Wir reden, noch. Norbert Philipp
der deutschen Standardsprache aufgebaut haben. Achtung, Armageddon: Der Smiley mit den Lachtränen ist auch schon einmal zum Wort des Jahres gekürt worden, vom Komitee der Oxford Dictionaries in Großbritannien, im Jahr 2015. Die uranalogen Metaphern wie „in Stein gemeißelt“oder „schwarz auf weiß“ – in der digitalen Kommunikation haben sie kaum mehr etwas zu melden. Alles scheint zerstäubt in unverbindliche Datenwolken. Und jene, die noch mit sprachlichen Konventionen aufgewachsen sind, hängen inzwischen in den schriftlichen Gesprächsformaten sicherheitshalber einfach eine Entschuldigung hinten dran: „Von meinem I-Phone gesendet“ – die Abbitte, für alles, was zuvor aus der Orthographie und sonstigen Normen gepurzelt sein könnte.
Dass sich Gespräche heute anders anhören, merkt man auch, wenn man sie – anhört: Stimmt schon, wenn man sich abends die Gespräche seines eigenen Tages vorlesen würde, würde man sie am liebsten redigieren. Kaum ein Satz ist da fertiggesprochen. Und hat er doch einmal Anfang und Ende, dann trägt man ihn dem anderen im Laufe eines Tages gerne in unterschiedlichsten Varianten vor. Auch ein Grund, warum sich Drehbuchautoren mit den möglichst „natürlichen“ Dialogen am meisten abmühen. Selbst Kabarettisten bieten inzwischen mündlich auf der Bühne dar, was sie über die Tage schriftlich so vor sich hingeredet haben: Klaus Eckel liest gern aus den WhatsApp-Gruppen der Schule seiner Kinder vor – die besten Pointen, die er nicht selbst geschrieben hat. Auch das deutsche Fernsehmoderatorenduo Joko und Klaas haben Dialoge wieder vermündlicht, jene, die sie sich aus Chats der eBay-Kleinanzeigenplattform geborgt haben – und daraus wurde ein Comedyformat. Auch weil sich Online-Dialoge den sprachlichen Füllstoff sparen, mit dem man die mündliche Kommunikation gerne auskleidet. Digital kommt man schneller auf den Punkt. Geschuldet ist das auch den Designvorgaben der Gesprächskanäle, die oft gar nichts anderes zulassen. Vor allem nicht mehr als 160 Zeichen, als SMS. Okay, bei einem Kanal, der „Short“ und „Message“ im Namen trägt, hätte man nichts anderes erwartet. Mit 280 Zeichen kann man sich inzwischen bei Twitter auslassen, anfangs war sogar nach 140 Zeichen ausgezwitschert. Ausreichend Platz noch immer, um einen ganzen Roman unterzubringen, wie es das experimentelle Genre der „Twitteratur“ versucht hat.
Mit bestimmten Phrasen, „Hallo erstmal“, Prolog, Epilog und konsequentem Einsatz von verbalen Schmiermitteln hält sich der Chat nicht auf. Die Anrede spart man sich auch, die man verschwommen noch aus Archetypen der schriftlichen Kommunikation, dem Brief etwa, kannte. Auf Plattformen wie Twitter sind ohnehin alle gemeint: Wer das liest, der ist auch angesprochen. Warum denn jemanden noch extra anreden? Vor allem mit Anfang und Ende tun sich digitale Formate oft schwer. Man macht einfach weiter, dort, wo man gar nicht mal richtig aufgehört hat. Bei Face-to-Face-Gesprächen dagegen dauert das Ende der Kommunikation manchmal länger als der inhaltliche Austausch davor. Schließlich muss man noch emsig die Beziehung beim Verabschieden bearbeiten, falls man sich doch noch einmal wiedertrifft.
Die Digitalisierung schickt die Kommunikation durch den Häcksler: Die Redeportionen werden deutlich kleiner. Manche Gespräche wirken zerfetzt, zerbröselt, vielleicht auch, damit man sie besser streuen kann, in alle Richtungen. Ein Häppchen hier, ein Häppchen dort, klein genug sollten sie sein, dass man sie inhaltlich nebenbei und ganz beiläufig verdauen kann. Man ist ja eigentlich beschäftigt. Mit etwas ganz anderem. Noch so ein digitales Symptom: Wenn sich die eine Welt in die andere blendet. Genau das ist auch mit der öffentlichen und der privaten passiert. Früher hätte man manche Emotionen zuhause gelassen, gemeinsam mit bestimmten Gesprächsthemen, das hat eine soziale Norm so geregelt. Inzwischen fühlen sich viele aber immer dort zuhause, wo ihr Smartphone gerade ist. Dieses Gefühl kollidiert dann allerdings gerne mit den Gefühlen von anderen, die meinen, sie seien gerade im öffentlichen Raum. Vor allem wenn dort nach ehemaligen Maßstäben gewisse Kommunikationsformate plus Themen gar nicht hingehören würden. Das Smartphone hat die Gespräche, an denen man teilnehmen kann, als Unbeteiligter und Zuhörer, vor die Tür getragen. Und plötzlich ist jeder Ort für jedes Thema gut. Früher hat man zwischen Beichtstuhl, Bar, Kaffeehausnische und Stadiontribüne noch unterschieden. Wenn jetzt jede Straßenecke für jeden Gesprächsstoff taugt, kann am Ende des Tages schon ganz schön was hängen bleiben an Gesprächsfetzen, mit denen man aus der Stadt nachhause kommt. Mit einer schönen Auswahl aus dem weiten Spektrum des Lebens der anderen: „Ach, meine Krampfadern“, „Was gibt’s zum Abendessen“, „Pauh, gestern war wieder eine Nacht“. Vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen sich viele Benutzer kommunikativ dann doch ziemlich privat fühlen. Da kommt schon nach ein paar Stationen Straßenbahn-Fahren so einiges an Angelegenheiten zusammen, mit denen man selbst eigentlich gar nicht so viel zu tun haben wollte. Sich durch eine Stadt zu bewegen heißt: sich durch die Gespräche anderer zu bewegen. Und noch dazu ist von der klassischen Gesprächsdyade, der Zweierkonstellation, meist nur die eine Hälfte vor Ort. Das ist der Fluch der Fernmündlichkeit: Die Gesprächsbrocken der anderen mit nachhause zu schleppen.
Die digitale Ära zerstückelt aber nicht nur die Kommunikation, sondern auch, wie und wie lange man sich anderen Dingen zuwendet. Anderen Menschen. Oder anderen Medien. Kurz genug sollte die Zuwendung jedenfalls sein, um ja nicht tiefer auf den anderen oder den Inhalt einzugehen. Und überhaupt gut zerkleinert in Einzelteile: die Aufmerksamkeit. Das haben durchaus besorgte Jugendforscher schon hie und da angemerkt. Wie etwa auch der Österreicher Bernhard Heinzlmaier, der dem „Mainstream-Menschen der Postmoderne“ schon einmal einen „schizoid-hysterischen Charakter“ zugewiesen hat.16 Klingt jetzt nicht so, als müssten wir uns überhaupt keine Sorgen machen. Jedenfalls ist die Tiefe nicht unbedingt das, in das die Jugendlichen mit ihrer Aufmerksamkeitsspanne noch tauchen können, seiner Meinung nach. Zumindest ein Zustand bleibt für viele unerreichbar: die „Deep Attention“. Allein weil viele Jugendliche zum Teil die Kapazität dazu gar nicht mehr hätten, sich zu konzentrieren auf eine einzige Interaktion, ein einziges Medium. Eher verzetteln sie sich automatisch in einen Zustand der „Hyper Attention“ – also das ständige, rastlose Springen, von einem Kanal zum anderen. So ähnlich wie damals, nur viel stärker, als plötzlich das Kabelfernsehen ins Wohnzimmer kam und eine neue Verhaltensweise einen Namen brauchte: das Zappen. Aber inzwischen hat man sich ja selbst noch ein paar Kanäle zugeschaltet: Fast 40 Prozent der Jugendlichen wischen über das Smartphone, während sie fernsehen.17 Sich auf ein Signal mal länger einzulassen, das verursacht schon beinahe Langeweile, die Stimulusdichte hochzuhalten ist die Strategie. Und wenn es schon so viel Commitment fordert, einem einzigen Kanal verbunden zu bleiben, was soll denn aus dem Konzept werden, das ehemals bekannt war unter „Verbundenheit“, fragen sich manche. Jedenfalls haben die Jüngeren dieses scheinbar ohnehin schon neu aufgestellt und angelegt: Die Nähe ist jedenfalls nicht mehr das, was sie einmal war. Und die Distanz genauso wenig. Vor allem auf der Ebene der Sprache. Ein durchaus verwirrter Zustand von „Sehr geehrter Du“ macht sich breit unter jenen, die sich zu lange um andere Dinge gekümmert haben als um das, was mit der Digitalisierung der Kommunikation auf uns zurauschte. Man erinnert sich an Zeiten zurück, als sich Nähe und Distanz noch unterschiedlich ausgedrückt haben: im Medium, das man nutzte, im Stil, den man anwandte, oder in Umgangsformen, die man an den Tag legte. Oder in dem, was man sonst noch so vermeldete mit Worten und Körper. Inzwischen signalisieren digitale Medien so viel wie: „Die sanfte Annäherung können wir gern überspringen.“ Mit der ersten WhatsApp-Nachricht schmiedet man eine Beziehung schon allein dadurch, dass man ein bestimmtes Medium benutzt. Mit zwei Jahren Smalltalk im Stiegenhaus wäre man manchmal wahrscheinlich auch nicht weitergekommen.
Lieber Vorname Nachname, das ist inzwischen die gängige E-Mail-Anrede. Da steckt das Angebot des „Du“ schon drin. Der andere muss nur noch darauf einsteigen. Aber „angeboten“ wäre ja noch schön, „aufgedrängt“ trifft es schon eher. Internet macht alle zu Du-Freunden. Aber bitte, komm mir doch nicht zu nahe. Da sprech’ ich dir doch lieber eine Busfahrt lang Sprachnachrichten auf, bevor ich dich anrufe. Denn das wäre mir dann doch zu unmittelbar. Zu direkt. Und anstrengend.
Im Laufe eines digitalen Lebens sammelt man viel mehr Verbindungen mit Menschen, mit denen man früher nicht verbunden gewesen wäre. Dafür werden die kleinen Verbindungen des Alltags weniger. Jene, die man spontan und kurzfristig eingeht, schnell wieder löst. Und wenn sie doch stattfinden, dann serviert einem die Interaktion oft wirklich nicht mehr, als das, was man tatsächlich bestellt hat, den Kaffee und das Kipferl; das Lächeln dazu muss man sich dann oft woanders holen, im Notfall auch digital. Fast scheint