Lebendig!. Michael Herbst
nur zugutekommt, sondern auch abfärbt auf mich. Mich verändert. Nicht, um etwas damit zu verdienen. Schaue ich ihn an, weiß ich: Hier ist nichts zu verdienen. Sondern nur, weil es gut ist, schön, erstrebenswert, froh machend, wohltuend, heilsam, erquickend, selig, glücklich, herrlich. Ich sehe ihn an und sehe Leben, wie es sein sollte. Könnte. Kann. Wird.
Der Bibelforscher Johann Albrecht Bengel soll an dieser Stelle beim Schreiben die Feder aus der Hand gelegt haben, die Hände gefaltet und ausgerufen: »O Gott, was machst du aus uns!« All das oben Beschriebene wird möglich. Für ganz normale Menschen, für schwierige, für junge und alte, für gebildete und einfache, für Sie und mich. Jesus, der in unserem Leben Gestalt annimmt.
In der Nähe von Jesus wartet Veränderung auf uns
Alle unsere Übungen als Jüngerinnen und Jünger, alles was wir an »Frommem« tun, hat keinen anderen Zweck als diesen: Wir begeben uns in die Nähe von Jesus, damit er unser Leben verwandelt. Das ist das Geheimnis.
Und es ist ein kritisches Maß. Lebendiges mündiges Christsein ist ein Leben, das sich »under construction« befindet, im Prozess der Veränderung. Was immer wir tun: ob wir beten, die Bibel lesen, Tagebuch führen, Gottesdienst feiern, Schuld bekennen, Abendmahl empfangen, uns segnen lassen, klärende Aussprachen suchen, uns versöhnen, spenden und den Armen dienen oder unsere Gaben in der Gemeinde einsetzen. Geistliches Leben ist Leben »under construction«. Das ist ein kritisches Maß.
Manche denken, ihr geistliches Leben sei in Ordnung, wenn sie viel beten und sich täglich diszipliniert eine Zeit der Stille erkämpfen oder eine Seite Tagebuch füllen. Aber das verwechselt die Mittel mit dem Zweck. Geistliches Leben ist gesund, wenn es uns in die Nähe von Jesus bringt – und da unsere Verwandlung anhebt. Es geht darum, so zu leben, als ob Jesus ungehinderten Einfluss auf uns hätte. Ja, als ob er an unserer Stelle lebte. Wird mehr von ihm sichtbar, wenn man mich sieht? Können Menschen durch mich hindurch auf ihn sehen? Nimmt meine Liebe zu Jesus und zu den Menschen zu, wenn ich fromm werde? Oder werde ich nur selbstgefällig und überheblich, weil ich ja – anders als jene schlimmen Sünder – so fromm und gut bin? Meine Liebe zu Jesus und zu den Menschen, beides gehört unauflöslich zusammen!
Dann gewinnt in meinem Leben das die Oberhand, was ich an Jesus gesehen habe: Seine Güte. Seine Demut. Seine klaren Worte. Sein Mitgefühl. Sein Mut. Sein Entschluss, zu dienen. Seine Hingabe. Seine Freude und Dankbarkeit. Seine Freundlichkeit. Seine hilfreiche Strenge. Seine Bereitschaft, für andere zu leiden.
Aber all das kommt weder automatisch noch durch harte Dis ziplin. Es wird uns zuteil in der Nähe von Jesus. Darum tun wir das Wenige, was wir tun können, und das ist der Sinn der geistlichen Übungen. Darum beten wir, darum lesen wir in der Bibel, ringen um die tägliche Stille, gehen treu zum Gottesdienst und nicht nur, wenn uns danach ist, bekennen Schuld, werden verlässlich in unserem Dienst und unserer Mitarbeit.
Die Geschichten vom Ende her lesen
Es ist reizvoll, einmal die Lebensgeschichten der großen Helden in der Bibel von hinten zu lesen. Nehmen wir Petrus. Ich sehe am Ende eine Führungsperson in der jungen Christenheit, die alle beeindruckt. Man hört auf ihn. Er manövriert die junge Kirche durch tausend Schwierigkeiten und opfert sein Leben, wie sein Herr. Ein tiefer Glaube. Ein Leben, durch das Jesus durchscheint. Er hat Erbarmen mit einem Bettler am Tempeltor. Er geht für Jesus in den Knast. Er ist bereit, sich Neuem zu öffnen, als ihm klar wird, dass auch die Heiden zum Volk von Jesus gehören.
Aber das ist das Ende seines Weges. Unterwegs sah vieles anders aus. Petrus, mit großem Maul und dann doch zu feige, sich zu Jesus zu bekennen. Petrus, mit scharfem Schwert, jähzornig und gewalttätig. Petrus, mit verdunkeltem Sinn, als er Jesus den Weg ans Kreuz ausreden will. Petrus – »under construction«, im Umbau.
Was hat ihn geändert? Was ändert Menschen? Wie passiert es, dass sie in das Bild von Jesus verändert werden? Es passiert allmählich, langsam, mit Rückschlägen, wenn sich Menschen immer wieder in die Nähe von Jesus begeben, sein Wort hören, es ernst nehmen, es sich sagen und gefallen lassen, Schritte wagen, Altes lassen und etwas Neues riskieren, sich in den Dienst stellen und nicht nur konsumieren. Da passiert es, ganz allmählich, und irgendwann stehen wir staunend und froh da und sehen etwas von unserem Herrn in unseren Geschwistern und sie sehen etwas von ihm in uns. Wir selbst sehen es oft am wenigsten gut in uns. Und das ist gut so.
»Jesus, zu dir darf ich so kommen, wie ich bin.« Immer wieder. Immer aufs Neue. Bis zum letzten Atemzug. Mit leeren Händen. »Jesus, bei dir muss ich nicht bleiben, wie ich bin.« Ich darf es erwarten: In der Nähe von Jesus verändert sich etwas, die inneren Schwergewichte verlagern sich, es geht ans Herz, es wird anders.
An welcher Stelle Ihres Lebens wollen Sie sich in den nächsten Wochen Jesus neu aussetzen? Wo sehnen Sie sich danach, von ihm verändert und in sein Bild verwandelt zu werden? Wie können Sie darum Ihr Dasein neu justieren und sich wieder neu in der Nähe von Jesus einfinden?
3. Taufe – Zeichen der Freiheit
Es gibt ausgesprochen dumme Fragen. Zum Beispiel: Wer wird denn wohl der nächste Fußball-Weltmeister? Das ist doch völlig klar. Dumme Fragen gibt es auch im Alltag: Da liegt sie nachts neben ihm im Bett und fragt leise: »Schatz, schläfst du schon?« Was, wenn er mit Ja antwortet?
Es gibt eine Website namens Stupidedia, die »Enzyklopädie ohne Sinn«, sozusagen das Gegenstück zu Wikipedia.25 Da findet sich unter der Rubrik »dumme Fragen« u.a. folgende Frage, die Sie vielleicht schon einmal gehört haben, wenn Sie pitschnass durch die Tür kamen: »Regnet es draußen?« Stupidedia lässt einen da nicht im Stich und bietet verschiedene Antworten an:
»Bin noch schnell durch die Waschstraße gehuscht.«
»Nein, ich wurde gerade getauft.«
»Ha, du bist schon der Dritte, der drauf reinfällt. Das ist das Muster auf meinem Shirt. Sieht täuschend echt aus, oder?«
Auch Paulus hat es mit einer ausgesprochen dummen Frage zu tun, und ich staune, dass er nicht zu einer frechen Antwort greift, sondern in großer Geduld auf diese Frage eingeht. Die Frage lautet: Wenn die Großzügigkeit und Güte Gottes mit allem unserem Versagen fertig wird, wenn das wirklich stimmt, öffnet das dann nicht Tür und Tor für Menschen, die gerade so leben, wie es ihnen Spaß macht, ohne Rücksicht auf Verluste, weil ja hinterher Gott alles wieder richtet? Kürzer: Ist zu viel Gnade nicht gefährlich für die Moral? Ist zu viel Güte nicht schädlich? Ist Freiheit ohne Druck nicht der Freibrief zum Tun des Bösen? Wörtlich: »Was sollen wir dazu sagen? Etwa: ›Lasst uns in unserer Sünde bleiben, damit die Gnade noch größer wird!‹?« (Römer 6,1).
Paulus seufzt, aber er kontert nicht, er nimmt sich der Frage an: Freiheit ist sicher kein Freibrief zum Tun des Bösen. Freiheit ist das glatte Gegenteil: Sie ist die größte Ermutigung zum Tun des Guten, die man sich denken kann. Das ist die kluge Antwort auf eine dumme Frage.
Drei Etappen der Freiheit
Die Lebenserinnerungen von Joachim Gauck sind eine sehr beeindruckende Lektüre.26 Der Präsident der Herzen spricht darin über die Unfreiheit früher und die große Freiheit heute. Er erinnert an Václav Havel, den tschechischen Schriftsteller und Präsidenten, der das Leben im Osten mit dem Leben in einem Gefängnis verglich: mit einem festen Tagesablauf, fest zugemessenen Rationen, zugewiesenem Nachtlager und strengem Reglement. Da kommen wir her, sagt Gauck, aus einem Regime, das uns keine Freiheit ließ, nicht zum Reden, nicht zum Reisen, nicht zum Lernen, nicht zum Handeln. Fürsorgliche Knebelung, eben ein Gefängnis. Und deshalb kann Gauck von der Befreiung schwärmen. Er erzählt die Geschichte der Freiheit in mehreren Etappen.
Erstens: Die Freiheit, wenn sie jung ist. Das ist die Freiheit, nicht mehr tun zu müssen, was andere vorschreiben. Freiheit von Bevormundung. Freiheit von einengenden Mauern. In dieser Freiheit muss man erst