Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
(und wenn wir berücksichtigen, dass die Äußerung auf andere folgt und anderen vorangeht, kann sie auch nicht angeben, wo sie beginnt und endet). Sie muss also die Einteilungsschablone kennen, die zur sprachlichen Eigenstruktur gehört und wissen, welche lexikalischen Lücken diese Schablone (konventionell) füllt und welche sie offenlässt. Sie würde dann wissen – im Sinne eines Know-hows –, dass sie es in der Äußerung Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich … mit den KategorienWortart Adverb, Verb, Artikel, Substantiv, Artikel, Substantiv, Substantiv, Präposition, Reflexivpronomen zu tun hat. Aber wo kann sie ihren interpretativen Anker werfen?
Ein möglicher Ankerpunkt dürfte für die Interpretin die Kenntnis sein, welche HandlungHandlung der Schreiber vollzieht, indem er die Äußerung tätigt. Wir haben gesehen, dass allein schon das Ansprechen der Interpretin eine kommunikative Handlung ist. Sie weiß aber noch nicht, was für eine Handlung es ist. Behauptet, erfragt oder befiehlt der Schreiber etwas? Natürlich könnten wir sagen, dass in dem Ausdruck Jünger eine Zuschreibung steckt, die einem Gegenstand das Jüngersein zuschreibt. Aber die Äußerung in (4) enthält neben dieser und ähnlichen Zuschreibungen eine noch zentralere, nämlich die zu-sich-Nehmen-Beziehung zwischen dem Jünger und der Mutter Jesu. Vor dem Hintergrund dieser Beziehung werden das Jüngersein des Jüngers und das Mutter-Jesu-Sein der Mutter zwischen Schreiber und Interpretin bloß vorausgesetzt. Die Nehmen-Beziehung ist einerseits zentral, weil sie als Eventualität salienterSalienz ist als das Jünger- und Muttersein. Dass sie dem Jünger und der Mutter zukommt, ist flüchtig und veränderlich und provoziert in besonderer Weise Antworten auf die W-FragenW-Fragen. Die Nehmen-Beziehung ist andererseits zentral, weil sie durch Ausdrucksmittel gekennzeichnet ist, die zur Eigenstruktur der Sprache gehören. Das ist im Deutschen und Englischen vor allem die Finitheit des Verbs, mit der diverse Funktionen wie Person, Numerus, Modus, Tempus, (mehr oder weniger periphrastisch) Diathese und die KasusbestimmungKasus für das Subjekt assoziiert sind. In der Äußerung in (4) ist nahm ein finites Verb und zeigt die 1. oder 3. Person Singular Indikativ Imperfekt Aktiv an. Damit geht einher, dass die Nehmen-Beziehung, nicht aber das Jünger- oder Muttersein zur Debatte gestellt wird. Anhand weiterer Merkmale der sprachlichen Eigenstruktur kann die Interpretin dann erschließen, ob der Schreiber ihr etwas mitteilt, sie etwas fragt oder ihr etwas befiehlt. Zu diesen Merkmalen gehören die Abfolge der Elemente (Nahm der Jünger … zu sich?), die FlexionsformMorphologie des Verbs (Nimm … zu dir!) und die ProsodieProsodie (Der Jünger nahm … zu sich?/.). Das heißt, wenn jemand auf die Äußerung in (4) hin Das stimmt nicht. ohne weitere Ausführungen antwortet, bestreitet sie, dass die Beziehung so bestand, aber nicht, dass den in dieser Beziehung vorkommenden Gegenständen das Jüngersein, Muttersein und so weiter zukommt. Diese Zuschreibungen sind zwar prinzipiell auch anerkennbar oder bestreitbar, aber sie stehen in dieser konkreten Äußerung nicht zur Debatte, weil sie nicht explizit mittels finiter Verbformen zugeschrieben werden.
Die Interpretin könnte so ihren interpretativen Anker in die Entäußerung des Schreibers werfen und nun Antworten auf die W-FragenW-Fragen suchen, die durch die Äußerung provoziert werden.
Ich möchte wenigstens versuchen, prinzipiell nachzuvollziehen, über welche Kenntnisse die Interpretin verfügen muss, um ihren Anker in die Äußerung werfen und Antworten auf die W-Fragen geben zu können. Welche Antworten kann sie geben, welche wird sie nicht geben, und warum? Dies darzustellen muss einerseits sehr allgemein und kursorisch ausfallen. Es ist leicht zu sehen, dass eine ausführliche Beschreibung der Ursachen, warum die Deutungen sprachlicher Äußerungen nicht willkürlich erfolgen, einer Universalgrammatik nahekäme, die erklärt, warum Sprache als menschliches Phänomen sowie Einzelsprachen als ihre Instanzen jeweils als Kommunikationsmittel funktionieren. Sie muss andererseits auch zu spezifisch ausfallen, weil ich mich im vorliegenden Buch primär für das Deutsche und Englische interessiere sowie für die W-Fragen in Bezug auf den Äußerungsinhalt. Zum Dritten kann eine schrittweise, das heißt methodische Rekonstruktion der Geregeltheit von Deutungen nicht geleistet werden. Der Grund ist folgender: Bei der Beschreibung, wie die Interpretin ihren interpretativen Anker werfen kann, haben wir bereits auf einige Ausdrucksmittel Bezug genommen, die bereits zur konventionalisierten Eigenstruktur von Sprache gehören, zum Beispiel auf WortartenWortart, SatzgliedreihenfolgeReihenfolge, ProsodieProsodie und FlexionMorphologie. Wenn wir diese Regelungen, denen Deutungen unterliegen, schrittweise einführen wollten, könnten wir sie uns in Form von Wenn …, dann …-Instruktionen denken, so zum Beispiel: Wenn die Äußerung Jünger aufweist, stelle Dir einen bestimmten Jünger vor! Die Schwierigkeiten sind leicht zu erkennen: Der Ausdruck Jünger benötigt für seine Bestimmtheit einen Determinierer. Um die Bestimmung nachzuvollziehen, wird ein Ko(n)text benötigt. Der Determinierer muss in KasusKasus, Numerus und Genus mit Jünger kongruierenKongruenz. Jünger kann auch ein Plural sein. Jünger kann überdies auch als Komparativ von jung verwendet werden. Und warum sollte Jünger ein Ausdruck für einen Gegenstand sein und nicht für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft? Die Anweisung müsste also in der Wenn-Klausel alle unerwünschten Deutungen ausschließen. Dafür müssten wir die Wenn-Klausel um weitere Wenns erweitern, bis die Dann-Klausel erfolgreich befolgt werden könnte. Konsequent durchgeführt, würde das darauf hinauslaufen, dass jede einzelne dieser Wenn …, dann …-Anweisungen unzählige, wenn nicht alle Wenn-Klauseln für eine Sprache, das heißt alle eigenstrukturellen Regelungen für erfolgreiche Interpretationen enthielte. Der erste Schritt der Rekonstruktion wäre damit unter Umständen schon der letzte.
2.2.2 Vom Öffentlichen zum Privaten: ein erster geschummelter Versuchsymbolische Auslagerung
Unabhängig davon, dass die Äußerung des Schreibers ein kooperativer kommunikativer Akt ist, fordert sie bereits als salientesSalienz Phänomen von der Interpretin eine Deutung. Dass die Äußerung ein kooperativer kommunikativer Akt ist, ist bereits das Resultat einer Deutung. Die Interpretin erkennt in der ÄußerungshandlungÄußerungshandlung eine kooperative kommunikative Absicht. Nun muss sie für das Geäußerte selbst Antworten auf die W-FragenW-Fragen finden. Diese Aufgabe ist – um noch einmal daran zu erinnern – umso anspruchsvoller dadurch, dass ihre Deutung etwas mit der Vorstellung des Schreibers gemeinsam haben muss, obwohl diese doch in ihrer sprachlichen Verpackung der meisten Bestimmungen entledigt ist. Denn das Gemeinsame bildet den Kern des Ausdrucks Kommunikation.
Als kooperativer kommunikativer Akt ist die Äußerung für die Interpretin so etwas wie eine Handlungsaufforderung im Sinne von Werde angesichts meiner Äußerung tätig! In welcher Weise sie tätig werden soll, ist damit natürlich noch nicht spezifiziert. Wir haben versucht, mit der Interpretin einen interpretativen Anker in der Äußerung in (4) zu werfen, was sie einer Antwort auf diese Frage näherbringt. Wir konnten über die flektierte Form des Verbs eine Behauptung identifizieren. Als Behauptung zeigt die Äußerung der Interpretin an, wie sie das Behauptete nun praktisch verwerten, also beispielsweise zur Kenntnis nehmen, anerkennen, ihm zustimmen oder es bestreiten und ablehnen kann. Wir mussten dabei aber Bezug auf diverse andere sprachliche Ausdrucksmittel nehmen, die alle ebenfalls Funktionen für die Interpretation haben und kaum unabhängig voneinander charakterisiert werden können. Kraft ihrer Geregeltheit stellen Äußerungen für die Interpretin nun so etwas wie InstruktionenInstruktion zum Aufbau von komplexen VorstellungenVorstellung und zum praktischen Verfahren mit diesen Vorstellungen dar.Instruktionsgrammatik1 Sowohl beim Vorstellen als auch beim praktischen Handhaben der Vorstellungen können wir noch weitere Unterscheidungen treffen, die in Abbildung 2 aufgeführt sind.
Der Instruktionscharakter von Äußerungen
Die Unterscheidungeninstruktive Leistungen können sicher auch feingliedriger getroffen werden, aber für mein Erkenntnisinteresse reichen sie aus. Das Vorstellen von etwas betrifft die einzelnen Vorstellungen, die durch Ausdrücke oder Ausdrucksteile hervorgerufen werden (a). Hierhin gehören bereits die DependenzenDependenz, die durch symbolische Auslagerungen entstehen. Ein Ausdruck, der eine symbolischesymbolische Auslagerung Auslagerung enthält, instruiert zwar zum Vorstellen von etwas, aber um die Instruktion zu befolgen, muss zuerst dasjenige