. Dieses Deuten ist viel weniger automatisiert und routinisiert, es ist um ein Vielfaches langsamer und liefert gleichzeitig oft anscheinend nur einen relativ geringen Zugewinn an Deutungsakkuratheit.2 Bei diesem Deuten, das wir als Deutungsarbeit bezeichnen können, ist die sprachliche Form beziehungsweise das wahrnehmbare Phänomen viel weniger flüchtig.3 Vielmehr wird es dabei vor dem (inneren oder wirklichen) Auge oder Ohr präsent gehalten und gegebenenfalls dorthin zurückgeholt, also reflektiert. Bestimmte Teile der komplexen Deutungsaktivität werden zyklisch wiederholt, zum Beispiel das Scannen des Phänomens, das (innere oder äußere) Verweilen auf einem Teil davon, das Umschalten und erneute Umschalten der Zuordnungen zwischen bestimmten Formen und den Vorstellungen, die sie hervorrufen. Wir haben dies beispielsweise bei si und de Jünger in (1) sowie bei Hole in One in (2) getan. Darin – Scannen, Verweilen, Umschalten, Wiederholen – unterscheiden sich unsere Interpretationen mehrdeutigermehrdeutiget passim Äußerungen kaum von unseren Interpretationen gestaltpsychologischer Kippbilder wie desjenigen in Abbildung 1.
Gestaltpsychologisches Kippbild
Wenn wir ein Phänomen interpretieren, tun