Epistolare Narrationen. Margot Neger
und sich stattdessen auf Worte und Taten konzentriert, die den Charakter beleuchten (1: ἔμφασιν ἤθους).83 Biographie und Epistolographie haben also diesen recusationes zufolge einen ähnlichen Status, wenn sie mit der Geschichtsschreibung verglichen werden. Zur Behauptung des Plinius, er habe seinePlinius der JüngereEpist. 1.1 Briefe mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip gesammelt und ediert, findet sich ebenfalls eine Entsprechung bei Plutarch; im zweiten Buch der Quaestiones convivales heißt es über die geschilderten Tischgespräche (Quaes. Conv. 2,1 = Mor. 629d)PlutarchQuaest. Conv. 2.1: σποράδην δ᾽ ἀναγέγραπται καὶ οὐ διακεκριμένως ἀλλ᾽ ὡς ἕκαστον εἰς μνήμην ἦλθεν.
Neben der Biographie lassen sich somit auch im Symposialdialog ähnliche Reflexionen zum Aufbau der Quaestiones convivales finden, die zudem ebenfalls aus 9 Büchern zusammengesetzt und Sosius Senecio gewidmet sind, der auch zu Plinius’ Adressaten zählt.84 Das genaue Zeitverhältnis zwischen Plutarch und Plinius lässt sich nicht eindeutig bestimmen, sodass es schwierig ist zu beurteilen, wer sich auf wen bezieht.85 Das Understatement, mit dem beide auf den Entstehungsprozess ihrer Werke verweisen, ruft die Worte Ovids in einem seiner Exil-Briefe ins Gedächtnis (Pont. 3,9,53‒54)OvidPont. 3.9.53‒54:
Postmodo conlectas utcumque sine ordine iunxi: | |
hoc opus electum ne mihi forte putes. |
Zumindest Plinius dürfte bewusst auf Ovid anspielen und dessen Poetik der literarischen Selbstunterminierung für sein Prosawerk adaptiert haben;86 dadurch stellt er indirekt eine Verbindung zwischen seinem Œuvre und einem Vorgänger innerhalb der Gattung her, in diesem Fall der Subgattung der Versepisteln.87 Die Parenthese neque enim historiam componebam lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers zudem auf ein weiteres epistolographisches Vorbild: In der vorhin schon betrachteten Atticus-Vita des Cornelius Nepos sagt der Biograph über Ciceros Briefe an Atticus, dass sie einer historia contexta der betreffenden Zeit ähneln (Att. 16.3)Nepos, CorneliusAtt. 16.3.88 Im Unterschied zu Ciceros Briefen an Atticus, die offenbar von Lesern wie Nepos als eine zusammenhängende Darstellung der Zeitgeschichte rezipiert werden konnten, lehnt Plinius einen solchen Lektüreansatz für seine Briefe ab. Die Anspielungen auf Nepos und Ovid im ersten BriefPlinius der JüngereEpist. 1.1 der Sammlung signalisieren dem Leser, wie sich Plinius in der Tradition der Epistolographie verortet: Sein Prosawerk hat einerseits vieles gemeinsam mit poetischen Briefsammlungen wie denjenigen Ovids und unterscheidet sich andererseits von prosaischen Gattungsvorläufern wie Cicero insbesondere durch die Anordnung der Briefe im Gesamtkorpus.89Plinius der JüngereEpist. 1.1
Anstelle einer historia contexta bieten die Plinius-Briefe eine historia fragmentata vom Leben und Wirken des Epistolographen. In jedem Brief taucht der Leser sozusagen in eine bestimmte Phase der Konversation mit einem Adressaten ein, mit dem Plinius, wie immer wieder angedeutet wird, schon länger interagiert. Dies geht auch aus Epist. 1,2Plinius der JüngereEpist. 1.2.1 hervor,90 wo Plinius auf frühere Briefe verweist, in denen er seinem Adressaten Arrianus91 ein Buch bzw. eine Rede versprochen hat (1: librum, quem prioribus epistulis promiseram). Gleichzeitig wird mit der Wendung quia tardiorem adventum tuum prospicio (1) der Blick in die Zukunft gelenkt und suggeriert, dass Plinius und sein Freund sich in naher bzw. mittlerer Zukunft auch persönlich treffen werden. Sowohl die früheren Briefe als auch das avisierte Treffen liegen außerhalb der Gegenwart der publizierten Briefe, und der Leser wird dazu angeregt, einen chronologischen Ablauf des Verhältnisses zwischen Plinius und Arrianus zu rekonstruieren.
Abgesehen von den zahlreichen Stellen, an denen Plinius auf eine nicht ins Briefkorpus inkludierte, frühere Korrespondenz mit einer bestimmten Adressatenfigur verweist,92 gibt es auch Querverweise zwischen solchen Schreiben, die in die Sammlung aufgenommen wurden. Bei einer linearen Lektüre der Briefsammlung stößt der Leser sozusagen auf kleinere Binnen-Narrationen zu verschiedenen Themen,93 wobei die zwischen den betreffenden Briefen imaginierten Zeiträume – sofern sie denn angedeutet werden bzw. sich irgendwie rekonstruieren lassen – unterschiedlich lang sein können. So ist etwa nach Epist. 1,2 auch das Briefpaar Epist. 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über den Prozess gegen Marius Priscus an Arrianus gerichtet,94 und im zweiten der beiden Briefe nimmt Plinius auf den ersten Bezug (2,12,6): Implevi promissum priorisque epistulae fidem exsolvi, quam ex spatio temporis iam recepisse te colligo.95 In Epist. 2,11 hatte Plinius nach dem langen Bericht über den Prozessverlauf angekündigt, dass in dieser Sache noch einiges an Arbeit bevorstehe (2,11,23: superest tamen λιτούργιον non leve), die dann in Brief 2,12 bereits abgeschlossen ist (2,12,1: λιτούργιον illud). Zwischen den beiden juxtaponierten Briefen muss sich der Leser nun ein spatium temporis vorstellen, das lang genug dauert für die Zustellung des ersten Briefes durch einen schnellen Boten (2,12,6: et festinanti et diligenti tabellario). Der Hinweis, dass der Prozess um Marius Priscus, bei dem Plinius die Gegenseite vertrat, im Senat geführt wurde (2,11,1: in senatu), signalisiert zudem, dass sich Plinius zum Zeitpunkt der Abfassung in Rom befindet, wohingegen der genaue Aufenthaltsort des Arrianus unerwähnt bleibt.
Das wohl bekannteste Beispiel für Querverweise zwischen Briefen ist das Briefpaar 6,16/20Plinius der JüngereEpist. 6.16/20 an Tacitus über den Vesuv-Ausbruch.96 Während bereits der erste der beiden Briefe angeblich auf Bitten des Historikers den Tod des älteren Plinius schildert (1: Petis, ut tibi avunculi mei exitum scribam), sei Tacitus durch dieses Schreiben neugierig geworden, wie es Plinius und seiner Mutter inzwischen in Misenum ergangen sei (6,20,1: adductum litteris) – davon zu berichten hatte Plinius in Epist. 6,16 unterbrochen (21: interim Miseni ego et mater – sed nihil ad historiam). Mit diesem eigebauten reader response des Tacitus suggeriert uns Plinius, dass nicht nur das Schicksal seines Onkels, sondern auch sein eigenes einen für die Historiographie geeigneten Stoff bietet – trotz aller Bescheidenheitsfloskeln, mit denen Plinius das Gegenteil behauptet.97
Nicht nur zeitgeschichtlich relevante Themen, sondern auch Handlungen, die sich im privaten Kontext abspielen, werden in solchen Briefserien sozusagen „inszeniert“. So bildet etwa das Briefpaar 9,21/24Plinius der JüngereEpist. 9.21/24 eine kleine Narration vom Zorn, der sich durch die Fürsprache des Plinius besänftigen lässt. Beide Schreiben sind an einen gewissen Sabinianus98 gerichtet, der – so geht aus Epist. 9,21 hervor – aus irgendeinem nicht näher genannten Grund seinem Freigelassenen zürnt und diesen wohl verbannt hat, weshalb der libertus sich an Plinius um Hilfe wandte. In Epist. 9,21 versucht Plinius mit verschiedenen Argumenten, seinen Freund Sabinianus zum Einlenken zu bewegen, und er hat tatsächlich Erfolg, wie wenig später aus Epist. 9,24 ersichtlich wird: Sabinianus hat seinem Freigelassenen vergeben und ihn wieder bei sich aufgenommen,99 und zwar reducentibus epistulis, d.h. durch die Vermittlung des Briefes 9,21, der den libertus sozusagen „zurückgeführt“ hat ins Haus und Herz seines patronus. Die Positionierung der beiden Schreiben in Buch 9 – sie sind durch nur zwei Briefe getrennt – erweckt beim Leser den Eindruck, dass zwischen Plinius’ brieflicher Intervention und der Reaktion des Adressaten ein eher kurzer Zeitraum liegt.
Ähnlich gering dürfte das spatium temporis zwischen zwei weiteren Schreiben in Buch 9 sein, die explizit aufeinander bezogen werden: Epist. 9,36Plinius der JüngereEpist. 9.36/40 über Plinius’ Tagesablauf auf seinem tuskischen Landgut im Sommer ist angeblich auf Bitten seines jungen Freundes Fuscus Salinator entstanden (1: Quaeris, quemadmodum in Tuscis diem aestate disponam).100 Wenige Briefe später wird in Epist. 9,40 vorausgesetzt, dass Fuscus das Schreiben 9,36 bereits gelesen hat und nach einer Fortsetzung des Berichtes über die Gewohnheiten seines Mentors auf dem Land verlangt hat (9,40,1): Scribis pergratas tibi fuisse litteras meas, quibus cognovisti, quemadmodum in Tuscis otium aestatis exigerem; requiris, quid ex hoc in Laurentino hieme permutem. Es handelt sich bei Epist. 9,40 um den letzten Brief der Sammlung an verschiedene