Epistolare Narrationen. Margot Neger

Epistolare Narrationen - Margot Neger


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est, quam frustrari adhuc et differre non debes. Was Plinius dem Dichter Octavius Rufus in Aussicht stellt, wenn er denn endlich einmal seine Verse vorzulesen geruht, wird für ihn selbst als Redner in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 zur Realität – man kann somit die in Epist. 2,10 artikulierten Gedanken als eine Art foreshadowing zum folgenden, die zweite Buch-Hälfte eröffnenden Brief über den Priscus-Prozess interpretieren.

      Nachdem Plinius den Rahmen, innerhalb dessen die Verhandlung stattfindet, visualisiert hat, fokalisiert er im folgenden Abschnitt stärker auf seine Gefühle und Gedanken kurz vor seiner Rede (11‒12). Während in Epist. 2,10 Plinius selbst derjenige ist, der sich vor seinem geistigen Auge eine in der Zukunft liegende Szenerie ausmalt (7: imaginor), fordert er in Epist. 2,11 seinen Adressaten Arrianus dazu auf, sich die vergangene Situation vorzustellen (11): Imaginare quae sollicitudo nobis, qui metus, quibus super tanta re in illo coetu praesente Caesare dicendum erat…tunc me tamen ut nova omnia novo metu permovebant. Der Leser ist nun angehalten, sich in den vom Lampenfieber ergriffenen Plinius24 hineinzuversetzen und das Geschehen aus dessen Perspektive mitzuerleben. Die Angst des Plinius25 steht in Spannung zu der vorher beschriebenen Erwartung und Neugier der Zuhörer. Auch die ehemalige Stellung des Angeklagten Marius Priscus (12: modo consularis, modo septemvir epulonum, iam neutrum), dessen Sturz einiges an Mitleid hervorrufen konnte, bereitet Plinius Sorgen (12‒13) – er antizipiert die möglichen Reaktionen vor seinem geistigen Auge (12: obversabatur)26 und entspricht somit als handelnde Figur seinem Adressaten bzw. Leser im Hinblick auf das Imaginieren einer bestimmten Situation.

      Die eindrucksvolle Schilderung von Prozess-Kulisse und Innensicht des Plinius als handelnde Figur dient im narrativen Zusammenhang nicht zuletzt der Steigerung der Spannung beim Leser auf die Rede des Plinius vor Kaiser und Senat. Von dieser actio wird uns ziemlich genau in der Mitte des Briefes27 berichtet (14‒15):

      Utcumque tamen animum cogitationemque collegi, coepi dicere non minore audientium adsensu quam sollicitudine mea. dixi horis paene quinque; nam duodecim clepsydris, quas spatiosissimas acceperam, sunt additae quattuor. adeo illa ipsa, quae dura et adversa dicturo videbantur, secunda dicenti fuerunt. Caesar quidem tantum mihi studium, tantam etiam curam (nimium est enim dicere sollicitudinem) praestitit, ut libertum meum post me stantem saepius admoneret voci laterique consulerem, cum me vehementius putaret intendi, quam gracilitas mea perpeti posset.

      Wir erfahren hier nichts über Inhalt oder Argumentationsstruktur der Rede, sondern werden gleich im ersten Satz – in Form eines Hysteron-Proteron – auf die Reaktion der Zuhörer hingewiesen: Natürlich findet Plinius’ Rede positive Resonanz beim Publikum (adsensu).28 Außerdem geht Plinius näher auf die Redezeit ein, die man ihm gewährte: Anstelle des in Repetundenprozessen der Kaiserzeit üblichen Zeitmaßes von insgesamt sechs Stunden für die Anklage (d.h. je drei für Plinius und Tacitus)29 durfte Plinius alleine fast fünf Stunden sprechen.30 Dies wird indirekt als Verdienst des Kaisers dargestellt31 und steht in inhaltlichem Kontrast zum Brief 6,2Plinius der JüngereEpist. 6.2, der ebenfalls an Arrianus gerichtet ist und in dem sich Plinius über die gängige Praxis seiner Zeitgenossen, nur wenig Redezeit zu gewähren oder zu verlangen, beschwert und diesem Vorgehen dasjenige der maiores entgegenhält, bei denen mehrere Stunden, Tage und Vertagungen für Gerichtsverhandlungen vorgesehen wurden (6: tot horas, tot dies, tot comperendinationes). Ähnlich wie Kaiser Trajan in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 stellt auch Plinius als Richter den Rednern so viel Zeit zur Verfügung, wie sie brauchen (6,2,7): equidem quotiens iudico, quod vel saepius facio quam dico, quantum quis plurimum postulat aquae, do. Zumindest indirekt können wir über die stilistische Ausgestaltung der oratio Mutmaßungen anstellen, wenn wir uns an den Inhalt der Epistel 1,20Plinius der JüngereEpist. 1.20 zurückerinnern: In diesem an Tacitus gerichteten Brief kritisiert Plinius allzu begeisterte Anhänger rhetorischer brevitas und bezeichnet unangebrachte Kürze sogar als Pflichtverletzung (2: praevaricatio):32 alioqui praevaricatio est transire dicenda, praevaricatio etiam cursim et breviter attingere, quae sint inculcanda, infigenda, repetenda. Der gedankliche Inhalt dieser Aussage wird stilistisch umgesetzt, indem Plinius durch die Wiederholung des Begriffs praevaricatio und das asyndetische Trikolon inculcanda, infigenda, repetenda das Motiv des Einhämmerns und Wiederholens rhythmisch untermalt.

      Nachdem sich Plinius in 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über die Reaktion der Zuhörer sowie seine Redezeit geäußert hat, rückt als drittes die Person des Kaisers in den Blick, der sich angeblich um Plinius’ Gesundheit sorgte – ein Freigelassener musste Plinius immer wieder ermahnen, es nicht zu übertreiben. Wenn sich Plinius in diesem Zusammenhang als gracilis charakterisiert,33 soll man hier sicherlich berühmte Redner wie Cicero und Demosthenes assoziieren, deren Körperbau ebenfalls nicht besonders robust gewesen sein soll.34 Die körperliche gracilitas des Plinius steht, so dürfen wir vermuten, wohl in Kontrast zur Länge und stilistischen Ausgestaltung seiner Rede.35

      Nachdem wir erfahren haben, dass die erzählte Zeit der Rede, die Plinius vor Kaiser und Senat hielt, beinahe fünf Stunden umfasste, lohnt sich auch ein Blick auf die Erzählzeit, die der Epistolograph diesem Auftritt widmet: Über die Antwortrede seines Kontrahenten erfahren wir nur in einem kurzen Satz (16): respondit mihi pro Marciano Claudius Marcellinus – dann bricht auch schon die Nacht ein und der Senat wird entlassen. Mit keinem Wort äußert sich Plinius über Inhalt, Länge oder Wirkung der Rede seines Gegners. Auch die Erzählung des zweiten Verhandlungstags erfolgt in ähnlich raffender Weise: Immerhin sind es nun ein paar kurze Bemerkungen, die Plinius zu den Reden der Verteidiger des Priscus, Salvius Liberalis und Fronto Catius,36 sowie zu seinem Kollegen Tacitus macht (17‒18): Salvius Liberalis ist ein vir subtilis, dispositus, acer und disertus, der all seine Kunstgriffe anzuwenden versteht, Tacitus antwortet ihm eloquentissime et…σεμνῶς (17); in dem Adjektiv subtilis ist möglicherweise ein Hinweis auf die von Salvius Liberalis bevorzugte Stilart, das genus subtile, enthalten, dem Tacitus mit seiner rhetorischen σεμνότης bzw. gravitas37 gegenübersteht. Auf diese beiden positiv charakterisierten Rednerfiguren folgt Fronto Catius, der zwar insigniter spricht, jedoch zu viel Zeit auf Bitten als auf die eigentliche Verteidigung38 verwendet (18). Abermals beendet der Abend die Verhandlung, und man fährt am nächsten Tag mit der Beweisaufnahme fort. Vor der Beschreibung dieses Tages konstatiert PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 erfreut: iam hoc ipsum pulchrum et antiquum, senatum nocte dirimi, triduo vocari, triduo contineri (18) – die Senatsverhandlung unter Trajan mit ihrer spezifischen zeitlichen Struktur (Redezeit, Verhandlungszeit) läuft ganz nach dem Ideal der antiquitas39: „Thus the use of time in its many different dimensions makes the trial a rare throwback to the tempora of the republic, a throwback partly mediated through the memory of Augustus as the exemplary princeps“ (Ker 2009: 293).

      Am dritten Tag stellt der designierte Konsul Cornutus Tertullus40 den Antrag, man solle Marius Priscus zu einer Zahlung von 700000 Sesterzen an die Staatskasse verurteilen und ihn aus Rom und Italien verbannen, seinen Helfer Marcianus außerdem noch aus Afrika. Am Ende seines Antrags hebt er hervor quod ego et Tacitus iniuncta advocatione diligenter et fortiter functi essemus, arbitrari senatum ita nos fecisse, ut dignum mandatis partibus fuerit (19) ‒ durch die Wiedergabe von Tertullus’ Worten über den gemeinsamen Auftritt von Plinius und Tacitus ist der Rückbezug zum Anfang des Briefes hergestellt (2: ego et Cornelius Tacitus). Es folgt dann die Schilderung der Debatte, innerhalb welcher Pompeius Collega einen Gegenantrag stellt, und der Abstimmung, bei der sich Tertullus durchsetzt (20‒22). Plinius schließt die Erzählung der Hauptverhandlung ab mit einem Bericht über das Verhalten des M. Regulus, der sich bei dieser Abstimmung als äußerst unzuverlässig erwies (22: mobile ingenium), nachdem er zuerst auf der Seite des Pompeius Collega41 war, dann aber zu Tertullus überlief. Dies ist die einzige Stelle, wo Plinius seinen Antagonisten Regulus im Senat auftreten lässt – mit seiner Erwähnung schließt die Haupterzählung des Briefes sowie später auch das zweite Buch (vgl. 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20).42

      In einem Epilog (23‒24) spricht PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 dann von einem λιτούργιον non leve (23)43, das noch zu leisten übrig sei: Im Verlauf der Verhandlung trat belastendes Material gegen Priscus’ Legaten Hostilius


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