Epistolare Narrationen. Margot Neger
erzählt wird, dass der Onkel nach seinen negotia die restliche Zeit zuhause den Studien gewidmet habe (9: quod reliquum temporis studiis reddebat). Nach ante lucem (9) ist mit post cibum (10) ein weiterer temporaler Marker gesetzt,32 durch den der Tagesablauf des Plinius maior gegliedert wird, wobei hier eine Differenzierung der Gewohnheiten im Sommer (10: aestate) gegenüber dem Rest des Jahres erfolgt. Mit si quid otii (10) wird auf die Qualität der Zeit nach dem Essen verwiesen, denn das otium als freie Zeit ermöglichte ein Sonnenbad sowie weitere literarische Studien. Die Junktur post solem (11) leitet den nächsten Abschnitt der Tagesroutine ein, den der ältere Plinius zum kalten Bad, Imbiss und kurzen Schlaf nutzte, wobei für ihn nach diesem Nickerchen gleichsam ein neuer Tag einsetzte (11: mox quasi alio die), den der Onkel erneut bis zum Abendessen den Studien widmete (11: in cenae tempus). Die im Imperfekt gehaltene Narration über den Tagesablauf unterbricht der Epistolograph durch eine kurze Anekdote über einen Vorfall bei einer cena, der ein punktuelles Ereignis darstellt, durch memini (12) eingeleitet und somit als vom Briefschreiber selbst Erlebtes charakterisiert wird. Der ältere Plinius, der einen seiner Freunde für die Unterbrechung des Vorlesers tadelte, äußert sich hier gar in direkter Rede, was die Szene lebendiger macht und vom Rest der Narration abhebt.33 Die Schilderung der täglichen Routine setzt daraufhin wieder ein mit der Bemerkung, dass der Onkel sich im Sommer noch bei Tageslicht von der cena erhoben habe, im Winter während der ersten Nachtstunde (13).
Erst nach diesen Ausführungen erfahren wir, dass es sich bei den bisher erzählten Gewohnheiten um die Zeitordnung handelt, die der ältere Plinius während seiner Aufenthalte in der Stadt Rom befolgte (14: haec inter medios labores urbisque fremitum). In einem deutlich gesteigerten Erzähltempo berichtet der jüngere Plinius im Anschluss von der Routine seines Onkels in secessu (14) und in itinere (15). Auch hier ist die Narration wieder vom Imperfekt geprägt, wird jedoch abermals durch eine kurze Anekdote abgerundet, die uns ebenfalls als persönliche Erinnerung des jüngeren Plinius präsentiert wird (16: repeto) und eine direkte Rede des Onkels enthält, der seinem Neffen die Vergeudung wertvoller Studienzeit durch Spazieren vorwirft.Plinius der JüngereEpist. 3.5
Die an Epist. 3,5Plinius der JüngereEpist. 3.5 beobachteten Kategorien der Zeit spielen natürlich auch in anderen Briefen eine wichtige Rolle bei der Strukturierung der Narration, wie anhand der Interpretation einzelner Briefe noch deutlicher gezeigt werden soll. Zunächst sei jedoch noch die Chronologie des Briefkorpus betrachtet: Wie schon in anderem Zusammenhang erläutert wurde, verzichtet Plinius in seiner ersten Epistel programmatisch auf eine chronologische Anordnung seiner Briefe, um sich einerseits von der Historiographie abzugrenzen, diese jedoch gleichzeitig als Folie zu nutzen, vor deren Hintergrund das eigene literarische Projekt steht.34 Wenngleich die Briefe in den einzelnen Büchern nicht in einer chronologischen Reihenfolge organisiert, sondern dem Prinzip der variatio verpflichtet sind, finden sich in den Büchern dennoch „Zeitcluster“, die ein temporales Voranschreiten der Sammlung suggerieren.35 Es handelt sich hier somit um immanente Buchdaten, die nicht notwendigerweise mit dem tatsächlichen Publikationsdatum der einzelnen Bücher bzw. des Korpus gleichzusetzen sind. Den Eindruck einer temporalen Progression seiner Sammlung vermittelt Plinius auch durch die Wahl der Adressaten in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 und 9,40Plinius der JüngereEpist. 9.40: Mit dem Namen Septicius Clarus („der Helle“) wird die Vorstellung vom Sonnenaufgang evoziert, während der letzte Brief an Pedanius Fuscus („der Dunkle“) an den Sonnenuntergang denken lässt und außerdem den Winter als Jahreszeit thematisiert.36
Ein temporales Fortschreiten wird auch durch Briefzyklen suggeriert, die sich über einzelne oder mehrere Bücher erstrecken und die Entwicklung einer Handlung nachzeichnen, wobei sich in diesem Rahmen natürlich auch narrative Analepsen und Prolepsen finden können. So enthält etwa Buch 7 drei Briefe an Calpurnius Fabatus,37 in denen der Besuch des Calestrius Tiro38 bei Fabatus in Comum thematisiert wird (7,16, 7,23 und 7,32): In Epist. 7,16Plinius der JüngereEpist. 7.16 berichtet Plinius zunächst von seiner Freundschaft mit Calestrius Tiro, mit dem er zusammen Militärdienst leistete, Quästor war und nahezu gleichzeitig Tribun und Praetor (1‒2). Tiro, der auf dem Weg als Prokonsul nach Baetica ist, will über Ticinum reisen und macht, wie Plinius hofft, bei Fabatus in Comum Halt, um bei einer manumissio zugegen zu sein (3‒5). Aus dem kurzen Brief 7,23Plinius der JüngereEpist. 7.23 geht hervor, dass Fabatus Calestrius Tiro nach Mediolanum entgegenreisen will, doch Plinius rät ihm, den Freund in Comum zu empfangen. In Epist. 7,32Plinius der JüngereEpist. 7.32 ist der Aufenthalt des Tiro bei Fabatus in Comum bereits vergangen und die Freilassung mehrerer Sklaven vollzogen (1: delector iucundum tibi fuisse Tironis mei adventum). Einen Briefzyklus bzw. juristischen Briefroman, der sich über die Bücher 4‒7 erstreckt, bildet die Verteidigung des Iulius Bassus (4,9)Plinius der JüngereEpist. 4.9 und Rufus Varenus (5,20; 6,5; 6,13; 7,6; 7,10;Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13/7.6/7.10 vgl. 6,29), wobei wir als Leser den Verlauf der Handlung gleichsam „live“ mitzuverfolgen glauben, da die Gegenwart der betreffenden Briefe sich eng mit dem dramatischen Datum der Narration berührt.39 Während die einzelnen Briefe in diesem Zyklus von Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit berichten, bildet der gesamte Zyklus eine simultane Narration.40 Auch der Briefzyklus über Plinius als Dichter, der von Buch 4 bis Buch 9 reicht, vermittelt uns in Buch 4 und 5 zunächst den Eindruck, dass wir zu Zeugen der ersten Versuche des Plinius auf dem Gebiet der Kleinpoesie werden, während Epist. 7,4Plinius der JüngereEpist. 7.4 im Rahmen einer Analepse die Vorgeschichte zur Produktion der Hendecasyllabi präsentiert.41
2.3 Der Raum der Briefe
Räumlichkeit1 spielt in der Epistolographie schon insofern eine zentrale Rolle, als die Briefpartner sich in der Regel an verschiedenen Orten befinden, die manchmal konkret benannt, häufig indirekt identifiziert werden oder aber auch unbekannt bleiben. Das Briefkorpus des Plinius entwirft gleichsam eine „Geographie der Freundschaft“,2 die sich v.a. dort nachzeichnen lässt, wo wir etwas über die Herkunft der Adressaten oder ihren Aufenthalt an einem bestimmen Ort – sei es in offizieller Funktion oder während eines secessus – erfahren oder zumindest aus anderen Quellen erschließen können. Das soziale Netzwerk des Plinius, das sich in der Korrespondenz der Bücher 1‒9 widerspiegelt, erstreckt sich, wie etwa Syme und Champlin gezeigt haben, neben Rom insbesondere auf Comum und Italia Transpadana sowie die Region um Tifernum Tiberinum an der Grenze zwischen Umbrien und Etrurien.3 Bisweilen erwähnt Plinius explizit, wo er oder seine Adressaten sich während des Briefwechsels aufhalten, häufig können wir es aus indirekten Andeutungen erschließen oder bleiben in völliger Unkenntnis über den Aufenthaltsort des einen oder anderen Briefpartners. So enthält etwa Epist. 6,1Plinius der JüngereEpist. 6.1 an Calestrius Tiro4 klare Hinweise, wo die beiden Korrespondenten gerade weilen (1: quamdiu ego trans Padum, tu in Piceno, minus te requirebam; postquam ego in urbe, tu adhuc in Piceno, multo magis…),5 und variiert zugleich das Motiv des desiderium absentium, indem der mittlerweile nach Rom zurückgekehrte Plinius seinem Freund in Picenum schreibt, dass ihn die Orte, an denen die beiden üblicherweise zusammen sind – Orte in Rom, die jedoch nicht mehr genauer lokalisiert werden –, an Tiro erinnern (1: seu quod ipsa loca, in quibus esse una solemus, acrius me tui commonent). Die Passage ähnelt einerseits Quintilians Ausführungen zur Mnemotechnik, denen zufolge das Aufsuchen bekannter Orte mit der Erinnerung an Handlungen, Personen und Gedanken einhergeht;6 andererseits scheint der Ausdruck der Sehnsucht nach dem Freund, die angeblich von bestimmten Örtlichkeiten hervorgerufen wird, ein Motiv aus der Liebeselegie aufzugreifen und in einen epistolaren Kontext zu transferieren: So rät etwa Ovid in seinen Remedia amoris davon ab, Orte, die der Schauplatz eines unglücklichen Liebesverhältnis waren, erneut aufzusuchen (Rem. 725‒6OvidRem. 725‒6: et loca saepe nocent: fugito loca conscia vestri / concubitus: causas illa doloris habent). Bei Plinius stehen die nur vage genannten loca, an denen er und Tiro sich in Rom zu treffen pflegen, in auffälligem Kontrast zur expliziten Angabe der Örtlichkeiten, die für die Trennung der beiden Freunde verantwortlich sind.
In Rom befindet sich Plinius auch bei der Abfassung der Epist. 1,10Plinius der JüngereEpist. 1.10 an Attius Clemens (1: si quando urbs nostra liberalibus studiis floruit, nunc maxime floret), in der ein Porträt des Philosophen Euphrates geliefert wird.7 Anders als in Epist. 6,1