Wir reden, noch. Norbert Philipp

Wir reden, noch - Norbert Philipp


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inzwischen schon so einiges direkt ansprechen, von dem man früher nie geglaubt hätte, das es einmal tatsächlich auf einen reagieren würde. Auch Avatare kommen zum Einsatz. Designer gestalten sie so, dass sie so aussehen wie Menschen. Dabei belegen ein paar Studien, dass wir einen Avatar wahrscheinlich auch menschlich behandeln würden, wenn er ausschauen würde wie eine Waschmaschine. Solange er mit uns spricht. Oder uns andere gut versteckte Hinweise gibt, dass vielleicht doch ein Mensch in oder hinter ihm steckt. Menschen tendieren dazu, Maschinen genau so zu behandeln wie Menschen. Sonst wäre man auch nicht persönlich enttäuscht vom Computer, wenn er wieder abstürzt. Ein klarer Vertrauensbruch. Freundschaft gekündigt.

      Dass die Menschen weniger geworden sind, auf die man sich während einer Interaktion mit Augen und ganzem Körper richten kann, damit muss man sich arrangieren. Und wenn dann doch plötzlich jemand leibhaftig vor einem steht, dann muss man sich erst recht arrangieren.

      Trotz allem Ausblenden von unserer und von der Gegenseite, trotz aller Exit- und Vermeidungstrategien, die bis tief hinein ins Handydisplay führen – bleiben noch immer eine Menge Menschen, mit denen man umgehen muss. Und dafür folgen die meisten gewissen Strategien, um aus dem Ganzen unbeschadet und womöglich zufrieden wieder herauszukommen: sich gegenseitig abzustimmen ist eine davon. Etwa mithilfe verschiedener Übereinkünfte, die man spontan schließt. Die erste und entscheidende für den Face-to-Face-Kontakt: Ich bin da. Du bist da. Auch das sollte mal für alle Beteiligten klar sein. Im Bestfall jedoch hat man sich gegenseitig wahrgenommen. Damit ist schon viel geschafft. Dann kann das Spiel beginnen: Man versucht zu antizipieren, Perspektiven einzunehmen, Hypothesen aufzustellen, was der andere vorhat und wie die Welt wohl aussieht, wenn man sie aus der Warte des anderen betrachtet. Gleichzeitig kündigt man sein eigenes Vorhaben an, gestisch, mimisch. Am Gehsteig hat das früher meist damit geendet, dass man kollisionsfrei aneinander vorbeigeglitten ist. Doch heute scheitert das Konzept oft schon an Punkt eins: eben der Wahrnehmung. Noch dazu, weil einseitige Wahrnehmung noch nicht reicht. Als Versuch, um festzustellen, wie wenig man tatsächlich wahrgenommen wird in stimulusdichten Umgebungen, muss man nur bei einem Geschäft einmal die Tür aufhalten und zählen, wie viele Menschen hineinschlüpfen, ohne zu bemerken, dass ihnen überhaupt die Tür aufgehalten wird.

      Als der einzig relevante Raum noch der war, durch den man gerade ging, war eine Begegnung auf dem Gehsteig fast eine Performance. Zumindest klingt es so, wenn sie soziologische Beobachter menschlicher Interaktionen im 20. Jahrhundert beschrieben haben. Die Ellbogen werden eingezogen, die Schultern werden gedreht, das läuft ja wie geschmiert; kaum ist man vorbei, macht man sich wieder breit. Mit dem Körper setzt man kleine Hinweise auf die Richtung, die man gedenkt einzuschlagen. Doch mit ihrem ehemals inhärenten Koordinations- und Navigationssystem sind die Menschen inzwischen gehörig durcheinandergekommen. Es wirkt fast, als könnten sie zwar über einen Chat am Handydisplay die Präsenz jedes anderen erspüren, aber die eigene im konkreten Raum dafür umso weniger. Kein Wunder, dass das Standardnavigationssystem, das uns stets verlässlich durch die Räume geführt hat, das uns gesagt hat, ob wir schon zu nah sind oder doch noch zu weit weg, ein wenig aus der Balance geraten ist. So oft, wie sich virtuelle mit realen Räumen im Laufe eines Tages überblenden. Und auch die gepolsterte Komfortzone, der unsichtbare Airbag, den wir als „Personal Space“ vor uns hertragen, wäre fast ein Fall für eine Rückholaktion des Herstellers. Wenn man schließlich doch ein Gegenüber gefunden hat – eines, das menschlich, unmaskiert oder zumindest nur mit Mund-Nasen-Schutz, nüchtern und aufmerksam ist –, dann merkt man: Schon die stummen Begegnungen verlaufen anders, die sprachlichen umso mehr. Denn das Smartphone hat den Modus verändert. Allein dadurch, dass es dabei ist, auch wenn man es nicht benutzt, verändert sich die Kommunikation. Das meint etwa die deutsche Soziologin Angela Keppler.12 Doch oft genug liegt das Smartphone nicht nur daneben, als stumme Verheißung, dass sich ein anderer gleich einschalten könnte in die Situation – es bringt sich auch selbst in Gespräche ein. Oft ist es selbst schon Thema. Weil es neu ist und jetzt noch mehr kann als vorher. Oft liefert es aber auch neuen Stoff für die Unterhaltung, weil mit ihm automatisch der Zugang zum Wissen der Welt offenliegt. Der Content aus dem Netz könnte ja auch bebildern, illustrieren, untermauern und vertiefen, was man so beiläufig vor sich herplappert. Auch dadurch ist ein Gespräch gleich ganz anderes getaktet. Den Rhythmus geben dann etwa sprachliche Hinweise vor wie: „Das schau’ ich gerade mal nach“, „Google das einmal“, „Was meint Wikipedia dazu?“ All das verweist in einen parallelen, erweiterten Interaktionsraum, in den man kurz virtuell beiseitetritt. Wenn es das Gespräch verlangt. Oder wenn einem dann doch nichts mehr selbst einfällt. Als „Augmented Communication“ fasst Richard Pinner dieses Interaktionsphänomen in seinem Buch zusammen.13 Die Aufmerksamkeit wird gleichermaßen und gleichzeitig verteilt auf den Interaktionsraum vor Ort und den Cyberspace, denen man sich abwechselnd zuwendet. In einer Gesprächsspielform, die auch schon als „Cross Digital Talk“ bezeichnet wurde.14 So scheint vielleicht dieses Szenario dann doch am wahrscheinlichsten: Die Face-to-Face-Kommunikation wird nicht abgeschaltet, nur umgeschaltet in einen neuen Modus. Und der funktioniert fast wie „persönliches Gespräch Plus“. Also: die Qualitäten und Authentizität der fokussierten Interaktion unter vier oder mehr Augen, erweitert und bereichert auf Wunsch – mit dem Content, den der Gesprächsfluss, das Thema, die Situation gerade brauchen könnte. Eine kommunikative Interaktion, in der man sich dem Gesprächspartner und dem Stoff aus den Datenwolken gleichermaßen zuwendet.

      Viele Gespräche beginnen inzwischen auch anders, wenn man sie in einem speziellen Modus mündlich führt, nämlich „fernmündlich“. Ein beliebter Gesprächseinstieg etwa ist: „Wo bist du?“ Denn gerade das ist, wenn man jemanden anspricht, gar nicht mehr so klar. Früher hieß das noch: „Was? Du auch hier?“ oder „Was machst du denn da?“ Dass Gesprächspartner nicht mehr da sind, wo man selbst gerade ist, daran ist aber nicht die Digitalisierung schuld. Sondern eher dass sich in die menschliche Kommunikation wieder so ein penetrantes Präfix hineingedrängt hat – und das gleich an so vielen Stellen des Alltags, nämlich das „Tele“, wie etwa in „Telekommunikation“. Der Vorteil von Face-to-Face-Situationen: Man sieht sofort, wenn’s gerade nicht passt. In fernmündlichen muss man da schon mal nachfragen, was häufig auch geschieht: „Stör’ ich?“ Vor allem noch, als neben dem ständigen Erreichbarsein auch das ständige Abheben noch zum guten Ton bei der Handytelefonie gehörte. Und während des Gesprächs, bei dem man einander nicht sieht, muss man auch extradeutlich akustisch signalisieren, dass man noch dran ist. Damit man sich auch überhaupt einmal gehört und verstanden fühlt. Doch der bei Weitem noch größere Teil der Gespräche verläuft heute ohnehin nicht nur ohne Gesichter, sondern überhaupt gleich ohne ausgesprochene Worte. Dafür mit getippselten, die sich dann doch wieder irgendwie fast anhören, als hätte sie jemand ausgesprochen. Es ist tatsächlich passiert: Man redet schriftlich. Mit ein Grund, warum es ein wenig länger dauern kann, bis das Gespräch zu Ende ist. Meist weiß man das in digitalen Chats auch gar nicht so genau, ob man jetzt vielleicht noch etwas sagen sollte oder ob ohnehin schon alles geklärt ist. Gerade Messengerdienste wie WhatsApp haben Gespräche ziemlich zerdehnt. Tatsächlich Schluss ist manchmal erst, wenn die Hardware die nächste Softwareaktualisierung nicht mehr mitmacht. Bis dahin hängen zahlreiche lose Gesprächsfäden unsichtbar im virtuellen Raum. Mal zieht man an dem einen, mal knüpft man an dem anderen weiter.

      In der Schweiz haben sich die Sprachwissenschaftler besonders intensiv damit beschäftigt, was Jugendliche entlang ihrer langen, langen Gesprächsfäden am Handy so auffädeln. An sprachlichen Zeichen natürlich, aber auch an nichtsprachlichen.15 Eine der Diagnosen: Was sie so auf WhatsApp hin- und herschicken, das hat man sich früher fast ausschließlich ins Gesicht gesagt, nämlich – den Dialekt. Der ist inzwischen von seiner ursprünglichen Domäne in die schriftliche Kommunikation gerutscht, die ja gerne so tut, als wäre sie gar keine. Doch man redet nicht nur, wenn man schreibt, sondern man schreibt manchmal auch, wie man früher nicht einmal gesprochen hätte. Weil man einige Zeichen lautlich gar nicht mehr so gut in den Mund nehmen kann, vor allem wenn es Abkürzungen sind wie „WTF“, wenn man die Welt nicht mehr versteht, oder „LOL“, wenn man gerade besonders lustig ist. Noch schwieriger für den Mundgebrauch: Emojis muss man wieder zurück in echte Ereignisse und Gefühle transkribieren, um sie auszusprechen. Der „Iconic Turn“, also die Wende zur bildhaften Kommunikation, ist spätestens mit den Emojis in der Sprache und in den Gesprächen, die man mit ihr führt,


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