Epistolare Narrationen. Margot Neger
sich auch für die Untersuchung der Korrespondenz des Plinius als nützlich erweist: Unter dem Begriff „epistolarity“ versteht Altman „the use of the letter’s formal properties to create meaning“.19 An die Stelle der Einordung eines Briefes bzw. eines darin behandelten Ereignisses als entweder real oder fiktiv20 tritt hier die Frage, wie die Gattungskonventionen der Epistolographie die Darstellung von Handlungen, Personen, Gegenständen etc. beeinflussen. Dadurch, dass Pliniusʼ Prosabriefe zwar vorgeben, reale Ereignisse zu thematisieren, dabei aber verschiedene literarischer Kunstgriffe anwenden, sind sie in mancherlei Hinsicht mit der antiken Historiographie vergleichbar, deren Nähe zur Poesie bereits von antiken Lesern konstatiert wurde.21 Dafür, dass sich historiographische Erzählungen nach denselben narratologischen Kriterien untersuchen lassen wie fiktionale Texte, haben sich Theoretiker wie Roland Barthes, Hayden White und Gérard Genette22 ausgesprochen, wohingegen Dorrit Cohn23 dafür plädierte, zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken bei folgenden Aspekten („signposts of fictionality“) stärker zu differenzieren:24 Den drei vertikalen narrativen Ebenen text, story und fabula müsse bei historiographischen Texten noch eine vierte hinzugefügt werden, die sie als material bezeichnet, und die Quellen, Prätexte, frühere Versionen und dergleichen umfasst.25 Auch in Bezug auf die Organisation der Zeit sowie die Möglichkeiten zur Fokalisierung unterscheiden sich Cohn zufolge fiktionale und nicht-fiktionale Erzählungen; zudem müsse man in nicht-fiktionalen Texten nicht zwischen Autor und Erzähler unterscheiden, wie es bei fiktionalen Texten üblich ist.26 Diesen Forderungen hat Irene de Jong entgegengehalten, dass sich in der antiken Historiographie sehr wohl diejenigen Merkmale beobachten lassen, die Cohn nur fiktionalen Texten zusprechen will: Dazu gehören etwa vielfältige Methoden der Fokalisierung, Dramatisierung und Einbettung bühnenhafter Szenen, das Auschmücken von Ereignissen (amplificatio) und auch das Konstruieren einer persona des Historiographen, die sich nicht ohne weiteres mit dem historischen Autor gleichsetzen lässt.27 Allerdings zeichnen sich John Marincola zufolge historiographische Werke eben dadurch aus, dass der Autor zwar eine den historischen Stoff vermittelnde persona kreiert, der Text seine Glaubwürdigkeit jedoch dadurch generiert, dass der Leser diese persona mit dem realen Autor identifiziert.28
Wie im Laufe der Analyse der Plinius-Briefe ersichtlich wird, lässt sich auch das Briefkorpus mit ähnlichen narratologischen Fragestellungen untersuchen, wenngleich an die Stelle einer durchgängigen Historie die fragmentierte Textualität einer Sammlung von Einzelbriefen sowie das die Darstellung bestimmende Prinzip der „epistolarity“ tritt. Im Folgenden sei das Briefkorpus im Hinblick auf zentrale Kategorien, die in narratologischen Studien immer wieder diskutiert werden,29 kurz skizziert: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Autor, Sprecher/Erzähler und Rezipient (narrator/narratee)? Welche Techniken der Perspektivierung bzw. Fokalisierung wendet Plinius an? Wie sind Zeit und Raum im Briefkorpus organisiert? Wie werden Adressaten und handelnde Figuren charakterisiert?
2.1 Epistolare Stimmen
Der epistolare Rahmen der Briefsammlung bringt es mit sich, dass wir mehrere Ebenen der Kommunikation zwischen Autor bzw. Erzähler und Rezipient unterscheiden können: Zunächst einmal ist da ein Autor namens C. Plinius Caecilius Secundus, der ein Briefkorpus publiziert hat, um damit einen größeren Leserkreis anzusprechen. Das Briefkorpus insgesamt dürfte nicht zuletzt auf die positive Selbstdarstellung dieses Plinius vor seinen Zeitgenossen sowie der Nachwelt abzielen.1 Auf einer zweiten Ebene finden wir dann sozusagen das epistolographische Ich bzw. die persona dieses Plinius, d.h. den Schreiber, der auch Sprecher der einzelnen Briefe ist, die an unterschiedliche Adressaten gerichtet sind.2 Wenngleich die Einzelbriefe verschiedene Themen behandeln und sich auch durch unterschiedliche Sprechhaltungen der persona des Briefschreibers auszeichnen,3 fällt dennoch auf, dass diese persona über die gesamte Briefsammlung hinweg relativ einheitlich charakterisiert ist.4 Dies trägt zur Kohärenz des Gesamtkorpus bei und animiert den Leser außerdem, aus den Briefen eine Biographie des Sprechers zu rekonstruieren. Da es sich hier auch um die Stimme handelt, die das Briefkorpus dominiert, können wir sie mit dem „primary narrator“ einer Erzählung wie in Epos, Roman oder Geschichtswerk vergleichen.5 Das epistolographische Ich bzw. der „primary narrator“ ist zugleich auch ein „internal narrator“ oder gar autodiegetischer Erzähler, da seine Person im Zentrum steht und er in zahlreichen Briefen als handelnde Figur auftritt,6 die auf intradiegetischer Ebene immer wieder mit anderen handelnden Figuren kommuniziert – dies geschieht allerdings zumeist mündlich, sodass wir in die schriftliche Korrespondenz auf der Ebene des „primary narrator“ häufig eine mündliche Kommunikation zwischen einem „secondary narrator“ und „secondary narratee“ eingebettet haben. Im Rahmen der Briefsammlung hat der „internal primary narrator“ mit den verschiedenen Briefadressaten zahlreiche korrespondierende „internal primary narratees“, an die er seine Ausführungen richtet; zugleich werden diese Kommunikationsakte vom allgemeinen Leser als „external narratee“ mitverfolgt,7 der die einzelnen Briefe in eine größere Narration von Pliniusʼ Biographie einzuordnen und sein soziales Netzwerk zu überblicken versucht.
Einen besonderen Status in diesem kommunikativen Geflecht nimmt der bereits oben diskutierte Brief 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 ein, mit dem Plinius seine Sammlung eröffnet und in dem er sich zur Publikation der Briefe äußert.8 Zwar ist dieser Brief, der zugleich die Funktion einer praefatio hat, nicht explizit an den allgemeinen Leser, sondern an Septicius Clarus gerichtet, doch lassen die meta-epistolaren Aussagen den Rezipienten glauben, hier den realen Autor des gesamten Korpus sprechen zu hören, nicht nur den Verfasser einzelner Briefe. Die Konstellation ist hier mit derjenigen vergleichbar, die Pausch (2011) am Geschichtswerk des Livius beobachtet hat: Ihm zufolge lassen sich in Ab urbe condita zwei Stimmen des Livius unterscheiden, nämlich die des Erzählers, der aus einer allwissenden Perspektive von der römischen Geschichte handelt, und die des Autors, der sich in den praefationes zur Genese seiner Historie äußert oder im Zuge der Narration verschiedene Überlieferungsvarianten diskutiert.9 Bei Plinius können wir möglicherweise sogar drei verschiedene Stimmen unterscheiden: Die des Autors Plinius, der sich zur Genese seiner Briefbücher10 sowie zu den Konventionen seiner Gattung11 äußert, die des Verfassers einzelner Briefe an einzelne Adressaten sowie die des Plinius als handelnde Figur in einzelnen Erzählungen. Der Rezipient freilich bezieht all diese Stimmen auf dieselbe Person, sodass wir im Fall der Briefe eine ähnliche narrative Identität vorliegen haben, wie sie Genette zufolge für die Autobiographie typisch ist: Autor (A) = Erzähler (N) = Person (P).12
Wie oben ausgeführt wurde, dominiert in der Briefsammlung diejenige Stimme, die sich an verschiedene Adressaten zu verschiedenen Themen und mit unterschiedlicher Sprechhaltung richtet, wohingegen die Stimme des Autors des gesamten Briefkorpus lediglich einmal an programmatischer Stelle in Epist. 1,1, durchscheint. Will man die den Makrotext beherrschende Stimme des Verfassers einzelner Briefe mit derjenigen eines homo- bzw. autodiegetischen Erzählers oder „internal primary narrator“ gleichsetzen, dann fällt als erstes ins Auge, dass wir es nur selten mit einem distanzierten bzw. allwissenden Erzähler zu tun haben, viel häufiger jedoch mit einem Sprecher, der seine Adressaten (sowie den allgemeinen Leser) an seiner Wahrnehmung der Dinge sowie an seinen Gedanken, Zweifeln und Emotionen teilhaben lässt. Die Gattung Brief setzt also von vornherein einen gewissen Grad an Perspektivierung und Fokalisierung voraus, und dies umso mehr, als man in der antiken Theorie den Brief bekanntlich als „Spiegel der Seele“ sowie als Zeugnis für den Charakter des Verfassers betrachtete.13 Man kann also sagen, dass mehr oder weniger jeder Brief einen Akt der Fokalisierung darstellt, indem sich der Sprecher abwechselnd freudig, besorgt, traurig, wütend, zweifelnd, nachdenklich, neugierig, selbstsicher, stolz usw. oder auch relativ neutral bzw. distanziert präsentiert. Häufig finden sich schon am Anfang des betreffenden Briefes Hinweise auf die Gemütslage des Sprechers, wie etwa in Epist. 1,15Plinius der JüngereEpist. 1.15.1 an Septicius Clarus, der einer Einladung zum Abendessen nicht nachgekommen ist: Mit dem Ausruf heus tu! und der Frage promittis ad cenam nec venis? (1) bringt Plinius (scherzhaft) seine Empörung zum Ausdruck. In anderen Briefen wiederum begegnen wir ihm in besorgter oder gar angstvoller Stimmung, etwa wenn es um den Gesundheitszustand von Freunden geht (1,22,1Plinius der JüngereEpist. 1.22.1: perturbat me longa et pertinax valetudo Titi Aristonis; 7,1,1Plinius der JüngereEpist. 7.1.1: terret me haec tua tam pertinax valetudo; 7,19,1Plinius der JüngereEpist.