Don't tell me to relax. Ralph De La Rosa
Noch eine Geschichte
SPRUNG NACH VORN, ETWA ZEHN JAHRE: Welch eine Überraschung – ich bin ein drogensüchtiger Trinker, der in einer gestörten Beziehung nach der anderen sein Trauma immer wieder neu inszeniert. Allerdings möchte ich klarstellen, dass dies in keiner dieser Beziehungen in körperliche Gewalt ausgeartet ist, wie es normalerweise der Fall ist und für so viele eine echte Bedrohung darstellt.* Die Geschichte, die ich als Nächstes erzählen möchte, handelt von einer Nacht, die mir sehr viel darüber gezeigt hat, wie stark Empathie die menschliche Psyche zu beeinflussen und sogar zu verändern vermag. Es ist eine Geschichte darüber, wie ein anderer Mensch von außen ebenso zu mir in Beziehung trat, wie wir innerlich zu uns selbst in Beziehung treten können.
Es war mitten in einem sinnlosen Streit mit einer Partnerin. Ich kann dir nicht einmal mehr sagen, worüber wir uns überhaupt gestritten haben. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten in unserem Austausch von Wutausbrüchen hörte, dass sie mir eine eindringliche Frage stellte: »Was haben sie mit dir gemacht?«
Das ließ mich, bildlich gesprochen, eine Vollbremsung hinlegen und sofort aufhören. Ohne dass es mir bewusst gewesen war, hatte ich mein ganzes Leben lang darauf gewartet, dass mir jemand diese Frage stellte und neugierig genug war, um erfahren zu wollen, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass mein Leben ständig einen Beigeschmack der Verzweiflung hatte.
Mein ganzer Körper sackte in sich zusammen. Ich begann zu weinen. Erinnerungen an Gewalt blitzten vor meinem inneren Auge auf. Das markerschütternde Schreien meines Vaters. Die Nacht, als mir eine Waffe an den Kopf gehalten wurde. Eine andere Nacht, als mir ein Messer in die Rippen gedrückt wurde. Die Nacht, als sie meinen besten Freund mit einem Rohr schlugen. Die Nacht, als mir ein anderer »Freund« ins Gesicht schrie: »Gib schon zu, dass du ‘ne Schwuchtel bist! Dann kann ich jetzt die Scheiße aus dir herausprügeln.«
Und doch war ich in jenem Moment dankbar. Dankbar, weil jemand erkannte, dass mir etwas angetan worden war. Jemand blickte hinter den Schleier meiner Stimmungsschwankungen und meiner automatischen Reaktionen auf die schrecklichen, uneingestandenen Erfahrungen, die ich verinnerlicht hatte. Darauf, wie meine Vergangenheit gegenwärtig war. Jemand wollte wissen, wie mein Leben zu solch einem leidvoll verworrenen Schlamassel geworden war. Was haben sie mit mir gemacht? Es war doch bestimmt nicht immer so. Seltsamerweise brauchte ich ihr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal etwas von alldem zu erzählen. Weder sie noch ich sagte noch etwas. Dass ich gefragt worden war, genügte irgendwie schon.
Kurz vor dem Einschlafen sagte ich schließlich: »Danke.«
»Wofür?«
»Für deine Frage. Dafür, dass du gefragt hast, was sie mit mir gemacht haben.«
»Oh. Das habe ich gar nicht gesagt. Ich habe gefragt: ›Was hast du dir nur dabei gedacht?‹«
Ich hatte sie falsch verstanden. Ich stand auf, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Betrunken – der Sohn meines Vaters, der die Familientradition fortführte.
*Aus dem Englischen übernommene Abkürzung für lesbisch, schwul (gay), bisexuell, transgender, intergeschlechtlich und asexuell; das »+«–Zeichen steht für weitere Geschlechtsidentitäten (Anm. d. Lekt.).
*Du solltest auch wissen, dass Angst vor Nähe und Bindungsstörungen eine enorme Motivation bei meiner noch andauernden traumafokussierten inneren Arbeit und in meinem Prozess sind. Dazu gehört auch, dass ich Situationen wie die, die ich gleich beschreibe, wiedergutmachen möchte.
2.DIE WEISHEIT EINER ZORNVOLLEN GÖTTIN
Lernen, unserer Wut zu vertrauen
Am wichtigsten ist, wie gut du durchs Feuer gehst.«
Charles Bukowski
»IHRE HAUT IST RABENSCHWARZ, ihr Haar verfilzt, wild zerzaust. Ihre Zunge trieft vor Blut. Um ihren Hals hängt eine Girlande aus Schädeln, die sie als Trophäen mit sich trägt, um die Taille ein Rock aus abgetrennten Armen. Falls du ihr in die Quere kommst, ist dein Schicksal besiegelt. Am besten stellt man sich gut mit ihr. In einer Hand hält sie ein Schwert, in der anderen den abgeschlagenen Kopf desjenigen, den sie als Letztes bezwungen hat. Sie ist eine Zerstörerin, eine Marodeurin, eine Rebellin ersten Ranges. Sie ist das mächtigste Wesen aller Zeiten im Universum. Ihre Rage kennt keine Grenzen. Ihr durchdringender Schrei erfüllt die Nacht.
Und doch ist sie nicht böse. Sie ist keine Dämonin. In den vedischen Traditionen ist sie ein hohes, heiliges Wesen. Ihr Zorn, so heißt es in den Lehren, ist von Güte und Weisheit durchdrungen. Ihr Schwert steht für die schneidende, durchdringende Natur der allumfassenden Wahrheit. Die Köpfe, die sie abgeschlagen hat, symbolisieren Grausamkeit, Gier und die Neigung, andere zu einem Objekt herabwürdigen. Ihr einziger Feind ist die Entmenschlichung. Ihr Mitgefühl ist so groß, so grenzenlos, so weitreichend, dass sie sich bereitwillig in einer grotesken Form manifestiert, um das zum Ausdruck zu bringen, was so bestürzend ist. Sie ist Ma Kali, die »Mutter der Zeit«, wörtlich »Die Schwarze«. Und sie wird von vielen sehr verehrt.
Du fragst dich vielleicht, wieso Göttlichkeit auf diese Weise dargestellt wird. Oder warum überhaupt jemand eine solche Zweiteilung akzeptieren sollte. Wenn wir die grauenerregend herrliche Kali näher kennenlernen, werden wir sehen, warum.
Es gibt viele Legenden über Kalis Entstehung, aber ich möchte dir die Version erzählen, die ich am liebsten mag. Kali entstand in der Zeit einer nie dagewesenen umfassenden Krise. Ein Dämonengott namens Mahishasura hatte Wunderkräfte erlangt und wollte alle Wesen versklaven. Seine Kräfte überstiegen inzwischen die von Brahma, der den gesamten Kosmos mit einem einzigen Ausatmen erschaffen hatte; sie waren größer als die von Vishnu, dem Erhalter des Weltgefüges; größer als die von Lord Shiva, dessen kosmischer Tanz alle Wesen zu Transformation, Tod und Wiedergeburt aufruft. Mahishasura, berauscht von seinen neu entdeckten Kräften, versammelte eine Armee aus Dämonen, um die Trinität Brahma – Vishnu – Shiva zu entmachten, damit er sich aufmachen konnte, überall unter den Lebewesen Verheerungen anzurichten.
Brahma, Shiva und Vishnu versammelten die anderen Götter um sich: Yama, der Todesgott; Chandra, der Mondgott; Agni, der Gott des Feuers, und alle anderen kamen zusammen. Keiner von ihnen war mächtig genug, Mahishasura allein aufzuhalten … und sie waren wütend – wütend über die zu erwartende Zerstörung, wütend über das unermessliche Leid, das kommen würde. Ihr kollektiver Zorn wurde so groß, dass er sich spontan als Licht und Wärme manifestierte, die von der Stelle zwischen ihren Augenbrauen ausgingen. Aus ihrem jeweiligen dritten Auge, aus dem Licht und der Hitze ihres Zorns, bildete sich die mächtige, schreckliche Kali heraus. Ohne Zögern vernichtete sie Mahishasura und seine Armee und schmückte sich mit deren Überresten – ihren Schädeln und Gliedmaßen. Das geschah einerseits aus dem Geist des Sieges heraus, andererseits aber auch, um Angst in den Herzen aller anderen bösen Wesen hervorzurufen, die vielleicht versuchen würden, sie herauszufordern. Kali macht das Rennen! Der größte Sieg in der Geschichte des materiellen Universums.
Kalis Geschichte ist die eines mächtigen spirituellen Wesens, das gesellschaftspolitische Ungerechtigkeit besiegt. Denn was sonst sind Brahma, Vishnu und Shiva, die dem Universum vorstehen, wenn nicht eine Regierung? Und ein dämonischer Gott, der einen Staatsstreich plant, durch den das Leben und Wohlergehen unzähliger Wesen in Gefahr gerät – das ist eine von Grund auf gesellschaftspolitische Angelegenheit. Es gibt natürlich noch viele andere Zusammenhänge und Bedeutungen. Diese Geschichte enthält zwischen den Zeilen auch eine Lehre für diejenigen von uns, die in Selbstverurteilung versinken, weil unser Zorn »schlechte Schwingungen« hat oder im Buddhismus zu den »Drei Giften« gehört und damit grundsätzlich »falsch« ist. Denn weil Kalis Ziel so rein und gerecht war (ein wichtiger Punkt), konnte sie ihrer